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Zur Kritik der Kritik am ReformationsjubiläumOder: Außer Spesen nichts gewesen?Andreas Mertin
Sicher, all das ist im Fall des Reformationsjubiläums nicht von der Hand zu weisen. Nun aber auf den Gremienprotestantismus einzudreschen heißt, ein Paradigma wiederzubeleben, das der Protestantismus eigentlich vor 500 Jahren zu verabschieden trachtete. Denn wenn „die da oben“ versagt haben, ist das Problem nicht eines der da oben, sondern eines der Laien und Gläubigen, die genau das zugelassen haben. Die Kritik am Reformationsjubiläum hat sich deshalb nicht zuletzt und vor allem als Selbstkritik zu entfalten. Es muss eine Selbst-Kritik der protestantischen Gläubigen an einer Entwicklung sein, in der sie in den letzten 40 Jahren das Heft des Handelns aus der Hand gegeben und Gremien überlassen haben: Eine Zeit, in der schleichend der Kirchentag von einer Laienveranstaltung zu einer Prominenten- und Institutionenveranstaltung wurde. Eine Zeit, in der plötzlich ‚die EKD‘ für den Protestantismus zu sprechen schien, obwohl nichts sie dazu legitimierte. Eine Zeit, in der plötzlich Individuen als Aushängeschilder des Protestantismus fungierten, als Botschafter, als Cheftheologen, als Ratspräsidenten, ohne dass ersichtlich würde, was sie eigentlich legitimierte für die Protestanten oder gar den Protestantismus zu sprechen. Und ja, es war vor zehn Jahren für die einzelnen Gläubigen überaus bequem, dass einige Institutionenvertreter ihre Chance witterten, groß mit einem Reformationsjubiläum herauszukommen und in der Öffentlichkeit zu stehen.
Zur Selbstkritik der InstitutionThies Gundlach hat vortragsweise in einem sozusagen vorausschauenden Rückblick auf das Reformationsjubiläum noch vor dessen Abschluss „systematische Fehler des Erwartungsmanagements“ zugegeben.[1] Ja, so kann man das auch nennen. Schöner kann Bürokratensprache sich kaum je selbst überführen. Ich glaube ja mehr an systemische Fehler des Erwartungsmanagements aber ich bin ja auch Kirchenkritiker. In einem von mir zu Rate gezogenen Buch über Erwartungsmanagement[2] habe ich folgende schöne Beschreibung gefunden:
Nun können „systematische Fehler“ in vielem begründet sein: Falschen empirischen Berechnungen, unzulässigen Schlussfolgerungen aus bisher bekannten Daten usw. Nicht unter systematische Fehler fallen zufällige Fehler wie Einflüsse der Natur, also Wetterbedingungen etc. Gundlach präzisiert daher seine Selbst-Kritik der EKD: Die Erwartung, dass sehr viele Menschen zur Weltausstellung kommen werden, habe die „Individualisierung des Religiösen“ verkannt. Das überrascht einen dann doch. Denn die Individualisierung des Religiösen wird seit 200 Jahren von bestimmten, in der Regel liberalen theologischen Schulen nicht nur beschrieben, sondern spätestens seit dem 20. Jahrhundert auch empirisch nachgewiesen. Man müsste sich also sehr wundern, wenn die Evangelische Kirche, die für die Erforschung dieses Phänomens sogar eigene religionssoziologische und sozialwissenschaftliche Institute hat, dieses Phänomen nicht vorab in ihre Überlegungen aufgenommen hätte.[4] Kann das sein? Man muss doch geradezu zwingend fragen, ob die Individualisierung des Religiösen, die die religionssoziologischen Diskussionen des späten 20. Jahrhunderts bestimmte, nicht auch Auswirkungen auf kirchliche Großveranstaltungen hat. Alles andere wäre einfach nur blauäugig. Nun fürchte ich freilich, dass Gundlach nicht meint, man solle die unbestreitbare Individualisierung des Religiösen akzeptieren. Stattdessen meint er vermutlich, man müsse künftig Strategien entwickeln, diesen Trend umzukehren bzw. ihn wieder in die Institution Kirche einbinden. Ob das gelingen kann, scheint mir sehr fraglich zu sein.
Ich will nun gar nicht bestreiten, dass die Lutherdekade zur theologischen Bildung der Gemeinden beigetragen hat. Sie war zumindest Anlass dafür, dass über zehn Jahre in den Kirchenkreisen systematisch Veranstaltungen zu verschiedenen Aspekten der protestantischen Auseinandersetzung mit der Welt stattgefunden haben. Die Luther-Dekade hat hier sicher viel Energie freigesetzt. Aber mit der Lutherbibel 2017 hat das wenig zu tun.[5] Man muss schon tief in der Kirchenblase leben, um das als Argument anzusehen. Aber bleiben wir noch ein wenig beim von Gundlach zitierten Erwartungsmanagement. Ich kannte das Wort bis dato nicht, habe mir also Fachliteratur besorgt um zu sehen, was eigentlich darunter zu verstehen ist.
Die Zielbestimmung (wir machen eine Weltausstellung Reformation in Wittenberg) ist aber abhängig von der Bestimmung der Ausgangssituation. Wenn mir die Analyse der Ausgangssituation des Protestantismus sagt, dass dieser durch einen hohen Grad an Individualisierung charakterisiert ist, wie kann ich dann zu der Schlussfolgerung kommen, man könnte diese religiösen Individualisten zu einer Weltausstellung in einem Provinznest südlich von Berlin bewegen? Setzt das nicht voraus, dass ich z.B. vorab prüfe, ob man nicht wenigstens alle Gemeinden Deutschlands motivieren kann, eine Gemeindefahrt nach Wittenberg zu unternehmen? [So wie etwa die Documenta quasi eine eigene Fluglinie von Kassel-Caldern nach Athen betrieb?] Und wenn man das nicht kann und will, muss man dann nicht die Werbung auf religiöse Individualisten abstimmen? Mir ist aber keine Werbung bekannt, die die Gruppe der religiösen Individualisten in den Blick genommen hätte. Es war alles binnen-protestantische Gemeindekommunikation ohne die Gemeinden wirklich im Blick auf Wittenberg einzubinden. Soweit zur kirchlichen Selbst-Kritik. Zur binnenkirchlichen Fremd-Kritik der Institution
Aber ich halte ihre Kritik für weitgehend verfehlt. Sie benennen Normen und Erwartungen, die niemals Gegenstand der Planung waren und auch nicht sinnvoll Gegenstand der Planung hätten sein können. Kritik ist überaus einfach, wenn man von Rahmenbedingungen ausgeht, die so beschrieben werden, dass sie niemals befriedigend abgearbeitet werden können. Dass der gnädige Gott für die religiösen Subjekte heute kein Thema mehr ist, kann man beklagen aber man wird es nicht voluntativ ändern können. Nicht einmal totalitäre Systeme können das. Auffällig ist zudem, dass die Autoren denselben Fehler begehen, den Thies Gundlach als systematischen Fehler der EKD bzw. der Veranstalter beschreibt. Sie können mit der Individualisierung des Religiösen wenig anfangen und schon gar nicht damit umgehen. Unter der Überschrift Selbsttäuschung lesen wir zunächst:
Das wäre sicher an sich sinnvoll gewesen, aber ist es Thema eines Jubiläums? Auffällig ist, dass die Autoren in den Kategorien einer fortschreitenden Säkularisierung der Gesellschaft denken. Das ist keinesfalls mehr state of art. Es ist eine Art Institutionendenken, das die Kritiker mit den von ihnen kritisierten Institutionen stärker verbindet, als sie wohl glauben. Wenn ich dann ihre Krisendiagnostik lese, wird mir ehrlich gesagt übel, denn es ist der Betreuungs-Protestantismus, der hier sein Selbstverständnis artikuliert. Dieser beschreibt Situationen und Menschen als defizitär, um dann das eigene Engagement daraus ableiten zu können: Dieser ganze Jargon funktioniert nur aufgrund von Voraus-Setzungen, die gar nicht mehr hinterfragt werden. Dabei wäre das dringend nötig. Die „Auszehrung“ von Kirchengemeinden (wer schreibt nur so etwas?) das führt ja nicht notwendig zum Verlust von Barmherzigkeit und Respekt und führt auch nicht zu mehr Gewalt. Das ist erkennbar Unsinn. Als ob der säkulare Humanismus nicht längst anderes gezeigt hätte. Wer zudem jemals länger mit Gemeinden zu tun hatte, weiß, wie unbarmherzig und gnadenlos es zum Teil dort zugeht. Wenn man stattdessen von Transformation sprechen würde, dann würde einsichtig, dass zentrale Fragen der Ethik und des gesellschaftlichen Umgangs heute auch(!) jenseits der Gemeinden veritabel diskutiert werden. Anders als es Karl Barth mit seinem Modell von der Christengemeinde und der Bürgergemeinde[8] noch entworfen hat, ist die Christengemeinde heute nicht mehr das Zentrum der Bürgergemeinde. Die Kirchengemeinde war das noch nie. Man müsste Karl Rahners Idee vom anonymen Christentum aufgreifend heute noch einmal selbstkritisch untersuchen, wie sich eigentlich Kirchengemeinde und Christengemeinde zueinander verhalten. Oder, noch einmal mit Barth gesprochen:
Das sollte einen davor warnen, in der Blüte von Kirchengemeinden schon einen Segen zu sehen und in deren „Auszehrung“ einen Verlust. Der „Verlust der Grundwerte des Glaubens“ das ist so eine sozialdemokratisch inspirierte Floskel, die schon vor Jahrzehnten auf den entschiedenen Protest evangelischer Theologen gestoßen ist. Man könnte an Eberhard Jüngels Einwurf von der „Wertlosen Wahrheit“ aus den späten 70er-Jahren erinnern,[10] in dem er die Orientierung an den Werten für die christliche Wahrheitsfrage als „durchaus hinderlich“ bezeichnet hat. Zur Erinnerung aus der Einleitung:
Und das macht es zweifelhaft, ob unsere Aufgabe heute wirklich darin besteht „Anknüpfungspunkte zu schaffen zu dem, woraus sich Wertvorstellungen speisen und wodurch sie erneuert werden können.“ Ich glaube das nicht und will das auch nicht. Selfie-Bewusstsein und iPhone führen zu innere Vereinsamung und zur Verkümmerung menschlicher Beziehungen ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Menschen verachte, die so einen Schwachsinn erzählen. Sie wissen nicht einmal, wovon sie schreiben. Lassen wir einmal die Differenzierung von Smartphone und iPhone beiseite, manche Menschen kennen eben nur Nobelmarken.
Das Web 2.0 ich denke die Autoren haben davon schon mal was gehört war ja gerade Social Web, die Technik diente der Kommunikation, der Verabredung, der Herstellung von Gemeinsamkeiten. Die alte Technik das war der Vorwurf ist elitär und milieugebunden, das Web 2.0 durchbrach diese Grenzen und machte allen alles zugänglich. Die Gefahr dieser Technik liegt daher weniger darin, dass man sich auf sich selbst konzentriert, sondern dass man sich immer mit anderen in Beziehung setzt und vergleicht. Die Gefahr ist ironischerweise die Kommunikation, nicht die Isolation. Längst ist die Meme von der Vereinsamung vor dem Computer durch virtuelle Kommunikation empirisch widerlegt.
Mangelndes inneres Krisenmanagement das ist schon wieder so ein Jargon aus der Unternehmersprache, den ich als unangemessen für theologische Reflexionen empfinde. Wenn ich das Stichwort bei Google eingebe, dann lande ich bei Beratungen für Unternehmen: INNERES KRISENMANAGEMENT FÜR TOP-MANAGER. Ein unbewusst bleibendes inneres Krisenmanagement verzehrt die Energien, blockiert die Kreativität und führt in Projektteams lediglich zu Minimallösungen. Immer geht es um Leistungssteigerung, um Effizienz eben um Management. Ich bezweifle, dass besseres inneres Krisenmanagement zum Vertrauen auf Gott führt. Ich hätte im Gegenteil gedacht, beides schließt sich aus: entweder will ich etwas (mein Heil) selbst managen oder ich vertraue auf die zuvorkommende Gnade Gottes. Karl Barth hatte in dieser Sache mal das Bewusstsein der Differenz von Religion und Christentum geschärft. Ich bleibe dabei: ein besseres inneres Krisenmanagement führt gerade nicht zu Gott, sondern direkt von ihm weg.
Unsinnig scheint mir der Vergleich der Angst der Menschen in der Reformationszeit mit der Angst der Menschen in der Gegenwart. Da liegen Welten zwischen. Die Ängste der Menschen, die mit Pegida und AfD sympathisieren, haben mit den Ängsten der Menschen aus der Zeit Martin Luthers wenig gemein. Man sollte die Phänomene schon sorgfältig differenzieren und nicht durch vernebelnde Begriffe wie „Angst“ vermischen. Dies alles jedenfalls haben die Planer der Weltausstellung Reformation in Wittenberg und des Kirchentags nach Meinung der Kritiker nicht ausreichend berücksichtigt. Da stellt sich natürlich die Frage: Hätten sie es denn berücksichtigen müssen? Ich glaube das nicht.
Dieses Beispiel lässt sich natürlich dem Gegenstand entsprechend variiert auf die Reformationsfeiern übertragen. Man kann sich freuen, dass so ein unwahrscheinliches Ereignis wie die Reformation seinen 500. Geburtstag erlebt. Es gibt andere Kirchenaufbrüche, denen das nicht vergönnt war, die blutig niedergeschlagen wurden oder verkümmerten. Nicht so bei der protestantischen Aufbruchsbewegung vom Anfang des 16. Jahrhunderts. Eine Bewegung, die viel mit Individualität, mit Subjektivierung und Freiheit zu tun hatte. Das kann man feiern, ohne gleich im Stil der German Angst in allzu viele Bedenklichkeiten (was denkt Rom, was lief alles falsch, wo müssen wir uns ändern?) zu verfallen. Freilich, auch bei Geburtstagen hoch Betagter fragen wir: Was hast Du Dir für die nächste Zeit vorgenommen? Wenn man so den 500. Geburtstag der Reformation gefeiert hätte, dann wäre für alle viel gewonnen gewesen. Andererseits sollte man den 500. Geburtstag auch nicht größer feiern als etwa den 2000. Geburtstag anderer. Das wäre unangemessen. Und so ist es schon merkwürdig, dass 2000 Jahre Christentum mit weniger Aufwand gefeiert wurde als 500 Jahre Thesenanschlag. Da ist etwas aus dem Lot geraten. Man muss auch fragen, wenn etwas eine Gemeinschaftsleistung war, warum dann so penetrant ein einzelner bei den Feierlichkeiten in den Vordergrund gedrängt wurde. Wir feiern ja nicht den 500. Geburtstag Martin Luthers, sondern 500 Jahre Reformation die weltweit betrachtet eben nicht nur eine lutherische Reformation war. Also müsste in diesem Sinne der Jubiläumsanlass genauer bedacht werden. Aber wichtig scheint mir: die Idee, ein Jubiläum diene vordringlich der Selbstkritik und müsse auch so gefeiert werden, ist grundlegend falsch. Der Satz ...
... gilt eben immer(!) und steht nicht exklusiv im Zentrum einer Jubiläumsfeier. Das ist schlicht eine Kategorienverwechslung. Jesu Satz gilt alle Tage, auch, aber eben nicht nur am 31. Oktober 2017:
Alles, was Schorlemmer und Wolff danach als mögliche Anknüpfungspunkte auflisten, steht seit Jahrzehnten im Zentrum der Kirchentagsbewegung und gehört zu ihrer Erfolgsgeschichte und lässt sich ihr nun gerade nicht als Versäumnis vorhalten:
Gott: Dass von der Kirche die Gottesfrage ausgeklammert würde, dieses Argument gehört eigentlich in die Rhetorik der Evangelikalen und Fundamentalisten. Ich kann das nicht erkennen auf dem Kirchentag nicht und auf den Veranstaltungen zur Reformationsdekade auch nicht. Nebenbei bemerkt: Nur weil jemand laut Gott! Gott! schreit, redet er noch nicht von Gott und wenn jemand das Wort Gott nicht gebraucht, heißt es noch nicht, dass er nicht dennoch von Gott spricht. Da müsste man noch einmal genau hinschauen. Priestertum aller Gläubigen: Daran kann man den Kirchentag erinnern, muss es aber nicht. Vor allem sollten nicht vorrangig die Pfarrer diese Forderung aufstellen, etwas mehr Zutrauen zu den Gemeinden wäre schon gut. In Wittenberg haben sie mit den Füßen abgestimmt. Denken und Beten: Ach, wer wollte dagegen sein? Das werden auch die Gremienprotestanten für sich in Anspruch nehmen. Aber was heißt das? Bei Schorlemmer und Wolff folgen darauf nur einige dialektische Entgegensetzungen aber das heißt noch nicht denken und beten. Kirche: Hier scheint es mir auf den Tonfall anzukommen. Mir wäre „Gemeinde“ an dieser Stelle lieber gewesen. Denn der Text, der folgt, spricht im Wesentlichen von Gemeindeaktivitäten. Dann sollten wir das auch betonen. Ich: Diese Passage wiederholt nur, was man in jeder kirchlichen Broschüre findet. Ehrlich gesagt: ich finde das hohl und phrasenhaft. Und ständige Wiederholung macht es nicht besser:
Pluralität: Hier wird u.a. gefordert, dass Kirche alles dafür tut, damit ihre Mitglieder über den Glauben so selbstbewusst wie sprach-, diskussions- und auskunftsfähig sind. Auch das ist wieder eine sozialdemokratische Floskel, insoweit das die Subjekte als unmündige denkt. Es ist die Aufgabe der Gläubigen sprachfähig zu werden und zu bleiben, nicht die der Institution. Alles andere sind Betreuungsverhältnisse, mit anderen Worten: die alte protestantische Untugend des Helfersyndroms.
Gottesdienst: „Es wird darauf ankommen, dass die drei Alleinstellungmerkmale des Gottesdienstes gepflegt und belebt werden: Liturgie, Predigt, Musik“ schreiben die Autoren. Und schon wieder so ein Unternehmens-Slang: achtet auf eure Alleinstellungsmerkmale! Ich halte sie nicht einmal für zutreffend. Ritual, Wort und Klang finden an sehr vielen Orten dieser Welt statt ohne dass man zwingend an Gottesdienst denken müsste. Von wegen Alleinstellungsmerkmal. Das ist mehr Beschwörung als kritische Beobachtung der Wirklichkeit. Und es ist nichts, was man den Veranstaltern des Kirchentages und der Reformationsfeiern vorhalten müsste. Vermutlich wurden auch dieses Mal auf dem Kirchentag Liturgien erprobt und bewährte gefeiert, gepredigt und Musik aufgeführt. Was sonst?
Dass Schorlemmer und Wolff dabei dieselben Funktionalisierungsstrategien verfolgen wie die EKD-Funktionäre lässt sich an diesem Satz ablesen:
Warum aber sollte Kirche im öffentlichen Raum wahrgenommen werden? In meiner Bibel steht dergleichen nicht! Da steht etwas von froher Botschaft, von Exodus und Befreiung, von Sozialkritik und Bilderverbot, vom Kommen Gottes auf die Erde aber nichts davon, dass „Kirche im öffentlichen Raum wahrgenommen“ werden müsse. Das scheint mir durch und durch die Sprache von Funktionären zu sein. Selbstsäkularisierung scheint mir dagegen die zentrale Aufgabe der Kirche zu sein. Die Kirche nicht für etwas Heiliges zu halten genau das ist Protestantismus. Diesen ganzen Quatsch von der Heiligkeit der Kirche, ihrer Räume, der Würde und der Werte des Kirchlichen hören wir nun seit 30 Jahren wieder und wieder ohne dass es auch nur ein wenig plausibler würde. Heilig, heilig, heilig, heilig ist der Herr! ... sollten wir immer wieder singen und so kräftig zur Säkularisierung alles Anderen beitragen. Das ist Aufklärung, das ist Glauben mit Bildung gepaart. Dass es nicht Aufgabe der Kirche sein kann, um sich selbst zu kreisen, darin sind wir wiederum alle einig. Dann wird ‚katechismusartig‘ Glauben bestimmt. Aber wie immer müsste man bei diesem Katechismus um jedes Wort, ja jede Silbe ringen. Es fängt nämlich schon mit dem ersten Satz an: Der Glaube an den einen Gott. Er relativiert ... und man fragt sich: wer relativiert? Der Glaube? Gott? Und falls letzteres: Warum ist es ein Er? Und das geht dann Zeile für Zeile dieses Katechismus‘ weiter. Ich empfinde ihn als meilenweit hinter den aktuellen Diskussionen im weltweiten Protestantismus zurück. Da war man schon mal weiter. Es ist, als ob die Verfasser 30 Jahre lang geschlafen hätten. Auch so ein Satz wie:
Was unterscheidet diese Phraseologie bitteschön vom hirnlosen Geplapper von Kandidatinnen bei Schönheitsköniginnen-Wettbewerben, die jedesmal für den Weltfrieden eintreten? Darüber machte sich schon 2001 Sandra Bullock in Miss Undercover lustig.[12] Wer das Wort Gottes in Kirche und Welt verkündigt, sollte doch mehr zu sagen haben vor allem sollte er/sie mehr Sprachgewalt haben. Der abschließende Satz dieses Abschnitts könnte nun direkt aus Thies Gundlachs Papier zu den Leuchttürmen entnommen, um nicht zu sagen entsprungen sein:
Ich finde den Satz in seiner Unternehmersprache einfach nur schrecklich und akzentuiere ihn mal im Sinne von Lyotards Kritik an Habermas:
Das möchte ich an zwei Punkten aus dem letzten Abschnitt verdeutlichen:
Die schwache und kleinbürgerliche Variante höre ich oft von Pfarrerinnen und Pfarrern ebenso wie von Lehrerinnen und Lehrern: dass die Menschen, mit denen sie es jeweils zu tun haben, die biblischen Geschichten nicht mehr kennen. Die starke und religiöse Variante würde aber bedeuten: dass die Menschen das in den biblischen Erzählungen Inkorporierte nicht mehr verstehen und leben können. Ersteres sehe ich, letzteres nicht. Ich glaube also, dass die Klage über den biblischen Analphabetismus bei Schorlemmer und Wolff im Wesentlichen kleinbürgerlicher Natur ist. Da würde ich dann doch die alte Lehre vom Logos Spermatikos stark machen. Nur weil jemand die biblische Geschichte nicht kennt, heißt das nicht, dass er das damit Bezweckte nicht leben könnte.
Müsste man da nicht noch einmal die Reflexionen der Cultural Studies durchgehen?[13] Müsste man nicht ehrlicherweise sagen: „Es gibt mehr Ding’ im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt, Horatio“? Die Diskussion um das Wissen, seine Verbreitung und Aneignung ist viel zu komplex, um sie wie in der frühen Neuzeit den Theologen zu überlassen. Im Kern geht es um die Informationsexplosion der letzten 100 Jahre. Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen inzwischen etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt, wobei sich diese Rate noch beschleunigt. Dann muss man den Menschen aber auch sagen, was sie getrost vergessen dürfen und nicht immer neue Messlatten des Anzueignenden aufstellen. Die Zeiten, in denen es für das Überleben in der eigenen Gesellschaft ausreichte, sich Teile der biblischen Schriften am Lagerfeuer zu erzählen, sind lange vorbei. Es reicht nicht, nur über Verluste zu klagen, man sollte auch den Reichtum benennen, den wir gewonnen haben. Statt also einen Missstand zu konstatieren, sollte man erst einmal schauen, welcher Gewinn in der neu entstandenen Situation besteht.
Nächster Punkt: das Personal der Kirche, auch hier gibt es etwas zu mäkeln.
Ansonsten ist dieser Tonfall durch und durch reaktionär. Ich kenne ihn aus den Kommentarspalten bei Idea, wenn Evangelikale über die Landeskirchen schimpfen. Da wird dann auch fröhlich gegen die von den Pfarrern und Pfarrerinnen gepflegte „spirituelle Kompetenz“ gewettert und die natürlich fehlende geistliche Substanz beschworen. Wolff und Schorlemmer fordern noch mehr, nämlich persönliche Ausstrahlung. Ernsthaft? War die biblische Tugendlehre nicht eher eine umgekehrte?
Mir persönlich ist das Martin Luther zugeschriebe Motto lieber: Es ist besser, ein Sünder predigt das Evangelium als ein Heiliger. Beim Sünder rechnet man es Gott an, beim Heiligen dem Heiligen. Dass nun aber auch noch das Führerprinzip, oh Entschuldigung: das Führungsprinzip zur Geltung kommt, ist nun wahrlich grotesk. Was unterscheidet das noch vom Amtsbegriff der katholischen Kirche? Auch da ist der Priester aus der Gemeinde herausgehoben. Da würde ich dann doch sagen: lieber etwas weniger lutherische und sehr viel mehr reformierte Reformation. FazitDie Kritik der Reformationsfeierlichkeiten im vorliegenden Papier will nicht recht überzeugen. Sie ist aufgeblasen und pathetisch, eigentlich Hybris. Sie wertet das Gute nicht recht (zehn Jahre thematische Auseinandersetzungen in den Gemeinden) und fokussiert sich auf das Schlechte (die Jubelfeier des Gremienprotestantismus). Dass letztere gescheitert ist, räumen selbst die Initiatoren ein.
Supplement
"Alles ist häwäl: Alles ist nichts" werden sich die Organisatoren des Reformationsjubiläums inzwischen auch sagen. Vermutlich haben sie es gut gemeint, aber leider nicht gut bedacht und noch schlechter gemacht. Es ist aber die Aufgabe der kritischen Masse der Protestanten, hier in der Zukunft Abhilfe zu schaffen. Nachdem die Institution gescheitert ist, kann nun das Subjekt wieder stärker in den Vordergrund treten. Das wäre ja kein schlechtes Ergebnis dieser zehn Jahre. Anmerkungen[1] Vgl. http://www.idea.de/frei-kirchen/detail/systematischer-fehler-bei-erwartungen-zur-weltausstellung-reformation-102595.html [2] Lange, Sabrina (2016): Erwartungsmanagement in Projekten. Erfolgreiche Methoden und Fallbeispiele - nicht nur für IT-Projekte. Wiesbaden: Springer Vieweg. [3] C. Moser, zitiert nach Sabrina Lange, a.a.O., S. 8. [4] Vgl. Pollack, Detlef; Pickel, Gert (1999): Individualisierung auf dem religiösen Feld. In: Honegger, Claudia; Hradil, Stefan; Traxler, Franz (Hg.): Grenzenlose Gesellschaft? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 623642. [5] Ebach, Jürgen (2017): Mehr Bibel oder mehr Luther? Beobachtungen und Impressionen zur neuen Revision der Lutherbibel. Abrufbar unter https://www.bibel-in-gerechter-sprache.de/juergen-ebach-ueber-die-neue-revision-der-lutherbibel/ [6] Schorlemmer, Friedrich; Wolff, Christian (2017): Reformation in der Krise. Wider die Selbsttäuschung. Ein Memorandum zum Reformationsfest 2017. Wittenberg. Online abrufbar unter http://wolff-christian.de/reformation-in-der-krise-wider-die-selbsttaeuschung/ [7] http://www.mz-web.de/wittenberg/schwerter-zu-pflugscharen-skulptur-fuer-ddr-friedensbewegung-eingeweiht-26141728 [8] Barth, Karl (1989): Rechtfertigung und Recht. Christengemeinde und Bürgergemeinde. 4. Aufl. Zürich: Theol. Verl. (Theologische Studien, 104). [9] Barth, Karl (1949): Dogmatik im Grundriss im Anschluss an das apostolische Glaubensbekenntnis. 2. Aufl. München: Kaiser. S. 171. [10] Jüngel, Eberhard (1979): Wertlose Wahrheit. Christliche Wahrheitserfahrung im Streit gegen die »Tyrannei der Werte«. In: Schmitt, Carl; Jüngel, Eberhard; Schelz, Sepp (Hg.): Die Tyrannei der Werte. Hamburg: Luther. Verl.-Haus, S. 4576. [11] Ebd. [12] "Was ist das Allerwichtigste? Was fehlt unserer Gesellschaft heutzutage?" "Ich würde sagen: Härtere Bestrafungen für die Verletzung von Bewährungsauflagen...(Stille im Publikum)... und Weltfrieden."(Jubel) [13] Fiske, John (2003): Lesarten des Populären. Unter Mitarbeit von Christina Lutter, Markus Reisenleitner und Stefan Erdei. Wien: Löcker (Cultural studies, 1). Vgl. Auch Mertin, Andreas (2012): Reading the popular. Oder: Was kann die Sprache der Liturgie von der Massenkultur lernen? In: Meyer-Blanck, Michael (Hg.): Die Sprache der Liturgie. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, S. 139154. [15] Einleitende Bemerkung von Dieckmann zu Kohelet in Bail, Ulrike; Crüsemann, Frank; Crüsemann, Marlene, et al. (Hg.) (2007): Bibel in gerechter Sprache: Gütersloher Verlagshaus. S. 1329 |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/110/am606.htm |