Wer ist schuld? – 03. Oktober 2017

Unter der plakativen Überschrift "Regierung ist selber schuld, dass die AfD im Bundestag sitzt" zitiert Idea den Politikwissenschaftler Werner Patzelt folgendermaßen:

"Wer nicht mehr im „Mainstream“ habe mitschwimmen wollen, sei als dumm oder rassistisch erklärt worden. Das Wahlergebnis sei die Quittung dafür. Ein Beispiel sei die Flüchtlingsfrage. So habe Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) in einer Rede gesagt, wer sich über die Zuwanderung Sorgen mache, sei jemand, der Kälte und Hass im Herzen trage."

Nun ist die Schwafelei, die von Merkel beschworene "Humanität" sei bloß Mainstream, schon schwer erträglich. Wenn Menschen sterben, kann man nicht sagen, man müsse nun auch jenen zuhören, die sagen: lasst sie doch einfach sterben. Man muss handeln. Denn darum ging es ja 2014 und 2015. Schwer im Zweifel bin ich aber, dass der von Patzelt Angela Merkel unter geschobene Satz jemals gefallen ist. Ich habe ihn nicht verifizieren können. Daher würde ich gerne wissen, wo und wann die Kanzlerin konkret gesagt hat, "wer sich über die Zuwanderung Sorgen mache, sei jemand, der Kälte und Hass im Herzen trage".

Und bitte keine Schwurbeleien, das mit der Kälte und dem Hass habe sie doch gesagt und die Zuwanderung habe sie gemeint. Nein, so ist das nicht. Es ist üble Nachrede. Schon 2014 sagte Angela Merkel in der Silvesteransprache, man solle denen nicht folgen, die sagen "Ihr gehört nicht dazu - wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion" und sie fügte hinzu: "Folgen Sie denen nicht, die dazu aufrufen - denn zu oft sind Vorurteile, ist Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen." Das hat überhaupt nichts mit Sorgen wegen Zuwanderung zu tun, sondern mit der Ausgrenzung von Menschen aus rassistischen und religiösen Gründen. 2015 - im Jahr der großen Flüchtlingskrise - hat Angela Merkel diesen Satz wiederholt: „Es kommt darauf an, denen nicht zu folgen, die mit Kälte oder gar Hass in ihren Herzen ein Deutschsein allein für sich reklamieren und andere ausgrenzen wollen.“ Auch hier geht es nicht um Sorgen wegen der Zuwanderung, sondern um Ausgrenzung. Wenn jemand verantwortlich für den Erfolg der AFD ist, weil er Humanität einklagt, dann sollte er stolz darauf sein. Der Erfolg der AFD zeigt, wie stark die Inhumanität in dieser Gesellschaft verbreitet ist. Nicht mehr - nicht weniger.


Schlagstöcke – 05. Oktober 2017

Im führenden Magazin für gezielte Desinformation und gesellschaftliche Verunsicherung lese ich gerade, Deutschland sei inzwischen "zum Verzweifeln". Kurz vor dem Abgrund sozusagen. Und warum meint der Herausgeber dieser Online-Postille, sei dies so?

Montagnacht haben in Düsseldorf zwei Gruppen Jugendlicher wahllos dort wartende Fahrgäste zusammengeschlagen. Drei Opfer wurden dabei schwer verletzt. Im Stadtteil Eller, wo der Gewaltausbruch passierte, herrscht jetzt Angst, keiner weiß, ob sich das wiederholen wird.

Ja, da kann einen schon die Panik überkommen. Noch nie hatten wir in Deutschland solche schrecklichen Zustände. Schläger, die auf unschuldige Passanten einschlagen. Fast wie in der Weimarer Republik. Allerdings gibt es da noch die Meldung der Polizei und dort stellt sich das Ganze etwas anders dar:

In seiner Vernehmung gab der Zeuge gestern an, dass er auf dem Bahnsteig einen Streit zwischen dem Geschädigten und dem Tatverdächtigen beobachtet habe. Der Zeuge kenne beide Parteien und habe versucht zu schlichten. Im weiteren Verlauf habe der Geschädigte einen Schlagstock hervorgeholt, sei aber dann von dem Täter niedergeschlagen worden. Unmittelbar habe der 21-Jährige dem am Boden liegenden Opfer gegen den Kopf getreten, den Schlagstoff ergriffen und damit auf den Hinterkopf des Geschädigten geschlagen.

Halten wir fest: es waren zwei Personen, die zunächst miteinander stritten. Der Schlagstock, der dann zum Einsatz kam, stammt vom späteren Opfer. Das rechtfertigt nicht die Gewalttat des inzwischen verhafteten Intensivtäters. Aber es macht die Behauptung lächerlich, hier seien harmlos wartende Passanten zum hilflosen Opfer jugendlicher Gewalttäter geworden. Wer das behauptet, will nur diffuse Ängste schüren und die Menschen verunsichern. Und ja, so etwas wird sich wiederholen. So wie sich Derartiges in den letzten 40.000 Jahren in Europa immer wieder mal wiederholt hat. Der Mensch ist ein überaus aggressives Tier. Der Vorfall in Düsseldorf ist dabei nur ein harmloses Beispiel. Wie wäre es stattdessen mit der Erinnerung an die Pogrom-Nacht, an die Bartholomäus-Nacht und viele andere Ereignisse, in denen nicht nur einzelne versagten, sondern ganze Gesellschaften auf Andersdenkende und anders Glaubende einschlugen. Und wir beginnen gerade, mit Hilfe von AfD und Pegida das noch einmal zu wiederholen. Davor habe ich viel mehr Sorgen.


Lernen heißt siegen - 16. Oktober 2017

Manchmal beschleicht mich der Gedanke, das reaktionäre Revolverblatt The Germanz sei in Wirklichkeit ein linksradikales Kunstprojekt. Wie sonst soll man es sich erklären, dass andauernd Metaphern und Vergleiche gewählt werden, die - wenn man an ihre ursprüngliche Bedeutung denkt - auf das Gegenteil dessen hinauslaufen, auf was die Autoren bei The Germanz eigentlich hinaus wollten.

Aktuell meint der Herausgeber vertreten zu müssen: "Von Sebastian Kurz lernen, heißt siegen lernen!" Nun zitiert er dabei ja ein geflügeltes Wort und das kann nicht einfach wie eine sprachliche Neuschöpfung behandelt werden, sondern es schleppt einen Kontext mit sich. In diesem Falle die ‚ruhmreiche‘, inzwischen natürlich untergegangene Sowjetunion. In der DDR machte man aus dem Satz das ironische "Von der Sowjetunion lernen, heißt siechen lernen". Was also sinnt uns The Germanz an? Dass Sebastian Kurz ebenso wie die Sowjetunion untergehen wird und sich in seine Bestandteile auflöst? Dass es nicht sinnvoll ist, von Sebastian Kurz zu lernen, denn wie das Beispiel der UdSSR zeigt, führt das zu nichts Gutem? Wenn man sich an Sebastian Kurz orientiert, wird man - wie die DDR - keine Zukunft haben? Wie man es dreht oder wendet - es bleibt bitterste Ironie.


Gute Nachrichten – Eine Grabrede - 20. Oktober 2017

Nicht einmal Atem für ein Jahr Online-Journalismus hat die reaktionäre Postille The Germanz gehabt, die Ende 2016 mit großen Worten zur Rettung der Meinungsvielfalt im deutschen Journalismus angetreten war. Eine Herzensangelegenheit sei ihnen, so tönte es, die richtigen Werte unter die Deutschen zu bringen. Meinungsstark und objektiv sei man. 

Schnell wurde klar, dass weder das eine noch das andere zutraf. Meinungsstark kann man nur sein, wenn man nicht einfach Vorurteile unter das Volk bringt, sondern seine Meinung auch mit Argumenten begründet. Das fand hier nicht statt. Von Objektivität habe ich bei dieser Online-Zeitung über 350 Tage nichts bemerkt. Urteile vor Fakten - das war das Motto. Für die bürgerliche Mitte wollte man schreiben und fand doch die Kanzlerin der CDU/CSU linksradikal. Da muss man schon weit am rechten Rand unserer Gesellschaft sein. Für Werte wollte man eintreten und hetzte doch gegen Muslime und Ausländern. Ein Vorbild wollte man sein und schrieb doch voller Rechtschreibfehler und Flüchtigkeiten. Ein Leichtes, beinahe auf jeder Seite Fehler zu finden. Wenn das die beschworene bürgerlicher Kultur ist - dann gute Nacht. In der Sache betrieb man Raubbau an der bürgerlichen Welt, indem man Misstrauen säte in unsere Rechtskultur, selbstverständliche Standards des humanen Miteinanders aufkündigte und alles tat, damit ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen nicht möglich wurde. Deshalb ist es gut, dass dieses Projekt jetzt gescheitert ist und in der virtuellen Papiertonne landet.


Grabreden – Es gibt nichts Gutes – 25.Oktober 2017

Seitdem die reaktionäre Postille The Germanz ihr Ende angekündigt hat, bemühen sich ihre Autoren, in der verbleibenden Zeit den Leserinnen und Lesern klar zu machen, warum das Projekt ein durch und durch unsinniges war. Aktuell müht sich ein Gastkommentator namens Moritz Breckner darum nachzuweisen, dass der Slogan „Heute leben wir im schönsten und besten Deutschland, das wir je hatten“ aus dem Wahlprogramm der CDU mit der Wirklichkeit kollidiert. Nun sind Einordnungen wie „im schönsten und besten“ im Zweifelsfall immer problematisch, weil sie eines Referenzrahmens bedürfen, der einen in die Lage versetzt, den Gebrauch des Superlativs zu beurteilen. Da der Gastautor den Slogan auf Angela Merkel bezieht, erlaube ich mir, den Satz des Wahlprogramms dahingehend zu interpretieren, dass das Deutschland, in dem wir leben, besser ist als jenes Deutschland, das die Kanzlerin von ihrem Vorgänger übernommen hat. Nur dann ist der Stolz darauf ja auch berechtigt. Angela Merkel wurde 2005 Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland. Wenn wir uns nicht auf diffuse Gefühlswelten verlassen wollen (ich fühle mich aber heute schlechter als 2005) und nicht kontingente Tagesereignisse für Geschichtsindikatoren halten wollen (heute wurden die Preise für Äpfel erhöht, also geht es der Welt schlechter), dann helfen uns tatsächlich nur Statistiken.

Unser Gastautor verweist in seiner Gegenargumentation darauf, dass in einem Bezirksmuseum von Berlin eine Ausstellung gezeigt werden soll, die sich mit Drogendealern und ihrer Biographie beschäftigt. Seine Infos darüber hat er aus der BILD-Zeitung. Da muss die Welt natürlich schlecht erscheinen. Mir war bisher nicht klar, dass für seriöse Journalisten die BILD-Zeitung als verlässliche Quelle gilt. Nicht einmal Springer-Journalisten glauben das. Zumindest nachprüfen müsste man doch, was wirklich Fakt ist. Die Ausstellung selbst versucht, der Biografie von Kriminellen nachzugehen. Daran ist nichts Ehrenrühriges. Ganz im Gegenteil. Inwiefern das bedenklich sein sollte erschließt sich mir nicht. Das einzige, was problematisch erscheint, ist ein Zitat, das die Dealer positiv zu würdigen scheint – allein, ich konnte es auf den Ausstellungsseiten nicht verifizieren. Ich würde also gerne wissen, wo es herstammt, wer es gesagt hat und in welchem Kontext. Gegen das Motto des CDU-Wahlprogramms spricht die Ausstellung eigentlich nicht. Als zweites benennt der Gastautor einen Überfall auf eine Joggerin in Bottrop. Um zu überprüfen, ob so etwas häufiger vorkommt, gibt er das Wort „Joggerin“ in der Google-News-Suche ein. Spätestens an der Stelle hätte ich ihn aus meiner Redaktion entfernt, das ist journalistisch völlig unseriös. Seriös wäre es, der Statistik von Bedrohungen von Leib und Leben in der Zeit zwischen 2005 und 2016 nachzugehen. Ist die Zahl der Bedrohungen und Gefährdungen gestiegen oder gesunken? Im Blick auf die Mordopfer gilt das schon einmal nicht. 2005 meldet die Statistik 413 Mordopfer in Deutschland, 2015 296, aber 2016 tatsächlich 373 – so viel wie seit 2005 nicht mehr. A la long ist freilich die Zahl der Mordopfer in den letzten Jahrzehnten gefallen. Ähnliches gilt – sieht man einmal von den Wohnungseinbrüchen ab – von fast allen kriminellen Akten – selbst im Blick auf Terroropfer. Deutschland ist ein sicheres Land. Freilich: auch an dem Tag, den der Gastautor zum Kriterium macht, sterben der Statistik nach 10 Menschen durch den Straßenverkehr – aber spätestens wenn man das erwähnt, wird man in The Germanz als Kulturrelativist denunziert. Der nächste Punkt auf der Liste unseres Kritikers ist besonders lustig: der Strompreis wird steigen! Ja hoffentlich, kann man da doch nur sagen, denn Deutschland wird die Ziele zur Rettung unserer Umwelt und des Klimas deutlich verfehlen. Es ist also wichtig, Energie zu verteuern. Das scheint mir eher ein Beitrag zur schönen Welt zu sein. Bleibt noch schließlich die Meldung von einer Razzia in Berlin, bei der die Polizei erfolgreich ein Waffenlager ausgehoben hat. Auch das scheint mir eher für als gegen die gegenwärtige Situation in Deutschland zu sprechen. Die Arbeit der Polizei funktioniert. Unser Autor sieht das anders:

Vier Meldungen eines ganz normalen Mittwochs in einer Nachrichtenredaktion. Es waren nicht die einzigen Nachrichten des Tages, es ist auch viel Schönes und Gutes passiert. Doch ob wir gerade im „schönsten und besten Deutschland, das wir je hatten“ leben – es bleiben Zweifel.

Von den vier Meldungen (es gibt eine Ausstellung, eine Frau wurde zusammengeschlagen, die Strompreise steigen, die Polizei hat einen Verbrecher verhaftet) ist also nur eine schrecklich – alle anderen scheinen mir eher positiv. Sie zeugen für Meinungsvielfalt, ökologische Steuerungsmaßnahmen und gute Polizeiarbeit. Was will man mehr?

Die CDU hat schließlich nicht behauptet, dass alle Lebensrisiken ausgeschaltet seien, wir leben nicht in der besten aller denkbaren Welten. Wahrlich nicht, denn darin gäbe es keine Postille namens The Germanz. Aber dass die Fakten eher dafür sprechen, dass – anders als noch zu Zeiten des Kalten Krieges – wir uns heute sicherer fühlen können, kann kaum bestritten werden. Und selbst in Fragen des Lebensschutzes, der ja einigen auf The Germanz so wichtig zu sein scheint, sind seit 2005 die Dinge zumindest empirisch deutlich besser geworden: 685.000 Lebendgeburten gab es in dem Jahr, als Angela Merkel Kanzlerin wurde und 124.000 Abtreibungen. 2015, dem Jahr der letzten Erhebung, gab es 737.000 Lebendgeburten und 99.000 Abtreibungen. Wenn ich es recht sehe, ist die Zahl der Lebendgeburten um 9% gestiegen, die der Abtreibungen um 20% gesunken. Da wäre es doch mal Zeit, dass The Germanz die Kanzlerin lobt – und wenn es den Kollegen noch so schwer fällt: „Heute leben wir im schönsten und besten Deutschland, das wir je hatten“. Nicht dass mich jemand missversteht: Ich bin nicht der Ansicht, dass wir in guten Zeiten leben. Das Erstarken der rechten Ränder in unserer Gesellschaft und der populistischen Tendenzen weltweit gibt Anlass zu großen Sorgen. Der Clash of Civilisation, der von Rechten wie von Islamisten betrieben wird, muss uns zutiefst beunruhigen. Dass einige ein großes Interesse daran haben, die Konflikte zu befeuern und Ängste zu schüren, statt nach Lösungen zu suchen, die nicht bewusst Menschen ausgrenzen und verletzen – auch das kann nicht im Sinn der Sache sein. Aber die Dinge schlimmer darzustellen als sie sind, dient der Sache nicht. Die Islamisten greifen uns nicht an, weil wir in der schlechtesten aller Welten leben, sondern in der freiesten. Wenn das so ist, heißt das, wir dürfen die Freiheit nicht einschränken, sondern müssen sie leben.


Falsche Therapien – 27. Oktober 2017

Idea berichtet mit einer gewissen Genugtuung, dass die Zahl der Kirchenmitglieder der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesi­sche Oberlausitz unter eine Million gesunken ist. Das ist sicherlich tragisch und ein Moment einer gesamtgesellschaftlichen Entwicklung, die in der Abwendung von Institutionen besteht. Jedenfalls lässt sich dieses Phänomen auch bei Parteien, Gewerkschaften oder Zeitungen beobachten. Die Menschen sind immer weniger institutionenabhängig und jene, die bisher vor allem aus sozialer Konformität Angehörige einer Institution waren, verlassen diese nun. So weit, so schlecht. Aber es war klar, dass die Kirchenkritiker unter den Idea-Lesern sofort eine Diagnose und eine Therapie kannten. Und die lautet so:

Wenn die Kirchen aufhören, (nur noch) Sozialpolitisches den Parteien nachzuplappern, aufhören, nicht mehr zu bieten als jede/r in der täglichen Tagesschau und heute-Sendung sehen kann - dann werden auch die Kirchen wieder voll!

Sancta simplicitas! Wenn es denn so einfach wäre! Warum da noch niemand drauf gekommen ist? Und wir sehen ja an den Freikirchen und den selbständigen Lutherischen Kirchen wie gut das funktioniert. Während die Landeskirchen seit Jahrzehnten dahin siechen, sind die Freikirchen und die SELK in Deutschland inzwischen fast so groß geworden wie die EKD - wie man an diesem Schaubild sieht:

Wie kommt das? Die anderen evangelischen Gruppierungen, die das reine evangelische Evangelium verkünden, nehmen einfach nicht zu? Sie nehmen vielmehr seit Jahren ebenfalls kontinuierlich ab? Und sie wissen auch nicht, woran das liegt? Offenkundig kann es ja nicht an der von ihnen nicht gepflegten sozialpolitischen Plapperei liegen. Wie man es dreht und wendet: die Kirchen werden nicht voll, nur weil man das Programm oder die Rhetorik ändert. Das ist Wishfull Thinking und verkennt die gesellschaftliche Realität.


Lob der Torheit – 27. Oktober 2017

Die konservativen Katholiken ärgern sich über ihren progressiven Papst und beschimpfen ihn als autoritär und ultramontanistisch. Ach, was für ein schönes Affentheater. Und in den Leserkommentaren geifern sie und schlagen Therapien vor, die letztlich alle auf das Abschaffen des Denkens und der Vernunft hinauslaufen. Da schreibt einer:

Es würde genügen, die Bibelwissenschaft zu reformieren
Die Irrtümer und Ideologien der Neuzeit in Mitteleuropa seit dem Ende des 18.Jh. gehen einher mit der mitteleuropäischen Bibel"wissenschaft", einer Disziplin von Spekulationen und politischen Zielsetzungen, die vorgibt sich der Analyse zu bedienen. Über zwei Jahrhunderte hinweg hat man die Datierung der Evangelium bis weit ins 2.Jh. betrieben. Ein markantes Ziel: anti-semitische Gesellschaftsmodelle zu etablieren. Ein weiteres: säkuar-politische Strömungen zu legitimieren. dann kam am Ende des 20.Jh die Archäologie und stellte fest: die Evangelium sind viel früher zu datieren - ein Befund der außerhalb des dt. Sprachraums nie umstritten war. Es gibt heute auch in D Autoren, die Joh. in die 30er Jahre datieren (den Prolog in die 60er), Matth. ebenso, Markus in die 40er und Lukas in die 50er. Die meisten pol. Fehlentwicklungen in der Kirche fußen auf der dt. Bibelfälschung. Es wäre an der Zeit hier die Wahrheit zu erklären - das würde viele unsinnige Reformen unnötig machen.

Ja, und Jesus wurde von einer Jungfrau geboren. An dem Leserkommentar ist so ziemlich alles falsch, was nur falsch sein kann. Man könnte auch sagen: es ist schlicht gelogen. Auch im außerdeutschen Sprachraum meint kein ernsthafter Forscher, Matthäus sei früher als 80 oder 90 nach Christus zu datieren. [Most scholars believe the Gospel of Matthew was composed between AD 80 and 90, with a range of possibility between AD 70 to 110]. Die Archäologie datiert das älteste vorfindliche Fragment des Johannes-Evangeliums ins frühe 2. Jahrhundert. Ja, es gibt Spinner, die von vornherein davon ausgehen, dass die historischen Argumente nicht anzuwenden sind und deshalb Frühdatierungen möglich seien. Aber es nimmt sie keiner ernst - auch nicht außerhalb Deutschlands. Es gibt auch Menschen, die glauben, der Evangelist Lukas habe die Madonna gemalt. Aber auch das ist für jeden vernünftigen Menschen Unsinn.

Hinter dem Geraune steckt aber ein anderer Wunsch - der Wissenschaft den Mund zu verbieten. Sie darf nicht nachdenken, keine eigenen Schlüsse ziehen, sie muss: unwissenschaftlich sein. Das ist genau das, was die Gegner der akademischen Theologie dieser immer vorgehalten haben. Die konservativen Katholiken erhoffen sich eine Theologie, die an Universitäten nichts mehr zu suchen hat. Da sind sich dann die Humanistische Union und die Traditionalisten einig.


Pressefreiheit – 16. November 2017

Die EKD-Synode hat einen lange schon fälligen Schritt vollzogen. Sie hat den automatischen Geldstrom an die evangelikale Plattform idea für die nächsten Jahre zunächst gedrosselt, später wird er abgedreht. Nicht länger wollte die EKD einsehen, dass ein Medienzentrum, dessen einziges Interesse es war, auf die EKD einzudreschen, auch noch von ihr finanziell unterstützt werden soll. Es wäre so, als ob die Bundesregierung RT deutsch Jahr für Jahr mit 200.000 Euro unterstützen würde - weil die ja auch ein deutschsprachiges Presseorgan seien. Nein, idea verdient keine Unterstützung durch die EKD. Die spürbare Nähe zur Jungen Freiheit, zu manchen Positionen der AfD und die unausgewogene Kritik an allem, was bei der EKD gedacht wurde, disqualifizierten die Plattform und ihre Elaborate für eine landeskirchliche Unterstützung. ich hoffe, dass nun auch die einzelnen Landeskirchen nachziehen. Es wird Zeit.

Nun schreien natürlich jene auf, die bisher idea als Megaphon genutzt haben, allen voran der Vorzeige-Evangelikale Peter Hahne. Ein Angriff auf die Pressefreiheit sei das. Die EKD sei mit Orban vergleichbar, quasi ein Diktator. Nein, genau das ist es nicht. Ganz im Gegenteil. Bisher konnte man Idea vorhalten, von der EKD korrumpiert zu sein, weil diese ihr Jahr für Jahr Hunderttausende zuschob. Damit ist es jetzt vorbei. Jetzt ist idea wirklich frei und kann schreiben, was immer es möchte. Es ist nun kein von der EKD finanziertes Presseorgan mehr. Und die EKD ist frei von dem Verdacht, eine Publizistik zu befördern, die mehr mit der Jungen Freiheit verband als mit der EKD. Eine win-win-Situation.

Und noch eins: Lange schon hat sich der evangelikale Diskurs von außerhalb der Kirchen in die Landeskirchen verschoben. Wer religiös konservativ ist, engagiert sich in den Landeskirchen und findet dort auch ausreichenden Resonanzraum. Es bedarf nicht mehr der aggressiven Polemik derer, die nicht nur insgeheim den Untergang der EKD ersehnen, weil sie diese für einen Ausdruck des Bösen halten. Wer regelmäßig die Leser-Kommentare unter den Berichten von idea liest, kann schnell erkennen, dass sich hier jene artikulieren, die mit der EKD nur noch Hass verbinden. Ich habe öfter in den Leserkommentaren von Idea die Aufforderung zum Austritt aus der EKD gelesen als auf den Seiten der Humanistischen Union. Dass auch die Evangelikalen in der Synode für die Drosselung und Einstellung der Förderung für idea gestimmt haben (es gab nur eine Enthaltung), spricht Bände. Feige nennt Peter Hahne sie - ich nenne sie ehrlich und konsequent. Idea hat nichts anderes verdient, als sich ihre Förderer in der eigenen Klientel zu suchen statt bei denen, die sie immer bekämpften.


Lügenbold – 28.11.2017

Im reaktionären katholischen Portal kath.net tobt gerade wieder eine Schlacht um "Gender". Ein Politiker der rechten FPÖ hatte die Einheitsübersetzung der katholischen Bischofskonferenz als gegenderte Bibel denunziert. Nun hatte er sie gar nicht studiert, sondern nur aus dem Hörensagen argumentiert. Aus Gender-Gründen sei in der Bibel von einer Apostelin die Rede (freilich taucht das Wort in der Einheitsbibel nicht auf). Er meint Junia, die Mitgefangene des Paulus, die schon Chrysostomos so charakterisiert: „Wie groß ist die Tugend dieser Frau, dass sie würdig gewesen ist, Apostel genannt zu werden“. Und noch einige andere Kirchenväter hat der gute Politiker als Zeugen gegen sich. Erst im 13. Jahrhundert beginnt man(n) aus durchsichtigen Gründen, aus der Junia einen männlichen Apostel zu machen. Die Orthodoxen sehen das anders, wie die Darstellung der nebenstehenden Ikone zeigt. Vermutlich kann man bei einem FPÖ-Politiker keine sorgfältige Bibellektüre voraussetzen, er muss halt Politik betreiben.

Unter den Kommentaren bei kath.net ist nun einer, der heraussticht, weil er verschiedene Behauptungen aufstellt, die sich schnell überprüfen lassen. Er schreibt:

Dieses Machwerk läuft unter Familienbibel und wird speziell für Familien angepriesen. Das Bibelwerk betont, es gehe ihm um „Gender-Gerechtigkeit“. Was nun? So wird dann das griechische Adelphoi (Brüder) plötzlich auch als Schwestern gelesen. Aus den von Jesus Christus vollbrachten Wundern werden „Machttaten“.  Daß Jesus der Sohn des lebendigen Gottes ist findet keine Erwähnung, wichtiger dagegen seine „Erzählkunst“ zu betonen, als wäre er ein Märchenonkel. Der Verrat von Judas wird nicht erwähnt. Offenbar findet mit Billigung des Ortsbischofs, die Texte sind für den Gebrauch in Gottesdiensten vorgesehen, eine Umerziehung im Glauben statt. Familientauglich oder glaubensfördernd ist dieser Quatsch nicht. Wer noch keine Nachwuchsprobleme in der Kirche hat, schafft sie sich. Oder soll diese `Familienbibel` gar als Märchenbuch herhalten?

Familienbibeln sind, was jeder weiß, der mit der Bibel groß geworden ist, solche Bibeln, in denen der Besitzer seine Familie in diversen Tafeln einträgt, also eine Art Abstammungsverzeichnis (m.a.W. ein Hausbuch). Sie sind inhaltlich nicht anders als andere Bibeln, haben nur ein paar Seiten mehr. Dumm wenn man das nicht weiß. Das Katholische Bibelwerk betont nun keinesfalls, dass es um Gender-Gerechtigkeit geht - das ist frei erfunden. Das mit Jesu Wundern, die zu Machttaten werden, lässt sich überprüfen: 85 Fundstellen meldet die App für das Wort Wunder, darunter Mt 21,15, Joh 4,48, Apg 2 sowie 2. Kor 12,12 und Hebr 2,4. Tatsächlich kommen auch die Machttaten vor, meine App benennt 19 Fundstellen. Unter anderem Apg 2, 22: Jesus, der Nazoräer, einen Mann, den Gott vor euch beglaubigt hat durch Machttaten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn  in eurer Mitte getan hat ... Schon wieder gemogelt. Dass Jesus der Sohn des lebendigen Gottes ist, hebt die Einheitsübersetzung in Mt 16,16 hervor: Du bist der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes! Schon wieder lügt der Kommentator. Und was ist mit dem verschwiegenen Verrat des Judas? Lk 6, 16 lautet in der neuen Einheitsübersetzung: Judas, der Sohn des Jakobus, und Judas Iskariot, der zum Verräter wurde. Also schon wieder eine Lüge des Kommentators. So wenige Zeilen Kommentar und gleich so viele Lügen. Märchen erzählt hier nur einer: der Pinoccio-Kommentator mit dem Kürzel IMEK. Er muss inzwischen eine ganz, ganz, ganz lange Nase haben. Fragt sich, warum er die Einheitsübersetzung des katholischen Bibelwerkes derartig mit Lügen diskreditiert. Du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten aussagen - steht in meiner Schrift. Bei IMEK muss irgendetwas anderes stehen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/110/am608.htm
© Andreas Mertin, 2017