Die automatische DistanzierungÜber Entsolidarisierung und Blockwarte im CyberspaceAndreas Mertin |
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Ein Urteil und seine FolgenHinweise wie den obenstehenden findet man so oder in analogen Formulierungen inzwischen zuhauf und immer weiter zunehmend auf deutschsprachigen Linklisten des World Wide Web. Wer beispielsweise bei der Suchmaschine Google "Urteil vom 12. Mai 1998" eingibt, stößt auf 22.800 (!) deutschsprachige Webseiten mit dieser Formulierung. Selten hat ein Gerichtsurteil zu einer derartig konformen Entsolidarisierung einer (virtuellen) Gemeinschaft geführt. Völlig besinnungs- und reflexionslos gehen Webmaster nun hin und distanzieren sich panisch von allem, was ein anderer sagen könnte, ja sie bieten - wie im oben zitierten Beispiel erkennbar - gleich im vorauseilenden Gehorsam die Denunziation anderer Webseitenbetreiber an. Dabei geht es nicht nur um "rechtsextreme, kinderpornografische oder sonstige kriminelle Inhalte", wie man zunächst meinen könnte [dazu später mehr], nein es geht um "alle Inhalte aller gelinkten Seiten". Der Prozeß, der dies alles ausgelöst hat, handelte davon, dass jemand mit einem anderen in einem Rechtsstreit lag und während dieses Streites auf seiner Homepage Links auf Webseiten eingebaut hatte, die seinen Kontrahenten despektierlich darstellten. Dagegen klagte der Betroffene und das Gericht gab ihm weitgehend Recht. Diese Art von Links setzt in der Regel das Einverständnis mit den verlinkten Inhalten voraus, es ist eine nur mühsam verkappte Form der Beleidigung. Die inzwischen übliche pauschale Distanzierung von allen Inhalten aller gelinkten Seiten zeigt aber, dass diese "Linker" überhaupt kein Verhältnis zu ihren Links haben. "Verlinken" ist oftmals zu einer reflexhaften Fingerübung geworden, weil man nicht weiter darüber nachdenken möchte, was man tut. Die intellektuelle Verantwortung der Webseitenbetreiber gegenüber den Nutzern ihrer Seite wird hinter juristischen Floskeln versteckt. Nun ist das mit dem "Distanzieren" so eine Sache. Pauschal geht es eigentlich gar nicht, es muss sich "auf etwas" beziehen. Sich von Inhalten zu distanzieren, die man nicht benennen kann, ist eine leere und schale Übung. Seine Distanz zu erklären bedeutet, ein Urteil abzugeben. Es bedeutet, zu begründen, warum man etwas nicht richtig findet. Und das ist bei Links, die normalerweise gesetzt werden, um eine Seite der Lektüre zu empfehlen [auf die Ausnahmen komme ich gleich zu sprechen], schon sehr schwierig. Auch als "Verlinkter" muss man sich fragen, was da eigentlich geschieht. Da verlinkt jemand auf das Magazin für Theologie und Ästhetik (und empfiehlt es damit) und erklärt zugleich, dass er sich von allen Inhalten distanziert, die im Magazin vorkommen könnten? Wie komme ich mir denn da als Herausgeber vor? Einmal unterstellt, im Magazin würde tatsächlich ein prominentes deutsches Sportidol im Kontext faschistoider Kulturprodukte thematisiert, so wäre das immer noch die Meinungsäußerung des Verfassers des entsprechenden Artikels (für die ich immer vehement als solche eintreten werde) und rechtfertigte keine Distanzierung eines Dritten. Wo kommen wir hin, wenn die Freiheit der Meinungsäußerung - auch abweichender Meinungsäußerungen - nicht mehr ganz selbstverständlich verteidigt wird? Die Konsequenzen sollten gerade auch die Webmaster bedenken, die sich von allem distanzieren wollen: wer kann noch auf Solidarität rechnen, wenn er sich selbst vorab schon von aller Solidarität verabschiedet hat? Besorgniserregend ist, dass auch auf religiösen und kirchlichen Websites diese Form der pauschalen Distanzierung Verbreitung findet. Wer in einer Suchmaschine "Urteil vom 12. Mai 1998" +Kirche eingibt, bekommt einen Überblick über diese anscheinend gängige Praxis. Nicht einmal mehr die Kirche und ihre Gläubigen vermögen Solidarität zu üben und/oder entschieden für die freie Meinungsäußerung einzutreten. Und nehmen wir einmal ganz konkret an, man würde - etwa im Rahmen eines Projekts über Rechtsextremismus - neben Links zu antifaschistischen Gruppen auch solche zu rechtsextremistischen Gruppen zusammentragen - soll dies strafbar sein? Warum eigentlich? Ist das Wahrnehmen dessen, was man missbilligt, inzwischen nicht mehr erlaubt? Und müssen die Gerichte angesichts ihrer bisher oftmals eingenommenen Haltung nicht das Gefühl bekommen, sie täten Recht darin, uns zu virtuellen Blockwarten zu machen, wenn viele Webseitenbetreiber im Netz sich wunschgemäß sofort von allem distanzieren? Man kann am Beispiel des Journalisten Burkhart Schröder sehen, wohin dieses Verhalten führt. Schröder ist ein ausgewiesener und engagierter Journalist zum Thema Rechtsradikalismus im Netz und hat auf seiner Homepage sowohl Links auf antifaschistische wie auf faschistische Seiten versammelt [http://www.burks.de/nazis.html]. Nun sieht er sich seit Ende letzten Jahres einer juristischen Untersuchung ausgesetzt, weil man über seine Seite zu anderen Seiten und darunter eben auch zu rechten Seiten kommen kann. Das Ganze ist ein unsäglicher Vorgang, der unsere Freiheit bedroht [Nähere Informationen unter: http://www.burks.de/kafka.html]. Schröder verweist zu Recht darauf, dass es zur Kultur der freien Meinungsäußerung gehört, derartige Links zusammenzustellen. Und jeder, der im World Wide Web Linklisten zusammenstellt, sollte sein Engagement konsequent daran setzen, dieses Recht zu verteidigen und nicht, es zu unterminieren. Burkhart Schröder schreibt zu seiner Form der Verlinkung: "Ich möchte nicht verhehlen, dass ich Verfechter des First Amendments der US-amerikanischen Verfassung bin - in jedem Fall eine weitaus effektivere Form, gegen Rassismus und Antisemitismus vorzugehen als Verbote und Zensur. Das Menschenrecht auf Meinungsfreiheit und sich zu informieren ist die Basis der Demokratie. Wer das anders sieht, ist ein Feind der Verfassung. Ich orientiere mich an der Praxis des Simon Wiesenthal Centers und des Nizkor-Archivs, das ebenfalls Links zu Nazi-Seiten wie der Ernst Zündels anbietet."
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Letztlich geht es in beiden Fällen um Bequemlichkeit. Die Webseitenbetreiber finden es bequemer, sich pauschal zu distanzieren, statt differenziert Stellung zu beziehen. Und die Polizei findet es bequemer, die Linkliste eines engagierten Journalisten zu kriminalisieren, anstatt sich der Verfolgung krimineller rechter Aktivitäten zuzuwenden.
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