Brot und Wein

Gegenwärtige Abendmahlspraxis und ihre theologische Deutung

Wolfgang Vögele

Ewiges will zu uns. Wer hat die Wahl
und trennt die großen und geringen Kräfte?
Erkennst du durch das Dämmern der Geschäfte
im klaren Hinterraum das Abendmahl:

wie sie sichs halten und wie sie sichs reichen
und in der Handlung schlicht und schwer beruhn.
Aus ihren Händen heben sich die Zeichen;
sie wissen nicht, daß sie sie tun.

Rainer Maria Rilke

1.        Versorgungsgemeinschaften
1.1.        Essgewohnheiten. Beobachtungen

Welche Liturgie? Sonntagmorgen, genau der sechste Sonntag nach Trinitatis. Der Pfarrer ist so früh aufgestanden, dass er sich nicht von seiner Ehefrau verabschieden konnte, die unbedingt ausschlafen will. Er frühstückt hastig, packt seine Sachen und fährt mit dem Auto vierzig Kilometer die Bundesstraße nach Süden, um dort am Sonntagmorgen um 9.30 Uhr in einer kleinen Dorfgemeinde einen Vertretungsgottesdienst zu halten. Er springt für den Ortspfarrer ein, mit dem er befreundet ist und der an diesem Wochenende mit seiner Familie einen privaten Termin in Norddeutschland wahrnimmt. Der Vertretungspfarrer hat schon am Mittwoch mit der Sekretärin telefoniert, die Lieder durchgegeben und erfahren, daß am Sonntag auch das Abendmahl gefeiert wird. Auf seine Frage nach der Liturgie erhielt er zur Antwort: Das machen wir wie immer. Und den Rest möge er bitte mit dem Kirchendiener vor dem Gottesdienst besprechen, der wisse sehr viel besser Bescheid. Im Tonfall der Sekretärin lag Herablassung: Ein Pfarrer wird ja wohl wissen, wie liturgisch ein Abendmahl gefeiert wird.

Der Kirchendiener wartet schon ungeduldig an der Kirchentür, während der Pfarrer noch seinen Wagen einparkt. Er hat sich eine längere Ansprache zurechtgelegt, was alles beim Abendmahl zu beachten ist: Nicht zu viel Wein in den Kelch schütten. Vorher die Verpackung der Desinfektionstücher aufreißen. Beim Zerteilen des Brotes auf keinen Fall krümeln. Auf keinen Fall einen Friedensgruß mit gegenseitigem Handschlag, das sei in der Gemeinde nicht üblich. Die Gemeinde stellt sich in Halbkreisen zu fünfzehn Personen um den Altar, auf keinen Fall mehr, sonst werde es zu eng. Er, der Pfarrer, solle sich während der Liturgie nicht hinter den Altar stellen, das sei nicht üblich. Die helfenden Ältesten und der Kirchendiener würden Brot und Wein zuerst nehmen, danach die Gemeinde. Er möge sich auf jeden Fall an die Vorgaben halten, die er als Kirchendiener gebe, damit die Gemeinde nicht irritiert werde. Der Vertretungspfarrer verspricht, sich alles zu merken und sich daran zu halten.

Nach dem Gottesdienst ist er enttäuscht. Nur zwanzig der sechzig Gottesdienstbesucher haben am Abendmahl teilgenommen. Weit hinten hatte er eine Familie mit zwei kleinen Kindern gesehen, aber die Familie hatte sich offensichtlich nicht getraut, mit den unruhigen Kindern nach vorne zum Altar zu kommen. Während der Austeilung hatte der Organist auf seinem schlecht gestimmten Instrument drei oder vier Choralverse gespielt. Die Feier kam dem Vertretungspfarrer steif, ungelenk und hölzern vor. Der Kirchendiener macht ihm Vorwürfe: Schauen Sie, der Kelch mit dem Weißwein ist noch halb gefüllt? Was soll ich mit dem Wein jetzt machen? Ich kann ihn ja nicht einfach in den Ausguss kippen.

Während der Heimfahrt denkt der Vertretungspfarrer darüber nach, was er hätte besser machen können. Er überlegt, ob er den Kirchendiener von seinen eigenen liturgischen Vorschlägen hätte überzeugen sollen.

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Abendmahl und Parfüm: In einer Sendung des Deutschlandfunks aus dem Jahr 2017 erzählt eine lesbische Pfarrerin aus Münster über ihre Erfahrungen in der Gemeinde. Auf einer Internetseite[1] dokumentiert sie fotografisch ihre Verwandlungen von der Privatperson, der jungen Frau in bunten Kleidern in die geschlechtslose Amtsperson mit schwarzem Talar, der ihre Weiblichkeit nicht mehr anzumerken ist. Der Unterschied zwischen Amt und Person betrifft nicht nur die Kleidung, sondern auch den Geruch, in diesem Fall das Parfüm: „Vor ihrem Computer steht ein Parfüm. Sie benutzt ein Parfüm, aber nur für die Übungen und Seminare an der Universität: ‚Also, wenn ich zum Beispiel im Abendmahlskreis den Leuten Brot und Wein reiche, und ich zieh so eine Parfümwolke hinter mir her – ich weiß nicht, ob das sein muss!? Wofür? Ich nehme im Grunde genommen den Menschen dann die Möglichkeit, sich wirklich auf dieses Geschehen einzulassen und wirklich zu schmecken und zu sehen, wie freundlich Gott ist, weil sie meinem Parfüm hinterherhängen. Und das möchte ich nicht.‘[2]

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Dîner en blanc: Essen und Ritual finden keineswegs nur im Abendmahl zusammen. Wenn sich die Gemeinschaft der Nachbarn in der kleinen Reihenhaussiedlung an jedem zweiten Sonntag im Juni einmal im Jahr zum gemeinsamen Grillen trifft, dann entsteht zwischen Raucharoma, dem Duft frisch gemähten Rasens und dem vegetarisch duftenden Salatbuffet eine Gemeinschaft von Familien, die sich untereinander gut versteht. Sie stellt sich her über gemeinsames Salatputzen, gemeinsames Anfeuern der Holzkohle, gemeinsames Essen und danach gemeinsames Wegräumen und Spülen. Das gemeinsame Vorbereiten und Essen gibt Gelegenheit zu Gesprächen, die Vernetzungen und soziale Bestätigung vertiefen. Das kann nützlich sein, wenn es über das Jahr bei den Apfelbäumen am Zaun oder beim Laubfall im Herbst zu Konflikten kommt.

Auch bei den verschiedenen Social Service Clubs wie Lions, Kiwanis, Round Table, Inner Wheel oder Rotary ermöglicht das gemeinsame Essen, wöchentlich, vierzehntäglich oder monatlich, Gespräche, Kontakte, Vernetzungen. Diese können für Sozialprojekte genutzt werden, die solche Clubs regelmäßig vorantreiben.

Am augenfälligsten wird der soziale Charakter des Essens im Moment bei den Dîners en blanc. Menschen, die sich in der Regel gar nicht kennen, vernetzen sich über eine Internetseite, um sich einmal jährlich an einem Ort, der kurz zuvor bekanntgegeben wird, zu einem gemeinsamen Picknick zu treffen. Treffpunkte können Parks, Brunnen, belebte Plätze oder Brücken sein. Bedingung für die Teilnahme ist, dass jeder Gast sein Essen selbst mitbringt und möglichst ganz in Weiß gekleidet erscheint. Auf den Tischen liegen weiße Decken, und die Stühle können mit weißen Hussen überzogen sein. Das ergibt schöne Bilder bei Instagram, eine Mischung aus Sommerabendstimmung, Märchen- und Traumhaftem, das sich vermittelt durch eine besondere Atmosphäre und die einheitlich weiße Kleidung, die in ein Moment der Gleichheit, des Konsenses und der gegenseitigen Bestätigung und Akzeptanz in sich trägt. Atmosphäre und Begeisterung kommen so zu einem besonderen Abend zusammen. Dass er nur einmal im Jahr stattfindet, trägt dazu bei, dass sich die Atmosphäre nicht durch Wiederholung abnutzt.

Beobachter von außen können das kitschig finden, aber die aus Frankreich stammende Bewegung für diese Dîners gewinnt immer mehr Anhänger. Auch hier findet sich die simple Gleichung, dass gemeinsames Essen und Kochen zu Kontakten und Vernetzung beiträgt und Gespräche fördert – wie es ja auch im Übrigen jede Essenseinladung im Kreise der Familie oder bei Freunden oder Bekannten zeigt. Mit fortschreitender Vernetzung in den sozialen Netzwerken des Internet bilden sich immer mehr Ehegemeinschaften heraus, bei denen private Köche zu sich nach Hause einladen. Oder man verabredet sich in einer kleinen Gruppe mit Menschen, die einem zuvor völlig unbekannt waren. Jeder trägt dann einen Essensgang bei, von der Vorspeise über den Hauptgang bis zum Dessert – wie beim Potlatsch der Indianer an der amerikanischen Pazifikküste, bei dem die Gäste Geschenke mitbringen und Essen miteinander teilen.

In den Kulturwissenschaften hat das dazu geführt, dass sich seit Jahrzehnten ein breiter Diskussionsstrom um das Thema Essen, Gemeinschaft, Gastfreundschaft und sozialer Zusammenhalt entwickelt hat, der durch die in den letzten Jahren entstandene größere Akzeptanz für vegetarische und vegane Ernährungsweisen nochmals verstärkt wurde.[3] Der Journalist Tim Caspar Boehme verknüpft diese Diskussion über Ernährung und Nahrungsmittel mit der Religion: „Dass es strenge Regelungen für Nahrung gibt, hat einen guten religionspolitischen Sinn. Gerade der elementare Charakter des Essens, seine Notwendigkeit als "Lebensmittel", macht sie besonders geeignet für identitätsstiftende Zwecke. Wenn ich vorschriftsgemäß bestimmte Speisen esse und andere meide, gebe ich mich damit als Angehöriger der Gemeinschaft zu erkennen, für die diese Regeln gelten. Mehr noch, mit der Aufnahme und dem Verzehr der Speise ‚verleibe‘ ich mir eine bestimmte Identität ein, ich eigne sie mir mit der Speise buchstäblich an.“[4] Aussagen wie diese fordern förmlich dazu heraus, die Renaissance gemeinsamen Essens in der sozialen Kultur auf die Theologie des Abendmahls zu beziehen. Aber so richtig ist das bisher noch nicht geschehen, und diesem Defizit müßte dringend abgeholfen werden.

Jedenfalls zeigt sich, dass in alltäglichen, familiären oder nachbarschaftlichen Zusammenhängen von den gemeinschaftsstiftenden Funktionen des Essens viel unbefangener Gebrauch gemacht wird als in vielen Fällen der Abendmahlsfeier im Gottesdienst.

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Weingeist: Seit einigen Jahren streiten manche Gemeinden um den Wein beim Abendmahl und wollen ihn aus Rücksicht auf alkoholkranke Menschen durch Traubensaft ersetzen. Niemand muss ein Weingut, eine Weinstube oder eine Weinverkostung besuchen, um die große Bedeutung des Weins im Alltag zu verstehen. Schon im Jahr 1957 zählte der Soziologe Roland Barthes - französischen - Wein zu den französischen Mythen des Alltags[5]. Barthes hielt den Rotwein für eine Art Totem, das zum allgemeinen Erkennungszeichen der grande nation geworden war: boire un verre. Um dieses flüssige Totem rankten sich für Barthes widersprüchliche Geschichten, die er in seinem kurzen Essay alle wegließ. Er machte auf die Ähnlichkeit zwischen Rotwein und Blut aufmerksam, die für eine Abendmahlstheologie von besonderem Interesse sein muß. Und er schrieb dem Rotwein eine besondere Kraft der Verwandlung zu: „Wein ist vor allem eine Substanz der Verwandlung, die Situationen und Zustände umzukehren und den Dingen ihr Gegenteil zu entziehen vermag, zum Beispiel aus dem Schwächling einen Starken, aus dem Stillen einen Schwätzer machen kann; daher sein alchimistisches Erbe, seine philosophische Kraft zur Transmutation oder zur Schöpfung ex nihilo.“[6] Genauso soll der Genuss des Weins beim Abendmahl einen Glaubenden verwandeln, aus ihm einen anderen Menschen machen, auch wenn der französische Sozialphilosoph auf den naheliegenden Bezug zum Messwein nicht einging. Barthes beschränkte sich auf die soziale Funktion des Weins, er fördere „Geselligkeit und Gesellschaft, da er nicht nur eine Moral, sondern auch ein Dekor begründet; er schmückt die kleinsten Zeremonien des französischen Alltags, vom Imbiß (ein Glas Rotwein, Camembert) bis zum Fest, von der Unterhaltung im Bistro bis zur Tischrede auf einem Bankett. Er verbessert das Klima, welcher Art es auch sei (…).“[7] Und damit meinte Barthes nicht das Wetter, sondern das soziale Klima, das sich infolge des gemeinsam im Bistro, in der Bar oder beim Dîner genossenen verre de rouge unter den Beteiligten im medizinisch-sozialen Sinn erwärmte. Diese verwandelnden Kräfte des Rotweins lassen sich bei anderen Getränken, etwa Milch, Kaffee oder dem beliebten Anisette nicht feststellen. Diese Getränke waren für Barthes mythisch und funktional anders besetzt.

Brot, für die Franzosen das Baguette[8] aus der boulangerie artisanale, zählte Barthes nicht zu den Mythen des Alltags, wohl aber das Beefsteak, das wie der Rotwein durch seinen engen Bezug zum Blut charakterisiert ist. Barthes schreibt: „[Das Beefsteak] ist das Herz des Fleisches, es ist das Fleisch im Reinzustand, und wer davon ißt, nimmt Stierkräfte an. Ganz offensichtlich gewinnt das Beefsteak sein Prestige daraus, daß es fast roh ist: Das Blut ist sichtbar, natürlich, dicht, fest und schneidbar zugleich (…). Das Blutige ist der Daseinsgrund, die Rechtfertigung des Beefsteaks: Die Stufen des Bratens werden nicht in kalorischen Einheiten angegeben, sondern in Bildern des Blutes (…).“[9] Das sehr kurz angebratene Steak heißt noch immer bei den Franzosen saignant (blutig) oder bleu, nach dem bläulich violetten Venenblut gerade geschlachteter Rinder. Barthes vermied auch hier, die naheliegenden theologischen Konnotationen ausdrücklich zu machen. Aber an seinen Reflexionen wird deutlich, daß Franzosen bis heute ein sehr anderes Verhältnis[10] zum Rohen und Gekochten (Claude Lévi-Strauss) als ihre europäischen Nachbarn. In Deutschland wird gerne ignoriert, dass das Schnitzel oder die Cervelatwurst irgendwann einmal ein Tier gewesen sein muss, das gemästet und geschlachtet wurde. Ein Metzger hat es zu Wurst und Steak verarbeitet.

Noch sehr viel abstrakter gestaltet sich die Theologie des Abendmahls, die sich in bestimmten Ausprägungen von jeglichen Anklängen an reales Essen entfernt hat und diese bewusst ignoriert. Das gilt von Anfang an: Denn der Leib Christi wird gerade nicht in blutigem Beefsteak symbolisiert, sondern in Brot.

Es gibt offensichtlich Personen, die machen einen Unterschied zwischen Essen und theologischem Essen. Das ist zu problematisieren.

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Iss nicht so viel! Wahrscheinlich haben noch nie so viele Menschen so genau auf ihre Ernährung geachtet wie in der Gegenwart. Die Gesellschaft unterscheidet sich nicht mehr nach Klassen, Schichten und Milieus, sondern nach den ‚Konfessionen‘ der Ernährungsgewohnheiten: Veganer, Vegetarier, Flexitarier, Rohköstler, Omnivoren und andere konkurrieren mittlerweile um Anhänger und preisen verschiedene Heilswege, die durch Ernährung Gesundheit, Wohlbefinden und ein langes Leben schaffen sollen. Ernährung und Gesundheit sind zu aktuellen und zunehmend kontroverser diskutierten Themen der Alltagsethik[11] geworden. Dazu treten als weitere Heilsversprechen eine Unzahl von Diäten auf, die den richtigen Weg zu Abnehmen, einer schlankeren Körpersilhouette und einem längeren Leben zeigen sollen, vertreten von medizinischen Propheten mit und ohne wissenschaftliche Grundlage. Aber auch Stars und Sternchen aus der Unterhaltungsbranche verwandeln sich gerne in Diät-Apostel, um die in Film und Fernsehen erworbene Popularität in die Verkaufszahlen von Ernährungsratgebern umzumünzen. Diäten sind zu Modeerscheinungen geworden, die einander im immer schnelleren Rhythmus ablösen. Bei allen finanziellen Interessen, Albernheiten und verborgenen Absichten, die den öffentlichen Diskussionen um Ernährung und Gesundheit beigemischt sind, bleibt dennoch die Frage nach Ernährungsgewohnheiten und Gesundheit ein ernsthaftes Anliegen, über das sich die alltagsethische Diskussion lohnt. Insofern vermischen sich Elemente des Vernünftigen mit Elementen des Übertriebenen, des Überhitzten, Elemente des Marketing mit Elementen des Seriösen.

Auch in dieser scheinbar auf den Alltag und tägliche Gewohnheiten bezogenen Diskussion über Ernährung, angemessene Nahrungsmittel und Gesundheit mischt sich ein Moment des Religiösen, um nicht zu sagen des Theologischen. Kulturwissenschaftler haben davon gesprochen, daß die alten, klassischen Religionen, die sich in einer platonischen Perspektive eher dem Geist, der Seele und dem ewigen Leben verpflichtet fühlten, abgelöst wurden, durch eine neue Körperreligion, die auf das ewige Leben verzichtet und sich nur am Diesseits orientiert. Das ewige wird zum langen Leben. Das neue Heilsversprechen zielt nicht mehr auf das Jenseits der Ewigkeit, sondern auf ein erfülltes, möglichst langes Leben in Gesundheit und Wohlbefinden vor dem Tod.

Gerade an der Diskussion um die Theologie des Abendmahls zeigt sich jedoch, dass sich das Christentum nicht auf eine platonisierende Geistreligion reduzieren lässt, die es mit der Antike seit den Apologeten lange rezipiert hat. Gerade im Essen von Brot und im Trinken von Wein aber wird der Glaube körperlich. Und genau das rückt die Theologie des Abendmahls in den Blickpunkt gegenwärtiger Aufmerksamkeit. Sie kann Gestalt werden als Kritik an einer gesetzlich-diätetischen Verpflichtung auf ein bestimmtes, schlankes, muskulöses, fett- und krankheitsfreies Körperideal. Sie kann auch Gestalt werden als Kritik an einer todes- und leidensvergessenen Ernährungsethik. Über die weitere inhaltliche Ausgestaltung einer solchen theologisch-alltagsethischen Debatte wäre nachzudenken. In einer genuin theologischen Perspektive ist sie nicht ohne den Topos des Abendmahls zu denken.

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Abendmahl als Tabu: In seinem Buch „Oniritti Höhlenbilder“ beschreibt der Schriftsteller Botho Strauß eine drastische Szene, vielleicht einem Traum entnommen. Eine wohlhabende, gebildete Frau hat eine Reihe von Freunden zu einem Abendessen eingeladen, unter dem Titel „Seligenmahl“. Offensichtlich betrunken gibt sie sich einer derben, offen sexuell konnotierten Parodie des Abendmahls hin, erreicht damit aber nicht die offensichtlich erwünschte Wirkung. Die Gäste lachen nicht, sie sind empört. Strauß schreibt, dass es bei der Abendmahlsparodie selbst „ihren heidnischen oder agnostischen Gästen zuviel wurde“ und alle gemeinsam „das Haus der frevelsüchtigen, frevelkranken einsamen Frau“ verließen. Strauß deutet das so, dass mit der Parodie ein „letzter Nerv von Tabu“[12] getroffen worden sei. In dieser Szene spricht niemand über Christentum, Theologie oder Frömmigkeit. Strauß will die Parodie des Heiligen entlarven, die Parodie dessen, was im liturgischen Vollzug des Abendmahls im Gottesdienst einmal heiliger Ernst war. Die Gäste wissen über die entsprechenden praktisch-theologischen Kontexte vermutlich gar nicht mehr Bescheid. Und dennoch sind sie von der Darstellung ihrer Gastgeberin so befremdet, dass sie einhellig empört ihre Mäntel holen und grußlos aufbrechen. Daraus ist die Schlussfolgerung zu ziehen: Selbst in einem ganz und gar unchristlichen Kontext, in dem religiöses und theologisches Wissen gar nicht mehr vorhanden ist, wirkt der Rekurs auf das Abendmahl noch wie ein Tabubruch. Das darf sich niemand trauen! So weit darf niemand gehen! Die Empörung gilt dem Tabubruch, dem fehlenden Respekt für Gottesdienst und Mahlfeier, der in einer entkirchlichten Gesellschaft selten geworden ist und sich trotzdem unbewusst auch in säkularisierten Milieus gehalten hat.

In der Entrüstung über die derb sexualisierte Parodie des Abendmahls selbst im säkularen Milieu spiegelt sich ein immer noch vorhandener sozialer Respekt, der sich – deutlicher stärker – auch in Gemeinden und christlich affinen Milieus finden dürfte. Aber oft beruht der Respekt nicht auf einem konkreten theologischen Wissen, sondern auf dem unbestimmten Gefühl, man habe es mit etwas besonders Heiligem und Respektheischendem zu tun. Auf der anderen Seite korrespondiert der allgemeinen sozialen Wert- und Hochschätzung des Abendmahls oft eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den liturgischen Vollzügen und im Umgang mit den Elementen Brot und Wein in den Gemeinden selbst. Das allgemeine Verständnis des Abendmahls und die christliche Binnenperspektive driften auseinander, in einer Mischung aus Unkenntnis, theologischen und liturgischen Defiziten sowie aus einem fehlenden Willen zu symbolischer Gestaltung.

1.2.   Feiern und Verstehen. Theologische Fragen

Die Beobachtungen über die Praxis von gemeinsamem Essen und Abendmahl werden ergänzt durch Beobachtungen über die theologische Deutung von beidem. Der theologische Deutungsdiskurs über das Abendmahl stellt sich als stark versäult dar, und diese Säulen sind untereinander wenig vernetzt. Ich unterscheide eine praktisch-theologische, eine systematisch-theologische und eine ökumenische Säule. Es wäre zu erwägen, ob noch eine liturgiewissenschaftliche Säule zu nennen wäre, wenn diese nicht doch in der Praktischen Theologie aufgeht. Aber es erscheint wichtiger, sich mit den spezifischen blinden Flecken und Problemen der einzelnen Säulen zu beschäftigen.

Die systematisch-theologische Säule des Abendmahlsdiskurses verliert sich oft in hoch abstrakte Spekulationen über die Realpräsenz von Brot und Wein, die weder mit den Überlegungen der Liturgik noch gar mit der sonntäglichen Praxis der Abendmahlsfeier in Dialog, geschweige denn in Übereinstimmung zu bringen sind. In dieser Perspektive wird Abendmahlsdeutung als theologische Metaphysik oder Wirklichkeitsdeutung betrieben, die im Gegensatz zu vielen anderen theologischen Themen immer noch eine ausgesprochen konfessionelle Prägung zeigt. Das gilt für den evangelisch-katholischen Dialog, aber auch für die protestantischen Konfessionen, denn um die Deutung des Abendmahls streiten immer noch lutherische und reformierte Theologen – trotz der proklamierten Konsense der Leuenberger Konkordie[13]. Der Dissens wird daran deutlich, dass solche theologischen Abendmahlsdeutungen immer noch vorrangig an den reformatorischen Kontroversen anknüpft, während sämtliche Unionsbestrebungen, von der Badischen Union über die Arnoldshainer Abendmahlsthesen bis zur Leuenberger Konkordie, vernachlässigt werden. Insbesondere der zuletzt genannte Text wird als eine Art konsensualer Schutzschirm betrachtet, unter dem sich konfessionell lutherische oder reformierte Deutungen weiterhin breit machen können. Mit anderen Worten: Die auf Konsens angelegten Versuche einer unionstheologischen Deutung des Abendmahls werden, wie es seit dem 19. Jahrhundert üblich ist, weiterhin nicht richtig ernst genommen. Ein Strang der Diskussion führte auf die exegetischen Belegstellen zur Stiftung des Abendmahls zurück, ein m.E. richtiger Weg zu ökumenischen Konsenses. Aber es stellt sich die Frage, ob es weiterhilft, wenn weiterhin ausgetestet wird, wie weit die Leuenberger Konkordie für eine lutherische Abendmahlsposition ausgereizt werden kann. Statt der lutherischen oder reformierten Interpretation von Leuenberg wäre doch viel eher nach der Weiterentwicklung des Leuenberger Konsenses in Richtung auf eine – in diesem Fall – protestantisch gemeinsame ökumenische Theologie des Abendmahls zu denken.

Die ökumenische Säule der Abendmahlsdeutung ist fixiert auf Fortschritte und Dialoge zwischen Protestantismus und katholischer bzw. orthodoxer Kirche. Diese Säule bleibt auf das Nebeneinander konfessionell-kirchlicher Traditionen bezogen und verliert darüber die theologische Situierung des Abendmahls in der Gegenwart aus dem Blick. Große Anstrengungen konzentrieren sich auf den Ausgleich unterschiedlicher Traditionen (Konzelebration) oder wenigstens die gegenseitige Duldung (eucharistische Gastfreundschaft), aber der ökumenische Fortschritt, der wirklich erreicht worden ist, manifestiert sich bisher nicht in einer veränderten kirchlichen Praxis, so sehr alle beteiligten kirchlichen Funktionäre ihren Willen zu ökumenischer Einheit immer wieder betonen mögen. Auf evangelischer Seite ist jedoch ein wichtiges Ergebnis zu verzeichnen, das sich hoffentlich langfristig als ökumenischer Durchbruch auch auf der praktischen Ebene kirchlichen Handelns erweisen wird. Im Gottesdienst laden die evangelischen Christen aller Konfessionen und Traditionen zum Abendmahl ein. Jedem getauften Christen, gleich welcher Konfession, ist die Teilnahme ausdrücklich gestattet, wenn auch diese Einladung nicht in allen Kirchen der Ökumene, insbesondere nicht in der katholischen, mit einer Gegeneinladung beantwortet wird.

Und darüber hinaus fragt es sich, ob die richtigen Konsequenzen aus dem evangelisch- katholischen Dialog über die Eucharistie gezogen werden. Die Berufung auf verhärtete Fronten und der beständige Verweis auf die Hindernisse, die mit der katholischen Amtstheologie gegeben sind, nützt die theologischen Möglichkeiten nicht aus, die sich zum Beispiel aus dem Lima-Dokument ergeben. Auf der anderen Seite überspringen voreilig geäußerte Hoffnungen auf Mahlgemeinschaft die Tatsache, daß von den Bischöfen bis zum Papst freundliche und zuversichtliche Äußerungen über die Abendmahlsgemeinschaft artikuliert werden, wobei auf evangelischer Seite stets unberücksichtigt bleibt, daß den freundlichen Äußerungen in Interviews und unverbindlichen Erklärungen keine theologischen Veränderungen auf der Ebene der dogmatisch verbindlichen katholischen Dokumente entspricht.[14]

Die praktisch-theologische Säule der Abendmahlsdeutung konzentriert sich auf die Beratung liturgischer Kommissionen. Mir fehlen oft die Bezüge zur systematisch-theologischen Reflexion, die zu schnell als zu kompliziert, zu philosophisch und zu wenig an der Praxis orientiert beiseitegeschoben werden. So gestaltet sich dann aber die Reflexion über die Praxis nur als ein Herumdoktern an den Symptomen, während die grundsätzliche Perspektive des Abendmahls in seinen theologischen, symbolischen und deutungsspezifischen Gehalten als selbstverständlich vorausgesetzt und damit vernachlässigt werden.

Die gesamte theologische Diskussion des Abendmahls erscheint, das ist ein weiterer Kritikpunkt, als sehr stark abgekoppelt von allen kulturwissenschaftlichen Diskursen über das Essen, die sich auf breiter Basis und im Anschluß an die vorgestellten Thesen vor allem von Roland Barthes in den letzten vier Dekaden entwickelt haben. Das Essen und Trinken des Abendmahls wird vollständig isoliert vom Essen und Trinken des Alltags. Damit geht eine Deutungsperspektive verloren, die theologisch fruchtbar gemacht werden könnte.

Dasselbe gilt für Deutungsversuche zu Essen und Trinken im Alltag und im Abendmahl, die sich in Kunst, Literatur und Malerei in großer Fülle finden. Es fällt auch auf, daß die Diskussion um Theologie und Liturgie des Abendmahls in der Regel binnenkirchlich und binnentheologisch verläuft. Anstöße aus Kunst, Literatur, Musik und Theater werden in großen Teilen weder wahr- noch angenommen, als sei das Abendmahl eine rein innertheologische und innerkirchliche Angelegenheit, die ästhetisch, sozial und kulturell nicht reflektiert werden müsse. Wenn der theologisch-liturgische Blick die innerkirchlichen Mauern überschreitet, dann folgt er allerhöchstens der Perspektive der Ökumene. Damit aber greift die interne Reflexion des Abendmahls zu kurz. Sie ist in unterschiedlichen externen Perspektiven zu erweitern.

Exemplarisch für diese kulturwissenschaftliche und philosophische Perspektive auf das Essen stehen die Arbeiten des Philosophen Harald Lemke[15], die im Kontext des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen entstanden sind. Lemke spricht von der „Ess-istenz“ des Menschen. „Sobald die Menschheit sich selbst von ihrer Essistenz her als ein der Nahrung bedürftiges und ins tägliche Weltessen verwickelte Wesen zu begreifen lernt, tritt ihre elementare Interdependenz, ihre Abhängigkeit von der Natur und von deren planetaren Gaben, ins allgemeine Bewusstsein.“[16] Diesen Satz entfaltet Lemke gabentheoretisch, indem er die Abhängigkeit des Menschen von den Gaben der Natur herausarbeitet. Daraus ergibt sich eine „Ethik des guten Essens“, die auf einer „hingebungsvolle[n] Tischgesellschaft“[17] beruht. Dabei handelt es sich um ein „Ritual der Freigiebigkeit“[18], insofern die Eingeladenen ja für das Gastmahl nicht bezahlen müssen. Es ist durchaus möglich, daß die Gastgeber irgendwann in unbestimmter Zeit eine Gegeneinladung erwarten, aber dieses wird keinesfalls öffentlich ausgesprochen. Lemke kann pointiert formulieren: „Vielleicht gibt es gegenwärtig keine dringlichere kulturelle Aufgabe für uns alle, als die Sozialität freigebiger Gastfreundschaft und die ethische Hingabe für das Gelingen von guten Mahlzeiten in guter Gesellschaft.“[19] Und noch stärker zugespitzt formuliert Lemke: „Die schönste Privatsache einer demokratischen Weltgesellschaft wäre die politische Ethik guten Essens. Denn sie könnte Tag für Tag überall stattfinden und ihre Kräfte einer am Gemeinwohl orientierten, wohltätigen Gegenseitigkeit entfalten. Kaum eine andere Aufgabe der alltäglichen Lebenspraxis hat ein derartig mächtiges Weltverbesserungspotential.“[20] In dieser Bottom-up-Perspektive wird die Einladung zu Essen und Gespräch zur Keimzelle einer globalen Naturethik, welche das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt grundlegend zu verändern in der Lage ist. Die Parallelen zu den bereits erwähnten Phänomenen des social dining[21] liegen auf der Hand, genauso die Parallelen zum Abendmahl, nur daß an die Stelle von Glaubensperspektive und theologischer Aufladung eine ethische Aufladung tritt. In allen genannten Fällen wird die Bedeutung des Essens über die bloße Nahrungsaufnahme heraus erweitert. Das gemeinsame Essen wird im einen Fall zum kulturellen, im anderen Fall zum theologischen Ernstfall, zum Topos einer rituell vollzogenen Gemeinschaft, die von ganz bestimmten philosophischen oder theologischen Voraussetzungen lebt und für Glauben, Denken und Handeln des Menschen erhebliche Konsequenzen hat.

Ein letzter Punkt betrifft die Verknüpfung von Religionssoziologie und Theologie. Detlef Pollack hat richtig konstatiert[22], daß externe Veränderungen, insbesondere die Entwicklung eines modernen, post-metaphysischen und naturwissenschaftlichen Weltbildes zurückschlagen auf zentrale Gehalte des christlichen Glaubens, auch des Abendmahls. Insofern kann das Abendmahl nicht einfach durch die Darstellung der reformatorischen Kontroversen in den Bekenntnisschriften erläutert werden, denn damit fällt die postreformatorische Geschichte der Modernisierung völlig unter den Tisch. Für Pollack verändert sich der theologische Charakter des Abendmahls in vier Tendenzen,

  • einer Tendenz zur Subjektivierung (Realpräsenz ist Sache des Glaubens),
  • zur Horizontalisierung (die Gemeinschaft rückt in den Vordergrund),
  • zu einem sinnlich-realistischen Verständnis des Abendmahls
  • und zuletzt zur Unbestimmbarkeit.[23]

Die zuletzt genannte Tendenz ist die wichtigste, und er kann sie an Erläuterungen der Leuenberger Konkordie und der Arnoldshainer Abendmahlsthesen[24] über die Realpräsenz in Brot und Wein verdeutlichen. Pollack weist zurecht darauf hin, daß Luthers theologische Reflexionen zur Realpräsenz gebunden sind an den zeitgenössischen theologischen und philosophischen Kontext mittelalterlicher Theologie, der ungebrochen nach der Aufklärung nicht mehr vorausgesetzt und weitergeführt werden kann[25]. Nach Pollack sind die meisten Menschen heute überzeugt, daß Gott nicht mehr unmittelbar in diese Wirklichkeit eingreift. Damit bestreiten sie nicht die Existenz Gottes, wohl aber sagen sie etwas über sein Verhältnis zu Welt und Wirklichkeit. „Wenn in der Moderne Wirklichkeit und Möglichkeit unheilbar auseinander brechen, dann heißt das, daß es im Wirklichen ein Absolutes nicht mehr geben kann; dann ist alles Wirkliche als unausweichlich kontingent gedacht; und dann verfallen Ansprüche auf Kontingenzbewältigung dem Illusionsverdacht. Insofern im Abendmahl Göttliches und Menschliches als Einheit vorgestellt werden und sich das Bedürfnis nach Gemeinschaft mit dem Göttlichen im Abendmahl verwirklichen will, ist es von dieser Kontingentsetzung des Wirklichen unmittelbar betroffen. Der Gedanke der Präsenz Christi in den sinnlich greifbaren Elementen von Brot und Wein ist dann rational nicht mehr nachvollziehbar. (…) Wo das Wirkliche nicht mehr als in einem Letzten fundiert oder auf ein Höchstes ausgerichtet angesehen wird, da sinkt auch die Bereitschaft, es für möglich zu halten, daß Gott im Wirklichen punktuell hervortritt.“ [26] Damit ist die Fallhöhe der Modernität beschrieben, hinter die eine Theologie des Abendmahls nicht mehr zurückgehen darf.

Um das mit dem zu konfrontieren, wie gegenwärtige praktische Theologie das Abendmahl deutet, sei auf eine Passage aus den aphoristischen Reflexionen des Pfarrers und Lyrikers Christian Lehnert verwiesen: „Die Wirklichkeit der gewandelten Hostie ist nicht in Argumenten verhandelbar. Sie geschieht anderswo. Sie wird nur denen zu einer bestimmenden Wahrheit, die spüren, daß sie nicht ganz verläßlich ‚zuhaus sind in der gedeuteten Welt‘ und in sich selbst – sie wirkt dann wie eine Naturkraft, wie ein Wetterwechsel, eine aufziehende Klarheit in der Luft über den Bergen, schneller Wolkenzug. Unbeweisbar und unerklärlich bleibt sie. Es ist widersinnig, dies in Dogmen und Lehrbekenntnissen einzuzirkeln.“[27] Pollacks und Lehnerts Reflexionen stehen zueinander in Spannung, wobei Lehnerts Deutungsversuche auch die Entwicklungen der Glaubenskonzentration und der Unbestimmtheit des Abendmahls belegen, die Pollack so exakt herausarbeitet.

Trotzdem gilt: Erst in der Spannung zwischen dem nüchternen Religionssoziologen Pollack und den poetischen Worten Lehnerts wird das deutlich, was beim Abendmahl in eine theologische Reflexion zu bringen ist[28].

1.3.        Feiern und Gestalten. Praktische Veränderungen

Dort, wo in der Gegenwart Abendmahl und Eucharistie noch gefeiert werden, in den christlichen Kirchen, sind beide vielgestaltiger und deutungsoffener geworden. Die Abendmahlsfeier ist nicht mehr auf eine bestimmte theologische oder liturgische Perspektive festgelegt, auch nicht mehr auf eine konfessionelle. Zu prüfen wäre, ob in der Gegenwart Zustände eingetreten sind, welche die Unionsurkunde der Evangelischen Landeskirche in Baden von 1821 als damalige Gegenwart so beschrieb: „Die Eifersucht, womit sie [die reformatorischen Theologen wv] und ihre Nachkommen sich einander gegenüber sahen, ist erloschen, die Ängstlichkeit, mit der sie ihre Unterscheidungs­lehren bewachten, verschwunden; die Freiheit des Glaubens ist erreicht und mit ihr die Freiheit im Glauben und die durch kein Mißtrauen fortan zu störende Freudigkeit in einem Gott gefälligen Leben.“[29] Im Abschnitt zuvor hieß es sehr optimistisch, die Landeskirche und Gemeindeglieder erfreuten sich nun, nach der Unterzeichnung der Unionsurkunde mit ihrer Neu-Interpretation des Abendmahls und den entsprechenden liturgischen Bestimmungen, der „Glaubens- und Gewissensfreiheit“.

Was als Beschreibung damaliger Gegenwart gemeint war, überdeckte jedoch anhaltende Konflikte zwischen reformierten oder lutherisch orientierten Theologen innerhalb der Landeskirche, die über Jahrzehnte anhielten. Und heute? Wird das Abendmahl ohne Eifersucht, Ängstlichkeit und Mißtrauen gefeiert, allein im Geist der Freiheit des Glaubens?

Nach meiner Überzeugung ist diese optimistische Beschreibung der Unionsurkunde auch heute nicht richtig eingelöst, auch wenn man sich auf das Abendmahl konzentriert. Zwar ist, verglichen mit dem beginnenden 19.Jahrhundert vieles geschehen, und die theologischen Differenzen haben sich vom Gegensatz zwischen reformierter und lutherischer Theologie auf andere Bereiche verlagert, aber Differenzen sind eben geblieben. Und sie prägen die gegenwärtige theologische Diskussion über das Abendmahl noch immer.

Neben die aufgezählten Beobachtungen zur theologischen Deutung des Abendmahls zeigen sich in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von gravierenden Änderungen der Abendmahlspraxis, die das Bild vom Abendmahl offener, vielfältiger, bunter, aber auch widersprüchlicher gemacht haben.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Frequenz der Abendmahlsfeiern in Gottesdiensten beträchtlich erhöht. Sie sind nicht mehr beschränkt auf die hohen Feiertage Karfreitag, Buß- und Bettag, Ostern und Weihnachten. Das Abendmahl wird nicht mehr als separate Feier an den Wortgottesdienst angehängt, für diejenigen, die es unbedingt wollen, während die anderen nach Hause gehen und sich dem Garpunkt des Sonntagsbratens widmen. Stattdessen begegnet regelmäßig und beinahe überall in den Landeskirchen die Praxis des Gesamtgottesdienstes, in der Regel monatlich und an hohen Feiertagen, in manchen Gemeinden sogar sonntäglich.

Gemeinden tendieren dazu, die eigene Abendmahlspraxis als normativ hinzustellen, während sie doch selten gründlich mit dem abgeglichen wurde, was in den Bekenntnisschriften und in den Landessynoden vorgegeben wurde. Kleinigkeiten rücken gelegentlich in den Rang von Glaubenswahrheiten. Es ist zum Beispiel nicht zwingend, als Abendmahlswein einen Riesling von einem der großherzoglichen Güter des früheren Landesherrn zu verwenden, genauso wie das Verbot von Einzelkelchen nicht zwingend ist oder die Verwendung von Rotwein statt Weißwein.

Liturgische Kommissionen haben die praktischen Möglichkeiten zur Gestaltung von Abendmahlsfeiern sehr stark differenziert, aber es bleiben Zweifel, ob von den vielen liturgischen Möglichkeiten überhaupt Gebrauch gemacht wird. Es muß auch die Frage gestellt werden, ob theologische Variationen, Gebete und Gesänge in all ihren Unterschieden den Gemeinden überhaupt zu vermitteln sind. Wer es jedem rechtmachen will, verliert an theologischem Profil. Es besteht die Gefahr, daß die Faktizität eines praktisch-liturgischen Pluralismus mit seinen unausgeglichenen Widersprüchen an die Stelle einer konsistenten Abendmahlsliturgie und -theologie tritt. Wenn liturgisch gilt: Anything goes, dann verschwimmt der theologische Sinn des Abendmahls in die Beliebigkeit. Diese Beliebigkeit besitzt eine doppelte Gestalt, eine des liturgischen Vollzugs und eine der theologischen Deutung.

Unterschiedliche theologische Deutungen der Abendmahlsfeier veröffentlichen zum einen theologische Kammern, liturgische Ausschüsse und andere Gremien, aber auch einzelne Theologen. Beides soll im folgenden noch vorgestellt werden. Unterschiedliche theologische Deutungen des Abendmahls bringen aber auch diejenigen mit, die am Abendmahl teilnehmen. Werden sie gefragt, was sie mit dem Abendmahl im evangelischen Gottesdienst verbinden und wie es besser gestaltet werden könnte, so antworten sie: stimmiger, zeitgemäßer, nicht so vereinnahmend, außergewöhnlicher, nicht so dogmatisch überfrachtet, unverkrampfter, um nur eine Auswahl möglicher Antworten zu nennen. Der theologisch noch zu bewertende Pluralismus der Abendmahlspraxis spiegelt sich auch in den Meinungen und Befindlichkeiten derjenigen wieder, die am Abendmahl teilnehmen.

1.4.        Begründung der Gliederung

Eine Theologie des Abendmahls kann darum nicht als allein verbindliche dogmatische Lehre platziert werden, sondern nur als Gesprächsvorschlag in einer anhaltenden Debatte, in der sich unterschiedliche Hintergründe, Voraussetzungen und Perspektiven miteinander mischen.

Vor diesem Hintergrund ist danach zu fragen, weshalb gerade die Abendmahlsfeier von Beginn der Reformation so große Streitigkeiten ausgelöst und Gegensätze hervorgebracht hat und wieso sich bis in die Gegenwart in der ökumenischen Abendmahlsdiskussion trotz gegenteiliger Beteuerungen der kirchlichen Funktionäre wenig bewegt.

Nach meiner Überzeugung liegt das daran, daß sich an Vollzug und Deutung des Abendmahls das christliche Wirklichkeitsverständnis entscheidet. Wie auch immer man dieses Wirklichkeitsverständnis auffaßt, es interpretiert im Abendmahl einen Topos, an dem die theologische Reflexion eine bestimmte liturgische Gestalt annimmt. Im Abendmahl findet die besondere symbolische Welt des christlichen Glaubens ihren genuinen Ausdruck. Das Abendmahl ist verbunden mit darstellendem, performativen Handeln, welches über theologische Reflexion hinausschreitet. Und drittens setzt die Feier des Abendmahls ein Glaubensverständnis voraus, das Glaube und Welt, Christliches und Nichtchristliches voneinander unterscheidet. Darin liegen Gefahren verborgen: die Gefahr des Fundamentalismus, des ekklesiogenen Sonderwegs und der falschen Abgrenzung, des peniblen Bestehens auf Kleinigkeiten. Bedeutung und Gefahren zusammen begründen, weshalb Theologen und Kirchenvertreter gleichermaßen beim Abendmahl nur sehr zögerlich auf liturgische und theologische Veränderungen zugehen.

Ich unterscheide nun vier Felder des Abendmahls, die im folgenden bedacht werden sollen:

  • die (deutende) Theologie des Abendmahls
  • die (Widersprüche beseitigende) ökumenische Diskussion über Abendmahl, Herrenmahl, Eucharistie
  • den (darstellenden) liturgischen Vollzug des Abendmahls und seine gottesdienstliche Praxis
  • die (vergleichende) Deutung von Abendmahl und sozialer Eßgemeinschaft, also die Verknüpfung von Kulturwissenschaft und Theologie.

Nach dieser Einleitung (1.), die sich an Phänomenen, Beispielen und Deutungsvorschlägen orientierte, folgt zuerst eine theologische Verortung des Abendmahls in der Frage nach Gottes Gegenwart in dieser Welt. Denn das Abendmahl geht nicht darin auf, daß es Christen regelmäßig an Sonn- und Feiertagen praktizieren. Es ist als liturgischer Vollzug der kritischen theologischen Diskussion nicht entzogen, weil man es unter die selbstverständlichen Voraussetzungen und gottesdienstlichen Praktiken des Christentums zählt. Vielmehr ist das Abendmahl als ein Weg, die Gegenwart Gottes symbolisch darzustellen, sämtlichen Infragestellungen der Gegenwart Gottes im Leiden dieser Welt ausgesetzt. Ihnen muß man sich fundamentaltheologisch (2.) stellen, und dafür nehme ich Überlegungen des katholischen Theologen Magnus Striet und des Turiner Kulturwissenschaftlers Roberto Calasso auf. Danach werden zuerst, um ihrer Vernachlässigung entgegenzuwirken, einige evangelische und ökumenische Unions- und Konsensdokumente (3.) in ihrem Ertrag für die Abendmahlspraxis aufgenommen. Sie werden anders als in vielen theologischen Deutungen nicht als Bestätigung, sondern als Überwindung der reformatorischen Streitigkeiten gelesen, die auch eine andere theologische Akzentsetzung - schlagwortartig: von der Realpräsenz zur Gemeinschaft der Glaubenden - zur Folge haben. Mit dieser neuen theologischen Akzentsetzung soll endlich ernst gemacht werden.

In dieser Perspektive folgt die Diskussion aktueller theologischer Interventionen (4.), solcher, die stärker systematisch, und solcher, die stärker praktisch-theologisch perspektiviert sind, zuletzt solcher, die offiziellen kirchlichen Charakter haben. Neben der theologischen Deutung des Abendmahls ist auch seine Praxis zu reflektieren. Der katholische Schriftsteller Martin Mosebach hat der gesamten katholischen Eucharistiepraxis den Vorwurf der „Häresie der Formlosigkeit“ gemacht. Es ist zu fragen, ob er – mutatis mutandis – auch auf den evangelischen Bereich angewandt werden kann (5.). Die gegenwärtige evangelische Abendmahlspraxis soll mit diesen Überlegungen Mosebachs im Rücken an einigen neueren Entwicklungen kritisch diskutiert werden. Damit ist die evangelische Praxis und Theologie des Abendmahls genügend vorgestellt, um Anregungen und Anknüpfungspunkte aus der Kunst, der Literatur und der Kulturwissenschaft zu diskutieren (6.). Ein kritisches Resümee soll diesen Essay beenden und theologische wie liturgische Schlußfolgerungen aus diesen Überlegungen vorstellen (7.)

-> 2. Gottes Schweigen oder die Rückkehr des Göttlichen

Anmerkungen

[3]    Vgl. an Literatur exemplarisch Kikuko Kashiwagi-Wetzel, Anne-Rose Meyer (Hg.), Theorien des Essens, Berlin 2017; Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.), Essen, Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1/2012, Bielefeld 2012. Zum Thema Gastfreundschaft Burkhard Liebsch, Michael Staudigl, Philipp Stoellger, Perspektiven europäischer Gastlichkeit. Geschichte – Kulturelle Praktiken – Kritik, Weilerswist 2016.

[4]    Tim Caspar Boehme, Verbotene Speisen, TAZ 26.12.2008, http://www.taz.de/!5170569/.

[5]    Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 2010 (frz.1970).

[6]    A.a.O., 95.

[7]    A.a.O., 97.

[8]    Zum Baguette vgl. Dieter Splinter, Wolfgang Vögele, Wes Brot ich eß…. Predigtmeditation über Joh 6,30-35 zum 7.Sonntag nach Trinitatis, in: W.Gräb et al. (Hg.), Predigtstudien für das Kirchenjahr 2016-2017, Perikopenreihe III, Zweiter Halbband, Freiburg 2017, 80-87.

[9]    Barthes, a.a.O., Anm. 5, 100.

[10]   Man denke auch an die Vorliebe der Franzosen für Innereien, zum Beispiel tripes (Kutteln) oder an die berüchtigten, mit Innereien gefüllten Würste, die andouillettes.

[11]   Zum Begriff der Alltagsethik Wolfgang Vögele, Weltgestaltung und Gewißheit. Alltagsethik und theologische Anthropologie, Protestantische Impulse für Gesellschaft und Kirche 4, Münster 2007.

[12]   Botho Strauß, Oniritti Höhlenbilder, München 2016, 33.

[13]   Zur Leuenberger Konkordie s.u. Abschnitt 3.3.

[14]   Zum offiziellen katholischen Verständnis des Abendmahls s.u. Abschnitt 4.4.3..

[15]   Harald Lemke, Die gute Gegengabe – Annäherungen an eine gastrosophische Anthropologie, in: Claus Leggewie (Hg.), Tafeln, teilen, trennen – Nahrung und Essen als Gaben, Global Dialogues 9, 2015, 10-19. Vgl. auch ders., Feuerbachs Stammtischthese oder zum Ursprung des Satzes ‚Der Mensch ist, was er ißt‘, Aufklärung und Kritik 11, 2004, 116-140, mit einer durchaus antitheologischen Spitze und unter Bezugnahme auf die Philosophie Feuerbachs; ders., Anderes-Selbst-Verkörpern. Bausteine einer gastrosophischen Anthropologie und Subjekttheorie, in: Nicole Wilk (Hg.), Esswelten. Über den Funktionswandel der täglichen Kost, Frankfurt/M. 2010, 43-58; ders., Kritische Theorie der Esskultur, in: I.Därmann, Chr.Jamme (Hg.), Kulturwissenschaften. Konzepte, Theorien, Autoren, München 2007, 169-190.

[16]   Lemke, Gegengabe, a.a.O., 11.

[17]   A.a.O., 14.

[18]   A.a.O., 15.

[19]   Ebd.

[20]   A.a.O., 16.

[21]   S.o. Abschnitt 1.1.

[22]   Detlef Pollack, Die Einheit von Immanenz und Transzendenz in der Krise: Religionssoziologische Anmerkungen zum Wandel des evangelischen Abendmahlsverständnisses, in: ders. (Hg.), Rückkehr des Religiösen? Studien zum religiösen Wandel in Deutschland und Europa II, Tübingen 2009, 276-292, hier 276.

[23]   A.a.O., 282ff.

[24]   Zu beiden Dokumenten s.u. Abschnitte 3.2. und 3.3.

[25]   Pollack, a.a.O., Anm. 22, 288f.

[26]   A.a.O., 291f.

[27]   Christian Lehnert, Der Gott in einer Nuß. Fliegende Blätter von Kult und Gebet, Berlin 2017, 109.

[28]   Zu holzschnittartig klingt das folgende aus einem Dialogbuch über das katholische und das reformierte Abendmahlsverständnis: Peter Dettwiler, Eva Maria Faber, Eucharistie und Abendmahl. Ökumenische Perspektiven, Frankfurt/M. 2008, 16: „Daß Gott wirklich ist: darauf setzt der Glaube. Er verfügt nicht über Gott, hat nicht ‚Kenntnis‘ von ihm nach Art vorzeigbaren Wissens. Daß Gott nicht ‚bewiesen‘ werden kann, beeinträchtigt aber nicht seine Wirklichkeit. Der Glaube ist Glaube, indem er sich auf die reale Wirklichkeit Gottes verläßt.“ Diese Passage verfaßte die katholische Theologin Eva Maria Faber.

[29]   Wolfgang Vögele (Hg.), Die Bekenntnisschriften der Evangelischen Landeskirche in Baden, Bd.1 Textsammlung, Karlsruhe 2014 (10.Aufl.), 140.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/109/wv036_01.htm
© Wolfgang Vögele, 2017