Meet the museum - if you can

Ein virtuelles Treffen mit Marina Abramović

Michael Waltemathe

Im Frühjahr 2010 verbrachte die Performance-Künstlerin Marina Abramović 90 Tage an einem Tisch im Museum of Modern Art in NYC. Abramović saß sieben Stunden am Tag, 6 Tage in der Woche ohne Pausen an diesem Tisch. In dieser Zeit konnten Museumsbesucher sich Abramović gegenüber setzen und ihr in die Augen schauen.[1]

Die Performance mit dem Titel “The Artist is present”[2] war so beliebt, dass Menschen stundenlang Schlange standen um Abramović schweigend am Tisch gegenüber zu sitzen. Das gemeinsame Sitzen und schweigende Verweilen am Tisch war für viele Besucher ein sehr emotionales Erlebnis. Der Blick in Abramovićs Augen und die geteilte Zeit brachte nicht wenigen Besuchern Tränen in die Augen. Einige Beispiele finden sich bei

http://marinaAbramovićmademecry.tumblr.com/.

An der Performance nahm auch Abramović’s ehemaliger Partner und Lebensgefährte Ulay teil. Abramović und Ulay hatten sich während der Performance “The Lovers” im Jahre 1988 getrennt. Sie waren von den beiden Endpunkten der chinesischen Mauer aufeinander zugegangen um dann in der Mitte aufeinanderzutreffen. Die für diesen Anlass eigentlich geplante Eheschließung fiel aber einem Streit und der Trennung der beiden Künstler zum Opfer.[3] Erst während der Performance “The Artist is present” begegneten sich die beiden wieder und reichten sich sogar schweigend die Hände.

Dieser Moment findet sich in verschiedenen – emotional aufgeladenen – Videos auf youtube interpretiert, zum Beispiel hier eingebunden in eine Kurzübersicht der Gesamtperformance - https://www.youtube.com/watch?v=sLbFugaFyAA – oder hier als Musikvideo inszeniert - https://www.youtube.com/watch?v=CAID_2iKO5Y .

Unabhängig von speziellen Begegnungen stellte die Performance die Präsenz der Künstlerin im schweigenden Miteinander mit den Besuchern in den Mittelpunkt. Zwar warteten Besucher stundenlang auf die Begegnung, diese jedoch wurde in gemeinsam verbrachter Zeit zu einem intimen Erlebnis. Der Sozialphilosoph Alfred Schütz beschreibt aus phänomenologischer Perspektive solche Momente als die Erfahrung gemeinsamen Alterns (growing older together)[4], die intersubjektive Form der Erfahrung gemeinsamer Zeit. Damit wird ein Museumsgang auf mehrfache und sehr intime Weise zu einer gemeinsamen Zeiterfahrung, in die in diesem Fall die Künstlerin und die gemeinsame schweigende Erfahrung des Alterns (im Schützschen Sinne) direkt einbezogen ist.

Knapp eineinhalb Jahre später veröffentlicht der Spieleforscher und Spieldesigner Pippin Barr eine Computer-Spiel-Version der Abramović Performance “The Artist is present”.[5] Das Spiel ist – im Jahr 2011 – bewusst in der Computerspielästhetik der 1980er Jahre präsentiert.

Die Abramović Performance wird online[6] als 8 Bit Computer-Spiel erlebbar. Neben der grafischen Darstellung verändert sich aber das gesamte Erleben der Performance. Während vordergründig das komplette Konstrukt eines Museumsbesuches in 8 Bit vermittelt wird, stellt sich dem Spieler eine nicht nur optisch reduzierte spezifische Erfahrung dar.  

Das Spiel beginnt für den Spieler vor dem Museum of Modern Art (MoMA) in NYC. Der Spieler steht vor dem Eingang. Dieser ist zu den regulären Öffnungszeiten des MoMA geöffnet. Das Spiel lässt sich nur während dieser Zeit spielen. Für die Spielerin in Mitteleuropa bedeutet dies, dass Dienstags geschlossen ist und man Mittwoch bis Montag jeweils zwischen 16.30 und 23.30 Uhr MEZ das virtuelle MoMA betreten kann. Tritt man durch den Eingang des virtuellen Museums muss man eine virtuelle EIntrittskarte zum zeitgenössisch korrekt gerade erhöhten Preis von 25 (virtuellen) USD kaufen. Diese ermöglicht den Zugang zum Museum (nachdem sie virtuell abgerissen wurde …).

Pippin Barr ermöglicht dem Spieler so, eine (in 8-bit dargestellte)  bis ins Detail genaue Erfahrung eines echten MoMA Besuches zu erleben. Zumindest scheint es auf den ersten Blick so. Die Spielerin betritt nach der Einlasskontrolle den ersten Raum des Museums. An der Wand hängen bekannte Kunstwerke. Spielend geht man an der “Sternennacht” von Vincent van Gogh, einem Cézanne, Andy Warhols “Campbells Suppendosen” und am Tanz von Matisse vorbei.

Spätestens vor dem Werk von Matisse trifft der Spieler dann auf die Schlange der Personen die virtuell für die Abramović Performance anstehen.

Während es nun möglich ist an der Schlange vorbei zu gehen, ist es nicht möglich auf diesem Weg an der Performance teilzunehmen. Der Avatar verweigert Vordrängeln oder gar den Schritt über die museal bekannte “weisse Linie” mit Verweis auf soziale Konventionen. Der Spieler ist also gezwungen sich anzustellen. So verbringt man dann im Spiel eine beträchtliche Zeit damit, zu warten. Man wartet darauf, dass sich die Schlange vorwärts bewegt. Tritt man aus der Schlange heraus, oder verpasst den richtigen Zeitpunkt aufzurücken, verliert man seinen Platz in der Schlange.

So wird das Spiel zu einem Wartespiel. Die spielerischen Anforderungen reduzieren sich darauf, aktiv zu warten. Die Regeln des Spiels erschliessen sich dem Spieler recht schnell. Vordrängeln führt nicht zum Ziel, passives Warten auch nicht. Nur der aktive Einsatz minimaler Interaktion über einen langen Zeitraum bringt den Spieler an das virtuelle Erleben der Performance heran. In den Worten des Spiele-Designers klingt das so: “Das Spiel ist definitiv kein Shooter, mehr ein Waiter”[7] In der Tat wird das aktive Warten zu einem Hauptteil des Spiels. Spieler und Spielerinnen berichten von Wartezeiten zwischen 20 Minuten und 4 Stunden bis man am Tisch mit Abramović virtuell Platz nehmen kann. Das wiederum stellt sich dann im Gegensatz zur intensiven Erfahrung des aktiven Wartens als relativ langweilig dar.

Barr transformiert damit die Erfahrung der Performance in mehrfacher Hinsicht. Wie bei einem Computer-Spiel zu erwarten, verwandelt sich virtuell gemeinsam mit einem Computerprogramm verbrachte Zeit von der Erfahrung des “growing older together” zu singulärer Zeiterfahrung. Man sieht am Ende des Spiels für eine gewisse Zeit ein 8Bit Bild von Marina Abramović und schaut dies an. Der zwischenmenschliche Kontakt, das gemeinsame schweigende Verweilen fällt weg. Dafür wandelt sich der Weg zur Teilnahme an der Performance in der virtuellen Umsetzung zur eigentlichen Performance. Virtuell wartet man. Man wartet aktiv. Das Warten ist nicht mehr der Weg zum Ziel, es wird zur aktiven Handlung, die dem Spieler ein hohes Maß an Sinnkonstruktion abverlangt.

Das Spiel ist nicht umsonst als das langweiligste Spiel der Welt bezeichnet worden.[8]

Allerdings repräsentiert diese Langeweile eine Komponente der Performance und des Museums-Besuches die sonst in der Vorfreude auf das eigentliche Ereignis untergeht. Das Spiel spielt mit der alltäglich nicht erfahrbaren Schwierigkeit und Fremdheit des Alltäglichen. Es gibt dem Unscheinbaren an der außeralltäglichen Erfahrung des Museumsbesuches und der Kunstrezeption eine aktive Dimension. Wir warten vor dem Computer. Aber wir warten nicht passiv und abgelenkt. Der Spieler, der während des Wartens einer anderen Beschäftigung nachgeht findet sich am Ende der Schlange wieder. Das Warten, die leere Zeit, kann so nicht gefüllt werden. Pippin Barr zwingt uns die Langeweile als Erfahrung auf. Dies wird in den in der Computer-Spiele-Kultur verorteten Let's Play Videos überdeutlich. In diesen Videos filmen sich Spieler beim Computerspiel und kommentieren das Spiel. Das vorherrschende Handlungsmuster des aktiven Erledigens von Aufgaben im Spiel wird so üblicherweise in schneller Folge publikumswirksam dargestellt. Nicht so bei Pippin Barrs “The Artist is present”. Es ist geradezu schmerzhaft, Spielern in Videos beim Warten zuzusehn. Konsequenterweise findet sich auch kein Video, das die ganze Länge von 4 Stunden Warten zeigt.[9]

Die 8Bit Version der Abramović Performance stellt also den Besuch eines Museums bzw. einer Performance vom Kopf auf die Füße. Die virtuelle Inszenierung stellt die Frage nach der Kunst innerhalb des Besuches neu. So wie bei der Inszenierung im MoMA in 2010, die ja in diesem Falle als Kunstwerk deutlich jenseits aller Vereinnahmungen als Kunstwerk für sich stand, steht auch Pippin Barrs Spiel als Inszenierung für sich. Als “langweiligstes Spiel der Welt”, als “Waiter” steht es außerhalb des Computer-Spiele Markts und ist gleichzeitig Teil davon. Es wirkt wie eine Selbst-Reflexion eines Genres auf seine Möglichkeiten. Indem der Spieler gezwungen ist im Regelkosmos zu verharren, ohne dabei Auswege zu haben, wird der Akt des aktiven Wartens zur Analysekategorie nicht nur des Spiels sondern auch der Überführung alltagsweltlicher Erfahrungen in virtuelle Inszenierungen. Pippin Barr spielt mit der Erfahrung der Inszenierung indem er keinen Ausweg lässt. So überformt er einen langweiligen Akt in eine Kontingenz thematisierende  Sichtweise auf Spiel und Kunst. Nicht umsonst fragt man sich, ob das Spiel ein spielerischer Angriff auf die Kunst oder ein Kunstwerk darstellt.

Anmerkungen


[1]     https://www.moma.org/calendar/exhibitions/964 (aufgerufen am 31.01.2018).

[3]    Vgl. Sarah Cascone, Marina Abramović and Ulay, Whose Breakup Changed Performance Art Forever, Make Peace in a New Interview. An ugly lawsuit behind them, the duo reunited at the Louisiana Museum. https://news.artnet.com/art-world/marina-abramovic-ulay-relationship-interview-1045136 (aufgerufen am 31.01.2018).

[4]    Schütz, Alfred: On Multiple Realities. in: Collected Papers I. The problem of social reality. Hrsg. von Maurice Natanson. Den Haag 1962, S. 207-259, 220.

[7] http://www.klamm.de/news/the-artist-is-present-pippin-barr-entwickelt-mit-marina-abramovic-wohl-langweilstes-spiel-der-welt-29N6582.html

[8]    Marcus Böhm, Virtuelles Schlangestehen. Das langweiligste Spiel der Welt. http://www.spiegel.de/netzwelt/games/virtuelles-schlangestehen-das-langweiligste-spiel-der-welt-a-787276.html

[9]    Ein klassisches Lets-Play Video: https://www.youtube.com/watch?v=liRco_1mIRA.
In diesem Beispiel zeigt sich schön die Konsequenz devianten Verhaltens im Museum: https://www.youtube.com/watch?v=uQ20xsmlYMQ.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/111/miwa6.htm
© Michael Waltemathe, 2018