Zwischen Gängen und neben Bären - Filme auf der Berlinale 2018

Zu den Preisträgern der ökumenischen Jury und  einigen wichtigen Filmen des Festivals

Inge Kirsner / Roland Wicher

Das Beste kam zum Schluss: Während noch gerätselt wurde, ob nun "Transit" von Christian Petzold oder der vierstündige Kritikerliebling "Season of the Devil" von Lav Diaz das Bärenrennen gewinnen würde, liefen nacheinander die Pressevorführungen "Twarz" (Fratze) von Malgorzata Szumowska und Thomas Stubers "In den Gängen".

Die ökumenische Jury zeichnete schließlich „In den Gängen“ mit dem Preis im Wettbewerb aus. Ein weiterer deutscher Beitrag, "Styx" von Wolfgang Fischer, gewann den Forum-Preis, in der Filmreihe "Panorama" zeichnete die Jury der Kirchen "Teatro de guerra" von Lola Arias aus.

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Dass das, was man zum Leben braucht, nicht auf den Regalen zu finden ist, sondern zwischen den Gängen, davon erzählt der von der ökumenischen Jury ausgezeichnete Film Stubers. Er ist trotz der überwältigenden Strauß-Walzer-Klänge zu Beginn ein stiller Film, der neben einem wunderbaren Franz Rogowski und einer immer toughen Sandra Hüller einen Gabelstapler zum Protagonisten hatte und ohne drastische Gewalt- und Sexszenen auskommt (fast eine Seltenheit auf der diesjährigen Berlinale). Und fast auch ohne Religion, wäre da nicht Weihnachten, wo es auch zwischen den mit Sternen und Lichterketten behängten Regalen lieblich erschallt. Nach Weihnachten wird dann die Musik, die der Vorarbeiter allabendlich einlegt, geerdeter, nach klassischen Tönen zu Anfang sind jetzt auch schon mal Rock- und Popsongs zu hören.

Wir sehen zu Beginn von oben auf die Regalfluchten, wie in einer Simulation des Blickes Gottes auf die Welt - aber fast ebenso hoch kommt auch der Gabelstapler. Wird dieser langsam hoch- und dann wieder heruntergefahren, meint man den Wellenschlag des Meeres zu hören - und Palmen finden sich als Paradies-Symbole auch in der kleinen Kaffeebar, die den Mittel- und Fluchtpunkt des Marktes bildet.

Stuber zeichnet nach der gleichnamigen Kurzgeschichte von Clemens Meyer eine Welt, in der fast nie die Sonne scheint. Der Film spielt auf dem flachen Land und verharrt dort, wo sich eine enge Gemeinschaft von Menschen bildet, die einander nicht zum Wolf werden (wobei in einem kurzen Besuch ehemaliger Neonazikollegen von Christian durchaus die Bedrohung ´von außen´ aufblitzt). Vielmehr erscheint es so, als ob hier ein Teil der Bergpredigt nachgezeichnet wird, in der jene selig gepriesen werden, die ´reinen Herzens´ sind - verdeutlicht am fürsorglichen Umgang der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter untereinander. Erinnert wird auch an die Solidarität und menschliche Nähe, die im Fernfahrerkollektiv zu DDR-Zeiten herrschte, so dass man meinen kann, der Film verkläre diese soziale Wärme nostalgisch und tappe so in die Falle der Ost-Klischees. Freilich bilden die Andeutungen tiefer Einsamkeit und Depression wie auch häuslicher Gewalt erzählerische Gegengewichte. Es war und ist nicht alles schön im Osten. Das erzählt der Film auch, ohne uns den Trost zu verweigern, der in der Warmherzigkeit seiner Figuren liegt.

Eine sehr explizite Rolle spielt die Religion - in ihrer katholischen Spielart - in dem Film "Twarz". Er rechnet damit ab, dass die Menschen an Weihnachten zwar einen Platz für Jesus Christus an der Tafel frei lassen, aber gleichzeitig nach dem Essen Judenwitze reißen. Die vor dem Ort errichtete riesige Jesusstatue scheint jedenfalls weg zu wollen - am Ende hat sie ihren Kopf gedreht und blickt dem Protagonisten nach, der die bigotte, rassistische Landgesellschaft hinter sich lässt und fortreist.

"Twarz" beginnt in einem Warenhaus, wo "Nackedeis" Weihnachtsschnäppchen versprochen werden. Wie Zombies stürzen sich diese dann tatsächlich halbnackt auf die nicht für alle ausreichenden TV-Riesenbildschirme. In einer scharfen Satire unterminiert „Twarz“ hier Verklärungen der dörflichen Gemeinschaft im ländlichen Polen. Der Protagonist verliert zwar sein Gesicht und wird um sein Lebensglück gebracht, die Lebenskraft und Widerständigkeit bleibt ihm aber. Ein polnischer Heavy-Metal-Cowboy, #.

Auf der diesjährigen Berlinale gab es einige "Ausreißer" nach oben wie nach unten. Keiner dieser "Ausreißer" wurde mit einem Bären ausgezeichnet. "Transit" hätte durchaus zumindest einen silbernen Bären verdient: Er verknüpft Flüchtlingsschicksale auf zwei Zeitebenen miteinander - die Gegenwart mit dem 2. Weltkrieg, wie ihn Anna Seghers gleichnamige Literaturvorlage beschreibt. Der Film schafft einen traumartigen Raum des Übergangs, in dem sich die Menschen wie ´lebende Tote´ aufhalten. Manchen gelingt die Flucht, andere wählen den Tod.

Der Tod ist die Hauptfigur in "Utøya - 22. Juli", dem beklemmenden Film von Erik Poppe, der uns in einer langanhaltenden, nur mit der Handkamera gefilmten und ungeschnittenen Sequenz mit dem schockierenden Attentat von Utøya konfrontiert, dem 69 junge Menschen zum Opfer fielen. Zugleich eröffnet er den Zuschauenden überzeugende Momente von Stärke und Hoffnung im Angesicht der Tragödie. Der Film wird konsequent aus der Sicht einer der Jugendlichen erzählt, deren Erleben aus Gesprächen des Regisseurs mit Überlebenden rekonstruiert wurde. Die Ökumenische Jury zeichnet Utya 22. Juli mit einer lobenden Erwähnung aus.

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Auch "Styx" spielt im Hades. Es ist ein künstlerisch herausragender und spannungsvoller Film, der die Geschichte einer guten Samariterin umsetzt, die in sich ihrem Einsatz für Flüchtlinge als kompromisslos und zugleich klug erweist, und darin eine überzeugende Antwort gibt auf eine der größten ethischen Herausforderungen unserer Zeit.

Eine starke junge Frau, die eine hart arbeitende Unfallärztin ist, bricht zur Erholung mit einem Einhandsegler auf eine Atlantikreise auf, Proviant und Wasser an Bord. Nach einiger Zeit stößt sie auf ein havariertes Flüchtlingsboot vor der afrikanischen Küste. Sie kontaktiert die zuständigen Stellen, Küstenwachen, vorbeiziehende Frachter – die sie hinhalten oder Hilfe gleich ganz verweigern mit dem Hinweis auf die Statuten ihrer Schifffahrtsgesellschaft, die die Aufnahme von ertrinkenden Flüchtlingen untersagt. Einen Jungen kann sie retten, der in die Fluten gesprungen ist. Näher heranfahren kann sie aber nicht, da das noch mehr Menschen motivieren würde, in die Fluten zu springen. Der Film lässt uns die tiefe Ratlosigkeit und das Dilemma miterleben, in dem diese Frau sich befindet – gefangen zwischen der Rolle des guten Samariters und der hilflosen Betrachterin. Die Hoffnung in diesem Film ist schwach. Im Blick für das Leiden selbst, im Aufbrechen von Abgestumpftheit, im Impuls an das Publikum liegt wohl das stärkste Hoffnungsmoment des Films.

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"Teatro de guerra" zeigt, wie der Tod des einen den anderen zum Leben führen kann, indem dieser begreift, dass ihm in dem eben gestorbenen feindlichen Soldaten ein Bruder gestorben ist - eine der eindrücklichsten Szenen des Films der argentinischen Künstlerin Lola Arias.

Dieser gibt einen eindrücklichen Einblick in das Leiden von Soldaten im Krieg um die Falklandinseln, argentinisch die Malwinas, im Jahr 1982. Jahrzehnte später treffen die Männer aufeinander, Soldaten der britischen und der argentinischen Seite. Sie tragen die tiefen seelischen Verletzungen und Schuldgefühle in sich, und bearbeiten sie in einem Theaterstück, das sie gemeinsam entwickeln. Sie spielen Kampfsituationen nach, gerade auch solche, in denen eindeutig schuldhaft und unnötig Menschenleben zerstört wurden. Die Frage, ob der ganze Krieg gerechtfertigt war, ist sowohl in der britischen als auch in der argentinischen Öffentlichkeit noch ein Thema – und Gegenstand der Dispute zwischen den älter gewordenen Männern. Der Film und das Theaterprojekt eröffnen ihnen die Möglichkeit, einander in Frieden zu begegnen und gemeinsam Leiden und Unrecht zu bearbeiten. Das Geschehen und dessen traumatische Folgen werden stellvertretend für alle Kriegserlebnisse in Reenactments dargestellt. Gezeigt wird,  wie Erinnerungsarbeit den Weg zu neuem Leben eröffnen kann und Menschlichkeit durch den Krieg nicht zerstört werden muss. Visuell wirken manche der Arrangements der Bühnensituationen wie Andachtsbilder, und erinnern so an Passionsdarstellungen, deren reflexive und zugleich Mitleid erregende Figuren- und Blickkonstellationen hier scheinbar ganz säkular zum Einsatz kommen.

Am Ende der Berlinale steht einmal mehr das Leben, das Beleuchten von Geschichten, die, wie "In den Gängen", von der Arbeit an der Liebe erzählen.

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Vielleicht kann man, mit einigem guten Willen, auch den Gewinner es Goldenen Bären - den Film der bulgarischen Regisseurin Adina Pintilie "Touch me not" - hier dazuzählen. Hier geht es um (die mangelnde) Liebe zu sich selbst, die Unfähigkeit der Protagonistin Laura, sich berühren zu lassen. Wir werden in diesem essayhaften Therapiefilm mitgenommen auf ihre Suche nach Heilung, die sie mit dem körperlich stark eingeschränkten Christian, mit einem Callboy und dem ebenfalls suchenden Isländer Tudor bekannt macht. Wir besuchen mit ihnen einen Swinger Club, in dem Bondage als Form des Vertrauens, des Auslieferns und der Ekstase gefeiert wird und erleben mit, wie Laura, angesteckt von der Offenheit Christians, der eine erfüllte sexuelle Beziehung mit seiner langjährigen Freundin lebt und seinen Körper angenommen hat, sich schließlich nackt und frei vor der Kamera bewegen kann.

Es gab eine Reihe Filme, die therapeutische Verfahren und Befreiungsgeschichten in den Fokus rückten. „Don't worry, he won't get far on foot“ von Gus van Sant mit Joaquin Phoenix in der Hauptrolle erzählt die Geschichte eines Alkoholikers, der bei einem Autounfall querschnittsgelähmt wird, seine Sucht bekämpft und ein begnadeter Zeichner satirischer Comics wird – darin der Biographie John Callahans folgend. „La Prière“ spielt in einer katholischen Kommunität, genauer einer spirituellen Therapiegruppe für Drogenabhängige. In allen diesen Filmen stellt sich die Frage, ob und wie der Film letztlich Distanz zu halten vermag, und wo die Moritat der geglückten Lebenswende inszeniert wird. Im Fall von „Touch me not“ hat man den Eindruck, einen medienreflexiv vielleicht auch überinszenierten Film zu sehen, mit vielen Einstellungen, in denen die Apparaturen zu sehen sind, die Regisseurin sich vor und hinter der Kamera vielfältig spiegelt und sichtbar macht, die Machtposition gegen die Verletzlichkeit der Gefilmten einzutauschen – wenigstens punktuell. Zugleich wird eine Ars Erotica inszeniert, die Foucaults Fantasien hier in Bilder übersetzt. Die changieren, was die Oberflächen angeht, zwischen weißen, ästhetischen Wohn- und Schlafzimmerbildern in eher klinischen Gemächern, weiß auch die Räume einer Therapiegruppe in einem Klinikum. Konventionelle Campästhetik bieten die „Swingerclub-“Szenen. In beiden Fällen wirkt die Erotik durch das Setting klischeehafter, als sie sein müsste. Auch die (allen Genderschattierungen zum Trotz) maskulinen Therapeuten, die den Therapierten ihre Erfahrung und Strategien anbieten, aber auch der wissende Schwerbehinderte Christian, der an entscheidenden Stellen eine sehr souveräne männliche Sexualität lebt, kommen mit einem Auskennergestus daher, der letztlich auch irritiert. Dennoch ist gerade Christian eine eindrucksvolle Gestalt, der den Begriff der Inklusion in seiner überlegenen und bewussten Haltung noch zu schwach erscheinen lässt. Dieser Mann ist wirklich differently abled, anders begabt. Er meistert sein Leben. Auch die Momente der Verletzlichkeit und des Erschreckens voreinander wie auch der individuellen Aus- und Aufbrüche erzeugen berührende Momente. Ein Film, der in seiner Ambivalenz schon auch reizvolle Seiten hat.

So hat es einen eigenen Charme, dass das Spektrum der prämierten Filme der unabhängigen und der offiziellen Jurys so breit ist. Am Ende des Tages ist der Diskurs über die Filme so interessant wie ihre Beurteilung, und die Schwächen wie die Stärken der Filme offenbaren viel über den Stand der Kunst und der Industrie. Die ästhetischen, ideologischen und auch religiösen Spannungen, die sich hier zeigen, haben auch zeitdiagnostischen Wert. Wie weit sind wir – schon? Noch nicht? Wo stößt befreiend Gemeintes auf innere Grenzen? Wo wirkt eine ästhetische Strategie überspannt, wo überzeugend? Dass Film nicht im luftleeren Raum gemacht wird, sondern Kulturen, Politik, Spannungen unserer Tage spiegelt und bricht, dass macht das Festival auch in diesem Jahr deutlich. Die Stimmung unserer Tage hält sich zwischen solchen Gefühlsmomenten, die hier Bild werden, zwischen dem befreiten Tanz im Schlussbild von „Touch Me Not“, dem manchmal wackeligen Gabelstaplerballett in „In den Gängen“ und dem entleerten Blick der gescheiterten Flüchtlingshelferin in „Styx“, zwischen Aufbruch und tiefer Ratlosigkeit, zwischen zarten Bewegungsmelodien und verlorener wie gewonnener Hoffnung.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/112/ikrw01.htm
© Inge Kirsner, Roland Wicher, 2018