Brot und Wein

Gegenwärtige Abendmahlspraxis und ihre theologische Deutung

Wolfgang Vögele

5.        Formlosigkeit

In den bisherigen Überlegungen wurden vor allem Fragen der theologischen Interpretation behandelt. Evangelische Abendmahlspraxis ist jedoch auch praktischer und ästhetischer Kritik ausgesetzt. Solche Kritik an Form und Gestalt der Eucharistie hat vor einigen Jahren im katholischen Bereich Aufsehen erregt, und das nicht nur innerkatholisch, sondern durch eine breite Rezeption in den Feuilletons. Der Schriftsteller Martin Mosebach hat die „Häresie der Formlosigkeit“[1] beklagt. Diese wird zunächst dargestellt, dann aber sofort mit Überlegungen verbunden, die auf eine Anwendung des Vorwurfes der Formlosigkeit im evangelischen Bereich zielen (5.1.), was ganz und gar nicht auf der Linie der konservativ-katholischen Kultur- und Liturgiekritik Mosebachs liegt. In einem zweiten Teil werden vor diesem Hintergrund ausgewählte Probleme evangelischer Abendmahlspraxis diskutiert (5.2.).

5.1. Ritus, Ästhetik und Tradition

Hinter Mosebachs Programm einer Neubelebung der alten, lateinischen vorkonziliaren Liturgie steckt ein eigenes und besonderes ästhetisches Programm, das seine ganz eigenen theologischen Folgen zeitigt: „Ich bekenne mich offen zu der naiven Schar, die aus der Oberfläche, der äußeren Erscheinung auf die innere Beschaffenheit und womöglich Wahrheit oder Verlogenheit einer Sache schließt. Die Lehre von den ‚inneren Werten‘, die sich in schmutziger, verkommener Schale verbergen, kommt mir nicht geheuer vor. Daß die Seele dem Körper die Form und das Gesicht, seine Oberfläche verleiht, glaubte ich schon, als ich noch nicht wußte, daß dieser Satz eine Definition des kirchlichen Lehramtes war.“[2] Erscheinung und Wesen, Inhalt und Form sind so miteinander verknüpft, daß aus der Erscheinung auf das Wesen, das Innere geschlossen werden kann. Werden Inhalt und Form philosophisch und argumentativ getrennt, so zerfällt die Wirklichkeit in eine Theorie, die der Wahrheit verpflichtet ist, und in eine Ästhetik, die nur nach Gesichtspunkten der Schönheit urteilt. Die Abwertung von Formen und Erscheinungen zieht gravierende philosophische Folgen nach sich: „Formen sind hier fast etwas Beliebiges geworden, und manchmal sogar Schlimmeres – sie sind unwahr, sie sind verlogen. Wer die Form wahrnimmt und ernst nimmt, schwebt bereits in der Gefahr, gleichfalls verlogen zu sein. Er ist ein Ästhetizist. Er sucht die Wahrheit an der falschen Stelle, nämlich im Bereich des Anschauens, und er sucht mit den falschen, mit den verbotenen Mitteln: mit seinen Sinnen nämlich, seinem Geschmack, seiner Erfahrung und seinem Verstand. Aus diesem denkerischen Aufstand gegen das Offensichtliche ist die Grundstimmung unseres Zeitalters geboren worden: ein die ganze Öffentlichkeit erfüllendes Mißtrauen gegen jede Art von Schönheit und Vollkommenheit.“[3]

Genau diese Trennung von Form und Inhalt aber verfällt für Mosebach dem Vorwurf der Abstraktion, der Theoretisierung und der Welt- und Wahrnehmungsfremdheit. Wer dagegen Form, Wahrheit und Wirklichkeit zusammendenkt, der verbindet Ästhetik und Theorie und beurteilt Verhältnisse und Dinge von ihrer Erscheinung her. Von dieser Grundentscheidung aus beurteilt Mosebach dann die Veränderungen, die das Zweite Vaticanum für die Meßfeier vorgesehen hat, und er steigert sich zu einer Apologie der alten lateinischen Messe, die der Priester mit dem Gesicht zum Altar, nicht zur Gemeinde hin gefeiert hat. In der Folge weiß Mosebach sehr viel Kluges, historisch Informiertes und Nachdenkenswertes über Liturgie, Hostien, Meßwein und vasae sacrae zu sagen. Das gilt auch für die Hostienfrömmigkeit[4] und für die Verknüpfung von Ästhetik und Theologie.

Dabei verbindet sich allerdings Mosebachs Ästhetik mit einer Aufwertung der Tradition, die so aus evangelischer Sicht nicht nachvollziehbar ist. Aus der Sicht evangelischer Theologie nicht nachvollziehbar ist der Satz, daß die „Zufälligkeiten und Spezialfälle der Geschichte in der Liturgie zu etwas Heiligem“[5] werden. So kann man auch katholisch schlecht erklären, wieso dann die vorkonziliare Liturgie über die konziliare zu stellen ist, denn das Konzil gehört ja genauso zu den Zufälligkeiten der katholischen Kirchengeschichte wie die Änderungen in den Jahrhunderten davor.

Der katholische Schriftsteller Mosebach entdeckt nun von dieser Position aus im Protestantismus einen „heftige[n] antirituellen Affekt“[6]: Der Protestantismus trenne Inhalt und Form, Wahrheit und ihre Gestalt. Insofern triumphiere theologisch unsachgemäß die Predigt über das Abendmahl. Aber das scheint mir eine polemische Form der ökumenischen Auseinandersetzung zu sein. Festzuhalten allerdings wäre an dem Gedanken der Verknüpfung von Inhalt und Form. Denn die theologische Stellung des evangelischen Abendmahls entscheidet sich nicht nur an seiner angemessenen theologischen Deutung, sondern auch an seinem Vollzug. Liturgische Veränderungen und liturgische Praxis betreffen das Abendmahl genauso wie der Streit um seine theologische Deutung. Insofern macht es Sinn, die wichtigsten Veränderungen in der Abendmahlspraxis der letzten Jahre durchzugehen und diese auf ihre theologische Relevanz zu befragen.

5.2. Veränderungen liturgischer Präsenz

Vor der Reflexion über die Praxis des Abendmahls soll allerdings eine Warnung vor der Gefahr solcher Reflexionen stehen: „Über den Gottesdienst zu reflektieren ist trostlos. (…) Die Theologie, wo sie ‚praktisch‘ wird, sollte man behandeln wie die Gebrauchsanweisung eines Neuwagens. Man muß sie im Handschuhfach liegenlassen, sonst verhindert sie die Fortbewegung. Gottesdienst wird gefeiert, durchlitten, empfangen, gefühlt.“[7] So wie Mosebach typisch für einen katholischen Traditionalismus war, so steht diese Passage Christian Lehnerts für ein typisch protestantisches Denken der Unmittelbarkeit, das sich mit dem Verzicht auf Theorie und Dogmatik in gegen Reflexion abgedichtete Liturgie rettet. Aber diese Abdichtung verhindert die Auseinandersetzung zwischen Tradition und Moderne, gerade in Abendmahlsfragen. Wie auch immer man dieses gestaltet, bei den Gottesdienstteilnehmern ruft die Liturgie Empfindungen, Erfahrungen und Erinnerungen hervor.

Wer also Gottesdienstbesucher nach ihren Erfahrungen beim Abendmahl befragt, der erhält ein ganzes Spektrum unterschiedlicher Antworten: Während die einen von „krampfigen“ Modernisierungsversuchen sprechen, kritisieren andere einen unevangelischen Formfetischismus. Es besteht das Bedürfnis nach einer würdigen Feier, die gleichzeitig für Überraschendes und Unkonventionelles offen sein soll. Steifheit und Begräbnisstimmung sollen unter allen Umständen vermieden werden, gefragt ist die Fröhlichkeit der Auferstehungs- und Osterfreude.

Praktisch-theologisch läßt sich zeigen, daß Liturgie und Gestaltung gottesdienstlicher Feiern in den letzten beiden Jahrzehnten eine verstärkte Aufmerksamkeit gefunden haben. Das gilt insbesondere für das Abendmahl, dessen liturgische Praxis sich seit dem berühmten Feierabendmahl in der St.Lorenzkirche beim Nürnberger Kirchentag 1976 erheblich verändert hat.

Dabei sind Veränderungen in der liturgischen Abendmahlspraxis abhängig von räumlichen und architektonischen Voraussetzungen. Es macht einen Unterschied, ob der Altar im Kirchenraum so platziert wird, daß nur ein Abendmahl im Halbkreis davor möglich ist, oder ob er so zu stehen kommt, daß die Gemeinde im Kreis um den Altar stehen kann. Überlegungen dazu haben die evangelische Kirchenarchitektur seit dem Wiesbadener Programm an der Wende zum 20.Jahrhundert geprägt.[8] Dieses weiter auszuführen, wäre einen eigenen Essay wert, zumal im Vergleich mit der nachkonziliaren Architektur katholischer Kirchen[9].

Die Liturgie (und die Theologie) der Abendmahlsfeier bedingt jedoch neben architektonischen Fragen das Nachdenken über zahlreiche vermeintlich kleine Themen, die alle Gestalt und Deutung der Feier beeinflussen: der Altarschmuck, Paramente und Tischtücher, Kelche und Patenen, die Frage nach ‚normalem‘ Brot oder Oblaten, nach Einzel- oder Gemeinschaftskelch, nach Wein oder Traubensaft, nach Rot- oder Weißwein (oder dem entsprechenden Traubensaft), Orgelmusik, die sub communione gespielt wird, und so weiter.[10]

Gottesdienstbesucher nehmen in der Regel sehr genau wahr, wenn eine Abendmahlsfeier sorgfältig vorbereitet ist und mit der entsprechenden Würde durchgeführt wird. Genauso fällt es auf, wenn diese Sorgfalt fehlt, wenn die Besucher den Eindruck haben, hier werde schluffig und ohne die rechte Ernsthaftigkeit ein nicht ganz so wichtiger Teil des Gottesdienstes einfach so ‚abgehandelt‘. Der Pfarrer ‚wurschtelt‘ sich so durch, und das fällt den Teilnehmern der Abendmahlsfeier auf. Solche Schluffigkeit kann verschiedene Gründe haben. Wer als Theologe den Kern des Gottesdienstes vor allem in der Predigt verwirklicht sieht und dafür Arbeit und Aufmerksamkeit aufwendet, der wird im Abendmahl oft etwas vielleicht sogar Zweitrangiges erblicken. Wer in einem antikatholischen Effekt jeden Anklang an ein substantialistisches Verständnis von Gottes Präsenz vermeiden will, der vermeidet oft auch zugleich jeden Anklang an Feierlichkeit und Würde. So berechtigt letzteres aus lutherischer Perspektive sein mag, es resultiert doch noch oft in einem allzu lässigen und lockeren Umgang mit der Abendmahlsliturgie. Das kann aber nicht das Ergebnis des Versuchs sein, das Abendmahl in einer gegenwartsnahen Interpretation theologisch ernst zu nehmen. Dieser ist, bei allen Problemen und Schwierigkeiten, die an den Bekenntnisschriften, praktisch- und systematisch-theologischen Deutungen bisher festgemacht wurden, nicht zu haben ohne ein Ernstnehmen von Liturgie und praktischer Gestaltung. Theologische Deutung und liturgische Durchführung stellen zwei Seiten derselben Medaille dar.

Die Verknüpfung zwischen Theologie und Praxis zeigt sich schon bei der Frage nach der Zulassung zum Abendmahl. Die meisten Landeskirchen gestatten mittlerweile das Abendmahl für Kinder, im Gegensatz zur früheren Praxis, die die Erlaubnis zur Teilnahme am Abendmahl mit der Konfirmation verband. Das entscheidende theologische Argument dafür lautet, daß es einem getauften Mitglied der Gemeinde die Teilnahme am Abendmahl nicht verboten werden kann. Die Landessynode der badischen Landeskirche erklärte zum Beispiel im Jahr 2001: „Auf Grund eines tieferen theologischen Verständnisses der Zusammengehörigkeit von Taufe und Abendmahl erkennt die Landessynode: Wer getauft ist, ist zur Feier des Heiligen Abendmahls eingeladen.“[11] Neben diesem theologischen Argument berief man sich auf pädagogische und entwicklungspsychologische Argumente. Das führte dann in der erwähnten Arbeitshilfe zu einem Verständnis der Abendmahlsfeier, welche durch die Stichworte Passa, Schöpfung, Dank, Vergebung, Gemeinschaft mit Gott, Vergebung charakterisiert wird.[12] Allerdings wird dabei der Opfergedanke ausdrücklich weggelassen, der Bezug auf Kreuz und Auferstehung wird nur in sehr allgemeinen Worten beschrieben. Aber das führt zu Problemen der theologischen Deutung: Die Verbindung zwischen Abendmahl und Passa ist exegetisch umstritten. Und Brot und Wein sind eben nicht nur Schöpfungsgaben Gottes, sondern dadurch charakterisiert, daß Trauben und Getreidekörner erst nachhaltig be- und verarbeitet werden müssen, bevor sie verzehrt werden können.

Die entsprechende Broschüre der württembergischen Landeskirche gestattet ebenfalls die Teilnahme von Kindern am Abendmahl[13], aber der Opferaspekt wird nicht wie in Baden praktisch ausgeblendet: „Nach den Evangelien ist das Abendmahl ein Essen, bei dem Opfer und Täter versammelt sind: der Verleugner Petrus und der Verräter Judas sitzen mit Jesus an einem Tisch.“[14]

Deutlich ist, daß mit der theologisch völlig berechtigten und m.E. auch nötigen Zulassung von Kindern zum Abendmahl Veränderungen in Theologie, Liturgie und Interpretation einhergehen, die alle darauf ausgerichtet sein dürften, das Abendmahl leichter verständlich zu machen. Das heißt jedoch nicht, aus der Abendmahlsliturgie eine Kindergottesdienstveranstaltung zu machen. Bei Kindern scheint es nötig, nach Altersstufen zu differenzieren. Wenn Eltern mit sehr kleinen Kindern zum Abendmahl kommen, kann es auch angemessen sein, die Kinder zu segnen oder ihnen nur ein Stück Brot zu geben. Bei älteren Kindern ist das anders, sie brauchen vorher so etwas wie eine theologische Erläuterung, und das wäre eine Aufgabe von Kindergottesdienst, Jungschar oder von Familiengottesdiensten zum Thema Abendmahl. Wobei auf der anderen Seite gilt: Kinder können in Erfahren und Verstehen einer Abendmahlsfeier auch hineinwachsen, sie müssen nicht alles sofort und beim ersten Mal verstehen. Spätestens im Konfirmandenunterricht wird das Thema Abendmahl dann in der Regel ausführlich behandelt werden. Und es muß auch deutlich sein: Selbst für Erwachsene bleibt im Abendmahl noch ein Geheimnis des Glaubens, das sich durch keine religionspädagogische Verständigungsmaßnahme auflösen läßt.

Die Zulassungsfragen lassen sich noch erweitern. Brot und Wein für Kinder lebt von der Prämisse, das Abendmahl allen Getauften zugänglich zu machen. Daraus schöpft auch die theologische Einsicht des Prinzips ökumenischer Gastfreundschaft, die das evangelische Abendmahl auch den Angehörigen anderer christlicher Kirchen einschließlich der katholischen nicht verweigert, wenn das auch nicht immer auf Gegenseitigkeit beruht.

Es sind auch Vorschläge gemacht worden, grundsätzlich niemanden vom Abendmahl auszuschließen, so wie Jesus alle Menschen zu seinen Gastmählern und Speisungen eingeladen hat. Mit diesem letzten Vorschlag wäre allerdings ein grundlegender Wechsel des theologischen Charakters des Abendmahls eingeleitet: Aus einer liturgischen Selbstverständigung des Glaubens würde eine missionarische Gelegenheit. In der Praxis ist zu bedenken, daß kein Liturg eine sinnvolle Möglichkeit besitzt, vor der Austeilung zu kontrollieren, ob alle, die da im Halbkreis oder Kreis vor ihm stehen, auch getauft sind und welche Kirche diese Taufe vorgenommen hat. Genau dieser offene Charakter des Abendmahls sollte auch überhaupt nicht geändert werden, denn anders würde eine missionarische Kirche nicht der Einladung des Gekreuzigten und Auferstandenen gerecht. Sie ist dadurch charakterisiert, daß er in seiner Einladung niemanden von seiner Gnade ausschließt.

Eine letzte Frage der Zulassung betrifft den Fall, daß jemand an den Altar tritt, von dem bekannt ist, daß er offensichtlich nicht mehr der Kirche angehört oder eine andere Religion als die christliche besitzt. Grundsätzlich scheint es mir heikel, in der liturgischen Situation eines Gottesdienstes jemanden von Brot und Wein auszuschließen, zumal diese Art von „Kontrolle“ auch bei den vielen, die anonym zum Abendmahl kommen, also ohne daß die Liturgen sie als Mitglieder der Gemeinde erkennen, gar nicht möglich ist. Im Sinne der Einladung Jesu zum Mahl wäre dafür zu plädieren, daß die Liturgen hier außerordentlich großzügig verfahren.[15]

Die übrigen hier zu verhandelnden praktischen Fragen scheinen demgegenüber von geringerer theologischer Bedeutung:

  • Häufigkeit des Abendmahls: Die alte Praxis, nur an den hohen Feiertagen (Karfreitag, Ostern, Buß- und Bettag) am Abendmahl teilzunehmen, ist dadurch überwunden worden, daß viele Gemeinden jeden Gottesdienst als Gesamtgottesdienst feiern oder zumindest einmal im Monat ein Abendmahl feiern. Gegen diese häufigeren Abendmahlsfeiern sprechen keine theologischen Argumente.[16]
  • Brot oder Oblate? Kirchendiener favorisieren die Oblate, weil sie leichter aufzubewahren und zu lagern ist. Das ist aber ein rein pragmatischer, sehr hausmeisterlicher Grund. Jüngst erregten Berichte Aufsehen, wonach der Vatikan den Gebrauch gluten- also weizenmehlfreier Oblaten untersagte. Im Blick auf die biblische Überlieferung scheint mir das „richtige“ Brot angemessener, zumal dieses für den Anlaß des Gottesdienstes extra gebacken werden kann. Daß mit gebrochenem Brot eine intinctio nur schwer möglich ist, spricht gegen die intinctio[17], nicht gegen das „richtige“ Brot.
  • Wein oder Traubensaft? Auch hier spricht die biblische Überlieferung für den Wein. Die Rücksicht auf alkoholkranke Gemeindeglieder kann es gebieten, entweder Traubensaft bereit zu halten oder vorher zu erklären, daß es jedem kommunizierenden Gemeindeglied aus unterschiedlichen Gründen (Glutenunverträglichkeit, Erkältung, Gefahren vor Rückfall bei trockenen Alkoholikern) selbstverständlich möglich ist, auf eines der beiden Elemente oder unter Umstände auch auf beide Elemente zu verzichten und die Gemeinschaft des Glaubens nur durch die Anwesenheit im Abendmahlskreis zu praktizieren.
  • Einzelkelch oder Gemeinschaftskelch? Vieles spricht für den Gemeinschaftskelch. Einzelkelche sind zum einen teuer in der Anschaffung, zum anderen scheinen sie Ausdruck eines übertriebenen hygienischen Bewußtseins. [18] Man schaue sich die Videos amerikanischer protestantischer Gemeinden an, bei dem kleine Plastikbecher mit Wein verteilt werden, in deren Deckel dann gleich noch eine Oblate verschweißt ist. Das repräsentiert eine Form der Nüchternheit, die zum einen hart an Würde- und Respektlosigkeit grenzt, zum anderen schlicht eine Verschwendung von Plastik darstellt.

Im Übrigen: In vielen Gemeinden entscheidet solche Fragen der Kirchendiener, weil er sich als einziger für die Pragmatik des Abendmahls interessiert und ansonsten als Hüter der lokalen Tradition fungiert. Hier gilt, daß sich Ältestenkreis und Pfarrer Gestaltungs- und Entscheidungsspielräume nicht aus der Hand nehmen lassen dürfen. Und es ist sinnvoll, den Kirchendiener als Experten zu solchen Diskussionen im Ältestenkreis und in der Gemeindeversammlung einzuladen.

Aus den bisherigen theologischen Überlegungen wird deutlich, daß die Alternativen jeweils zu Gunsten der Option entschieden wurden, die sich an Essen und Trinken orientiert. Alternative heißt dabei nicht, daß keine Ausnahmefälle vorkommen dürfen, in denen nicht begründet für eine andere als die hier vorgeschlagene Option entschieden werden kann. Die Orientierung am (wirklichen) Essen scheint mir etwas von einer falschen Spiritualisierung und Vergeistigung des Abendmahls zurückzunehmen. Denn die allzu starke Tendenz, die Kommunion von der Mahlzeit zu trennen, setzt einen zu starken Akzent auf Symbol und Ritual, der lebensweltlich nicht mehr eingeholt werden kann. Damit aber besteht die Gefahr, daß das Abendmahl nur noch als die rituelle Bestätigung dessen verstanden wird, was in der Predigt sowieso schon gesagt wurde. Die Spiritualisierung des Abendmahls resultiert aus einer fehlgeleiteten Verachtung des Materiellen, und sie führt in einen lebensweltfernen Symbolismus, der jeden Bezug zum Alltagsleben verloren hat. Damit aber verfehlt man den Sinn der Abendmahlsliturgie, die durch eine solche stärkere Orientierung am lebensweltlichen Gemeinschaftsmahl zurückgeholt werden könnte.

-> 6. Poesie des Abendmahls

Anmerkungen


[1]    Martin Mosebach, Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind, München 2007.

[2]    A.a.O., 9.

[3]    A.a.O., 101f.

[4]    A.a.O., 175ff.

[5]    A.a.O., 31.

[6] A.a.O., 58.

[7]    Lehnert, a.a.O., Anm. 27, 199.

[8]    Zum Wiesbadener Programm, wie es zum Beispiel in der Karlsruher Christuskirche realisiert wurde, vgl. Wolfgang Vögele, Evangelische Christuskirche Karlsruhe, Kleine Kunstführer 2754, Regensburg 2010. Ohne daß diese Diskussion aus Kirchenbau und -architektur hier aufgearbeitet werden kann, sei nur die theologische Architekturtheorie Otto Bartnings genannt, welche das Wiesbadener Programm überwand, insbesondere die Reduktion des Kirchenbaus auf einen Versammlungsort der Gemeinde. Bartning dachte über das Verhältnis von Predigt- und Feierkirche nach, und seine theologischen Überlegungen flossen in seine Kirchenbauten zur Zeit der Weimarer Republik und vor allem in das Programm der schnell zu bauenden Notkirchen nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Vgl. dazu den Katalog der Ausstellung: Akademie der Künste, Wüstenrot-Stiftung (Hg.), Otto Bartning – Architekt einer sozialen Moderne, Darmstadt Berlin 2017.

[9]    Noch die Innenrenovierungsarbeiten in der Karlsruher Hauptkirche St.Stephan, die vorsahen, den Altar von der Nordwand in die Mitte unter die Kuppel zu rücken und die Bänke nicht mehr in geraden Reihen auf den Altar, sondern kreisförmig um ihn herum anzuordnen, führte zu erheblichen Kontroversen unter Theologen, Architekten und Gemeindegliedern, samt häufigem Rückbezug auf die Liturgiedokumente des Zweiten Vatikanums.

[10]   Einen guten Überblick über diese Fragen gibt: Ende, Bäuerle, a.a.O., Anm. 115. Vgl. auch die Aufzählung praktischer Probleme bei der Abendmahlsfeier bei Corinna Dahlgrün, Von der „Speise der Seelen“, in: Helmut Löhr (Hg.), Abendmahl, Themen der Theologie 3, Tübingen 2012, 195-230, bes.203-208.

[11]   Zit.n. Landesarbeitskreis Kindergottesdienst et al. (Hg.), Abendmahlsfeiern im Kirchenjahr mit Kindern und der ganzen Gemeinde. Eine Handreichung, Karlsruhe 2015, 4. Vgl. dazu auch Markschies, a.a.O., Anm. 204, 10.

[12]   Landesarbeitskreis, a.a.O., 12-13.

[13]   Evangelischer Oberkirchenrat Stuttgart (Hg.), Arbeitshilfe Abendmahl mit Kindern, Stuttgart 2001, https://www.elk-wue.de/fileadmin/Downloads/Glauben/Feiern/Broschuere_Abendmahl_mit_Kindern.pdf, 13.

[14]   A.a.O., 22.23.

[15]   Etwas anders fällt der Vorschag Dahlgrüns, a.a.O., Anm. 235, 214, aus: „Grundsätzlich sollte ohne ein sicheres geistliches Urteil niemand, der kommt und am Mahl teilnehmen will, zurückgewiesen werden. Für die Praxis bedeutet das: Wenn ich die Person, die zum Mahl kommt, kenne und um ein Problem weiß, kann ich leise fragen, ob sie sich ihres Tuns bewußt und darin sicher ist (und bei Verneinung einen Segen spenden). In jedem Fall sollte ich im Anschluß ein Gespräch suchen.“ In der Praxis scheint mir das kaum praktikabel, zumal der Begriff des sicheren geistlichen Urteils außerordentlich dehnbar ist. Genauso wenig praktikabel scheinen mir die Vorschläge der Leuenberger Kirchengemeinschaft (a.a.O., Anm. 65): „Aufgrund der Urbanisierung und Säkularisierung sowie eines weitgehenden Wegfalls der Anmeldung zum Abendmahl stellen sich jedoch heute zwei Probleme. Zum einen ist nicht mehr überschaubar, wer von den Teilnehmern am Abendmahl getauft ist. Für diesen Fall bieten sich folgende Möglichkeiten an: Die Wiedereinführung der Anmeldepraxis oder ein Hinweis bei der Einladung zum Abendmahl auf die Voraussetzung der Taufe und der Kirchenmitgliedschaft, der dann den Gang zum Abendmahl in die Verantwortung des einzelnen stellt. Diese zweite Möglichkeit erscheint als die angemessenere.“

[16]   Härle, a.a.O., Anm. 115, 31: „Aber theologisch spricht nichts gegen und sogar vieles für das allsonntägliche Abendmahl.“

[17]   Kritisch zur intinctio auch Härle, a.a.O., 32: „Das Entscheidende an der Intinctio ist, daß die kommunizierende Person nicht der Einladung Christi folgt: ‚Trinket alle daraus.‘“

[18]   Kritisch zum Einzelkelch auch Härle, a.a.O., 33, mit dem Argument, die Verwendung von Einzelkelchen sei nicht stiftungsgemäß. Jesus habe von dem einen gemeinsamen Kelch gesprochen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/109/wv036_05.htm
© Wolfgang Vögele, 2017