§ 219a

Meinungen – Haltungen – Stellungnahmen – Gegenlektüren

Andreas Mertin

Es gibt vermutlich wenige Bereiche, in denen zurzeit die Ebenen so durcheinandergehen, wie bei der Frage des § 219a. Die Chefredakteurin der Zeitschrift Chrismon und der Online-Plattform evangelisch.de hat nun beim Online-Auftritt von Chrismon und explizit als Meinungsbeitrag gekennzeichnet, die Abschaffung des § 219a gefordert. Das ist ihr gutes Recht und man sollte ihr Recht auf ihre Meinung auch dann vehement verteidigen, wenn man ihre Meinung nicht teilt. Ich teile ihre Meinung nicht, ganz und gar nicht, denn ich glaube mit der Abschaffung des §219a wird eine kulturelle Schranke überschritten, die besser bestehen bleiben sollte. Andererseits bin ich der Meinung, dass ich mir durchaus andere, weitergehende Lösungen des § 218 vorstellen kann, die klarer in Richtung Fristenregelung gehen. Der § 219a aber hat mit dem Schwangerschaftsabbruch als solchem weniger zu tun. Er verbietet nicht die Information über den Schwangerschaftsabbruch. Man muss nur kurz ins Netz schauen, um Hunderte von Seiten zu finden, die aus unterschiedlichen Perspektiven über die Abtreibung informieren. Ursula Ott stellt nun eine Reihe von Thesen auf, die ich für fragwürdig halte. Machen wir uns zunächst klar, worum es geht. Der § 219a verbietet die Werbung für eine Abtreibungspraxis im eigenen ökonomischen Interesse. Darum geht es. Der Arzt ist ein Unternehmer mit spezifischen Leistungen und der Staat verbietet ihm, für eine bestimmte Leistung, die unter Umständen straffrei ist, Werbung zu machen. Das Zulassen von Werbung sorgt keinesfalls für bessere Informationen. Dazu muss man nur einmal eine ganz normale Zeitung aufschlagen, einen Tag fernsehen oder online gehen. Werbung ist keine Information, sondern soll den Verbraucher motivieren, die Leistung des Unternehmers in Anspruch zu nehmen. Die Suggestion, wenn man nicht für die eigene Abtreibungspraxis (das eigene Produkt) werben dürfte, entginge den Frauen (den Konsumenten) wichtige Informationen, wird vermutlich von vielen Unternehmern geteilt, ist aber nicht stichhaltig. Wir verbieten auch Werbung für Zigaretten (leider nicht für Alkohol) oder Sterbebeihilfe.

Ursula Ott beginnt ihre Stellungnahme mit einer Skizze einer Lebenssituation. Man kommt in eine neue Stadt und braucht neue Ärzte. Diese Situation ist jedermann vertraut. Ich selbst bin 10 Jahre lang immer in meine Geburtsstadt zurück gefahren, weil ich dort einen Arzt hatte, dem ich vertraute. Nun weiß aber auch jeder, dass Vertrauensverhältnisse zu Ärzten sich nicht über deren Werbeanzeigen entscheiden. Das ist mit Verlaub gesagt Quatsch. Es trifft nicht einmal für Kaffee oder Waschmittel zu. Bei Ärzten sind die Prozesse der Vertrauensbildung wesentlich länger. Ich käme nicht einmal auf die Idee, hier nach ihren „Werbeanzeigen“ zu gehen. Dort schaue ich nach Öffnungszeiten und Praxisschwerpunkten. Ich kann mir aber auch nicht vorstellen, dass eine Frau ihre Frauenärztin danach aussucht, ob sie a) auch Abtreibungen vornimmt und b) auf ihrem Werbeschild darauf aufmerksam macht. Wenn das so wäre, darauf gehe ich später noch ein, wäre das gesellschaftlich auch nicht wünschenswert, denn es würde Abtreibung zu einem Verhütungsmittel machen. Susanne Ott schreibt:

Ich habe im Laufe meines Lebens alle Ärzte und Ärztinnen gefragt, wie sie dazu stehen, ob sie mir weiterhelfen, ob sie selber die Pille danach verordnen oder notfalls den Eingriff vornehmen. Ich wusste immer: Werde ich vor die Entscheidung gestellt, brauche ich eine sehr gute, gewissenhafte Ärztin an meiner Seite. Und zwar schnell, denn die Pille danach sollte innerhalb von 12 Stunden nach dem Geschlechtsverkehr eingenommen werden.

Anders als Ott es schreibt, braucht man für die Pille danach heute keinen Arzt mehr. Sie ist rezeptfrei in der Apotheke erhältlich. Rezeptfreie Notfall-Kontrazeptiva können seit 2015 selbst von Jugendlichen ab 14 Jahren auch ohne Einwilligung der Erziehungsberechtigten erworben und angewendet werden. Da sollte man kein Fass aufmachen – schon gar nicht 2017. Und die angegebenen Zeiten („innerhalb von 12 Stunden“) stimmen auch nicht. Bei Einnahme der ersten Dosis innerhalb von 24 Stunden liegt die Rate der Schwangerschaften bei unter 1%. Wird die Pille danach erstmals am zweiten Tag nach dem Geschlechtsverkehr genommen, beträgt die Schwangerschaftsrate bei etwa 1% und 3 % bei Einnahme am dritten Tag. Beworben werden darf die Pille danach in Deutschland aber nicht. Ich vermute aus den gleichen Gründen, aus denen es keine Werbung für die eigene Abtreibungspraxis geben soll.

Ursula Ott findet nun das Urteil gegen die Werbepraxis der Frauenärztin Hänel einen Skandal. Das ist neu in der protestantischen Diskussion, dass man plötzlich für Werbung im ökonomischen Profitinteresse eintritt. Bisher war man da vorsichtiger. Ott meint:

Das ist ein Skandal. Wer Frauen und ihren Körper im Netz mit den übelsten Sexismen beleidigt (unsere Social-Media-Managerin kann ein Lied davon singen), bleibt in diesem Land ungestraft. Wer sich medizinisch sorgfältig und verantwortungsvoll mit genau diesem weiblichen Körper befasst, bekommt eine Geldstrafe. Dabei zeigen Erfahrungen aus anderen Ländern: Je besser Frauen informiert sind – über Verhütung, über Sexualität, über Abtreibung –, desto weniger Abtreibungen gibt es tatsächlich.

Was das alles mit dem Werbeverbot zu tun hat, erschließt sich mir als Leser nicht. Keine Frauenärztin in Deutschland wird bestraft, weil sie „sich medizinisch sorgfältig und verantwortungsvoll mit dem weiblichen Körper befasst“. Das ist schlichtweg Unsinn. Nicht für Abtreibungen oder Praxisuntersuchungen ist eine Ärztin im konkreten Fall bestraft worden, sondern eine Unternehmerin für unerlaubte Werbung ihrer Abtreibungspraxis. Da liegen Welten zwischen. Auch eine Nicht-Bestrafung von Beleidigungen im Internet sehe ich nicht, schon eine kurze Recherche zeigt eine Fülle anderslautender Urteile. Das ist zudem in der Verknüpfung ein populistisches Argumernt. Und moralisch ist die Beleidung etwas völlig anderes als die Werbung für eine Tötungsmaßnahme. Ich hoffe, das sieht auch Frau Ott so. Und eine Tötung bliebe es ja auch dann noch, wenn sie legal ist.

Ich finde es nun außerordentlich befremdlich, dass für das Recht auf kommerzielle Werbung für eine Tötungsmaßnahme fast ausschließlich mit sachfremden Argumenten geworben wird. Gibt es sachliche Gründe in der Diskussion um den § 219a? Dann würde man sie gerne hören. Es geht nicht um Informationen rund um die Abtreibung, es geht nicht um Rezepte für die Pille danach, es geht nicht um Abtreibung selbst, sei sie nun legal oder illegal. Das alles hat mit dem § 219a nichts zu tun.

Der frühere Bundesrichter Thomas Fischer ist auf ZEIT ONLINE den Diskussionen um den § 219a nachgegangen.[1] Und ich hätte mir gewünscht, dass auch auf einer evangelischen Plattform auf diesem Niveau diskutiert worden wäre. Das Mindeste wäre doch, zunächst einmal zu überlegen, was ist der Sinn der jetzigen Regelung, worauf bezieht sie sich und worauf nicht. Dann kann man fragen, ob man die Sinnhaftigkeit dieser Regelung bestreitet oder ihre Effizienz oder ihre moralische Grundlage. Und dann kann man Schlüsse ziehen. Wichtig wäre auch zu wissen, in welchem Umfang es Verurteilungen nach diesem Gesetz gibt. All dies finde ich in den Überlegungen von Thomas Fischer berücksichtigt und in denen von Ursula Ott nicht. Das ist der eigentliche journalistische Skandal.

Und nein, die EKD muss sich deshalb nicht von Frau Ott distanzieren, wie es die umstrittene evangelikale Plattform idea durch den nun schon obligatorischen Gesinnungsrückruf bei Herrn Rüß in Hamburg nahelegt. In der EKD gibt es viele unterschiedliche Meinungen, das ist ein gesunder Meinungspluralismus. 90% der Ansichten von Herrn Rüß finde ich vollständig unevangelisch und skandalös, würde aber nicht von der EKD erwarten, dass sie sich von ihm distanziert. Man kann seine gegenteiligen Ansichten äußern, aber die wollen eben auch begründet sein. Wenn Rüß aber sagt, Werbung für die eigene Abtreibungspraxis sei Werbung für Abtreibung, so ist das nun definitiv falsch, insofern der Gesetzgeber in seinen Bestimmungen gar nicht zwischen legaler und illegaler Abtreibung unterscheidet. Es gibt Situationen, in denen der Gesetzgeber ausdrücklich die Möglichkeit zur Abtreibung zulässt. Aber er untersagt die Werbung dafür. Worum gestritten wird, ist, ob ein Unternehmen, das genau diese zugelassenen Abtreibungen vornimmt, in der Öffentlichkeit darauf aufmerksam machen darf oder nur die Beratungszentren darüber informieren kann. Alles andere bedürfte einer Änderung des § 218 und nicht des § 219a. Thomas Fischer:

Es geht also nicht um "Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft", sondern um das öffentliche Werben von Personen, die in diesem Bereich tätig sind, für eigene (wirtschaftliche) Interessen oder in grob anstößiger Form.

Und dann, und das ist mir wichtig, zitiert Fischer die seinerzeitige Begründung des Gesetzgebers für das konkrete Verbot und er zitiert aus den damaligen Ausschusspapieren:

"Die Reform der Vorschriften über den Schwangerschaftsabbruch darf nicht dazu führen, dass der Schwangerschaftsabbruch als gleichberechtigtes Mittel der Familienplanung neben die Schwangerschaftsverhütung tritt." [Entwurf von 1972]

"Die Vorschrift … soll verhindern, dass der Schwangerschaftsabbruch in der Öffentlichkeit als etwas Normales dargestellt und kommerzialisiert wird. Andererseits muss die Unterrichtung der Öffentlichkeit (durch Behörden, Ärzte, Beraterstellen) darüber, wo zulässige Schwangerschaftsabbrüche durchgeführt werden, möglich sein" ...

"Aus dieser Zielsetzung ergibt sich die in Absatz 1 gewählte Umschreibung. Sie untersagt die echte oder als Information getarnte Werbung … dann, wenn der Täter sie seines Vermögensvorteils wegen oder in grob anstößiger Weise betreibt." [Sonderausschuss Strafrechtsreform][2]

Genau darum geht es. Auf diesem ethischen Niveau muss man sich bewegen. Und indirekt kann man an den Äußerungen von Susanne Ott ablesen, dass ihr dies bewusst ist und dass sie an der Normalisierung des Schwangerschaftsabbruches als Verhütungsmittel arbeitet. Jedenfalls macht dann ihr Hinweis auf die abbruchbereite Frauenärztin, die ihr in einer neuen Stadt so wichtig ist, Sinn, ebenso wie der Hinweis auf die rasche Verschreibung der Pille danach. Und darüber muss man nun tatsächlich vehement streiten. Welche Kultur pflegen wir, wenn die Pille danach und der Schwangerschaftsabbruch normale Verhütungsmittel werden und in der Öffentlichkeit auch so verstanden und kommuniziert werden? Wollen wir, dass auch im öffentlichen Erscheinungsbild des Internets Abtreibungen als normale und selbstverständliche Handlungsoption angesehen werden?

Ich hoffe nicht, denn das gälte dann auch, wie Fischer süffisant anmerkt, für Waterboarding, Leihmutterschaft und Sterbehilfe. Mit deutlichen Worten zeigt Fischer am Ende seines Artikels auf, wohin das führt. Es sind Worte, denen ich mich nur anschließen kann:

Das zeigt und bestätigt: Der Mensch ist moralisch und ethisch über alle Maßen anpassungsfähig. Die Wurzel des Erfolgs seiner Art ist die Beherrschung und Vernichtung dessen, was als "Natur" über ihn gekommen ist. Moral ist dabei Mittel zum Zweck. Daher wird man weiterhin darüber nachdenken müssen, ob die Freiheitsrechte verlangen, dass man den Menschen an die Werbung anpasst oder umgekehrt. Dreht man bloß an ein paar kleinen sozialen Schrauben – schon verändert sich alles: Das Menschenbild, die Gottesfurcht, die Pietät und das Mitleid. Dieser Einwand hat übrigens nichts mit Sympathien für bigotte "Lebensschützer" zu tun.[3]

Anmerkungen

[1]    Thomas Fischer, Von Abtreibung und Menschenrecht; Zeit online 21. Dezember 2017, online verfügbar unter http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-12/schwangerschaftsabbruch-werbung-abtreibung-gesetzesaenderung

[2]    Zit. nach Fischer, ebd.

[3]    Ebd.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/111/am616.htm
© Andreas Mertin, 2018