„Wie kann man das, was ein Christusimpuls ist, herausarbeiten?“

Eine kleine Collage von Texten und Bildern

Andreas Mertin

1978 führt Horst Schwebel eine Reihe von Gesprächen mit fünf Künstlern bzw. Schriftstellern. Das gemeinsame Thema ist die Situation von Kunst und Religion in der Gegenwart. Aus dem Gespräch mit Joseph Beuys, welches das Magazin für Theologie und Ästhetik in Heft 50 wiederveröffentlicht hat,[1] zitiere ich im Folgenden einige Sätze. Sie folgen auf die Frage von Schwebel nach der Aktion Celtic und der darin erfolgten Fußwaschung.

Schwebel: Verstehen Sie denn die "Fußwaschung" anders als die Bibel?

Beuys: Die "Fußwaschung" hat nicht die gleiche Bedeutung wie in der Bibel. Diese Fußwaschung ist ja etwas anderes als das, was bereits einmal da gewesen ist.
     Sie wissen, dass viele Menschen nichts vom Christentum wissen wollen. Sie sagen: Vielleicht ist etwas Gutes daran für die menschliche Zukunft. Aber kann man den Namen Christentum überhaupt noch verwenden, wo unter diesem Namen so viele Verbrechen geschehen sind? Es müsste also ein neuer Begriff her. Diese Ansichten vertreten nicht etwa Menschen, die nicht religiös sind, sondern eher Menschen, die das Religiöse betonen und die es in den Mittelpunkt ihrer Arbeit an der Zukunft stellen wollen. Den Begriff "Christentum" finden sie belastend. Dann fragt man sich: Wie kann man das, was ein Christusimpuls ist, herausarbeiten? Was ist das eigentlich? Ist das ein bloß historisches oder ist das ein gegenwärtig-reales Ereignis? Hier muss man ansetzen.


Wie kann man das, was ein Christusimpuls ist, herausarbeiten? – Das ist eine Frage, die Künstler, die nicht nur einfach biblische Texte, nicht nur einfach biblische Geschichten illustrieren wollen, seit über 500 Jahren umtreibt. Es ist eine überaus aufregende Konstante in der Geschichte der Kunst seit 1500, dass die Künstler in Anknüpfung und Widerspruch sich mit dieser Frage immer wieder beschäftigen. Das möchte ich kurz in fünf Schritten zeigen:


Schritt I: Aneignung – Albrecht Dürer

Den Anfang machte vielleicht Albrecht Dürer als er sich im Jahr 1500 in seinem berühmten Selbstbildnis im Pelzrock exakt so porträtierte, wie es bis dahin dem Christusbild vorbehalten war: in Frontalansicht.

Es ging um den Maßstab des Menschlichen, der vorher schon Giotto, Masaccio und Jan van Eyck in ihrer Kunst so wichtig gewesen war.

Wenn der Mensch geradezu gottgleich war, musste man den Menschen auch so darstellen können. Und wenn Gott eine Entsprechung zum Menschen hat, dann musste im Menschenbild das Gottesbild inkorporiert sein. Da ist es nur noch ein kleiner Schritt, das eigene Bild am Christusbild auszugestalten.

Und Albrecht Dürer macht das so, dass ein geradezu ikonisches Bild daraus entsteht: Das können Menschen werden!


Schritt II: Identifikation – James Ensor

An dieser Stelle folge ich einfach der einschlägigen Darstellung von Horst Schwebel in dem von ihm gemeinsam mit Günter Rombold geschriebenen Buch „Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts“.[2] Er notiert dort:

Am augenfälligsten wird Ensors Haltung in der Zeichnung „Kreuzigung Ensors" aus dem Jahr 1886. Der Gekreuzigte hat nicht nur das Gesicht Ensors; statt der Inschrift „INRI" ist unverkennbar „ENSOR" zu lesen. Die Lanze, die dem Christus-Ensor in die Seite gestoßen wird, hat ein Spruchband, auf dem der Name Fetis zu lesen ist. Der Kritiker Fetis mit dem aus dem Bild „Christus und die Kritiker" bekannten Zylinder führt den Lanzenstich aus. Vom Christus-Ensor mit Nimbus gehen Strahlen aus; er ist der Mittelpunkt eines vom Himmel ausgehenden Strahlenbündels.

Hat man die abendländisch-christliche Ikonographie vor Augen, so wird sie bei Ensor durchbrochen: „Christus und die Kritiker" als Ecce-homo-Darstellung, der „Einzug Christi in Brüssel", die „Kreuzigung Ensors" wären solch ein Durchbruch. Die Christusgestalt wird von der Subjektivität des Künstlers nahezu aufgesogen. Ensors Christusbild ist ein Beispiel für das Phänomen, daß das Ich Thema und Darstellungsweise bestimmt, ohne gegenüber der christlichen Ikonographie eine Verpflichtung zu empfinden. Dies unterscheidet den Christus-Ensor von Albrecht Dürers Selbstporträt aus dem Jahr 1500. Gewiß, auf diesem Bild trägt Dürer die Züge Christi, so wie man sich zur Zeit Dürers Christus vorstellt. Der Künstler findet sich im Christusantlitz wieder und partizipiert am Christusideal. Anders bei Ensor. Für ihn steht die Bewältigung seiner eigenen Probleme im Mittelpunkt des künstlerischen Selbstverständnisses (Verkennung, Zorn, späterer Ruhm).

Sich selbst als Künstlerpersönlichkeit ist Ensor verpflichtet, nicht aber der christlichen Thematik, auch nicht einem Christusverständnis jenseits der eigenen Person. Nicht er findet sich in Christus wieder, sondern Christus wird aus dem Rahmen der eigenen Person begriffen.

Ensors vom eigenen Ich bestimmter Zugang zur Christusgestalt ist typisch für die Art und Weise, wie sich der moderne Künstler einem solchen Thema nähert. Nicht die überlieferte christliche Ikonographie, sondern das Ich des Künstlers wird der Bezugsrahmen für die Christusdarstellung. Das bedeutet nicht, daß es bei jedem der folgenden Künstler zu einer Christusidentifikation kommt. Wohl aber gilt für alle, daß die von ihnen gewählte Christusdarstellung aus der eigenen Subjektivität erwachsen ist.

Persönlich würde ich die Subjektivität bei Ensor zumindest in einer logischen und sich geradezu notwendig fortentwickelnden Linie von Albrecht Dürers Selbstbildnis über Cranachs Selbstdarstellung auf dem Altar in der Weimarer Stadtkirche bis eben zur Selbstkreuzigungsdarstellung von James Ensor sehen.


Schritt III: Handlung – Joseph Beuys

Ich hatte schon auf das Gespräch hingewiesen, dass Horst Schwebel 1978 mit Joseph Beuys geführt hat. 1983 bilanziert Schwebel den Ertrag noch einmal im bereits erwähnten Buch über Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts:

An Hand der Aktion „Celtic", die Joseph Beuys 1971 in Basel durchgeführt hat und die in Abwandlungen wiederholt wurde, soll die Frage nach der Zeichenhandlung mit Christusidentifikation angegangen werden. Auch diese Handlung steht unter der Beuysschen Voraussetzung, daß der Begriff „Kunst" erweitert werden soll. Zum Wesen dieser „Totalisierung" gehört, daß die der Kunst eigene Innovationsleistung nicht darauf beschränkt bleibt, innerhalb eines Kunststils allein eine Veränderung zu bewirken, sondern daß Kunst als eine Art Durchbruchspotenz begriffen wird, die in verschiedene Lebensbereiche eingreift, um dort „Transformationen" auszulösen. Vielfältiger Art sind solche Durchbrüche: Hierzu gehört, daß Beuys mit ungewöhnlichen Materialien arbeitet (mit Fett, Schokolade, Honig, Asbest, Luftpumpen usw.), ebenso wie mit „Aktionen", oder daß er jeden Menschen - potentiell zumindest - zum Künstler erklärt, d.h. daß er im Du die schöpferische Potenz, die Kreativität oder sogar den „Gott" erblickt. Unabhängig von der Frage, ob man der von Beuys vollzogenen Erweiterung des Kunstbegriffs zustimmt, stellt sich dann aber die Frage, wie man innerhalb des betreffenden Lebensbereichs oder innerhalb der betroffenen Institutionen auf eine solche Herausforderung reagiert. - Im Falle der Aktion „Celtic" ist der Herausgeforderte die Kirche, sei es, daß man darunter die einzelnen Gläubigen, die communio sanctorum, oder die Kirche in ihrer institutionellen Gestalt versteht.

Die Aktion, die in der Karwoche 1971 stattfand, begann mit einer vom Künstler an sieben Personen vollzogenen Fußwaschung. Der Ort war ein Zivilschutzbunker in Basel. Beuys fing an, den in der ersten Stuhlreihe Sitzenden die Füße zu waschen. Die Füße der Personen wurden in eine alte Emailschüssel gestellt und mit Seife gründlich gewaschen. Nach jeder Waschung wurde das alte Wasser demonstrativ ausgeschüttet und neues eingegossen. Nach der Einblendung von Filmen früherer Beuys-Aktionen, die auf diese Weise vergegenwärtigt werden, beginnt der Künstler, eine auf die Wände verteilte Gelatinemasse abzukratzen und auf einen Blechteller zu legen. Den Inhalt des Tellers kippt er über sich, nimmt eine Tafel mit Kreidezeichen, hält sie über den Kopf und artikuliert unverständliche Laute ins Mikrophon. Mit einem Stab in der Hand verharrt er über längere Zeit unbeweglich, wobei sich die Musik steigert. Darauf steigt Beuys in eine Wanne mit Wasser und läßt sich von einer Gießkanne übergießen. Nach dieser „Taufe" erhebt er die Arme in Orantenhaltung. ... Den Christusimpuls als das Schöpferische im Selbst zu entdecken, ist die Botschaft, die Beuys vermitteln will.

Du musst, du kannst den Christusimpuls aufgreifen und umsetzen – das ist es, was Beuys vermitteln will und überaus plausibel einsichtig macht.


Schritt IV: Provokation – Martin Kippenberger

Wenn man den Namen Martin Kippenberger hört, denkt man wohl kaum an einen Christusimpuls oder gar an eine Christus-Identifikation, wohl eher an das Fest der Narren, denn das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe.[3] Von Kippenberger stammt der gekreuzigte Frosch, der das Gemüt scheinbar frommer Menschen erregt und angeblich ihre religiösen Gefühle verletzt.

Weniger bekannt ist, dass es auch ein großes, thematisch dazu gehöriges Gemälde gibt (ohne Titel, aus der Serie Fred the Frog 1990, Öl/Lwd. 240 x 200 cm) und zu diesem Werk wiederum eine Vor­zeich­nung auf Hotelpapier, die heute im Besitz des Museum of Modern Art (MOMA) ist.[4] Bei diesen beiden Arbeiten hängt kein Frosch, sondern Christus bzw. ein Mensch am Kreuz. Schaut man sich diese Arbeit Kippenbergers genauer an, so ist sie im Kern zunächst einmal eine beeindruckende Studie einer Kreuzigung. Vor dem Gekreuzigten öffnet sich eine surreale Welt, in der wir ein Spiegelei mit Finger, eine Colaflasche mit Glas und einen weiteren undefinierten Gegenstand erkennen. Am oberen Bildrand des Gemäldes können wir den Namen Kippenberger entziffern, während bei der Vorzeichnung dort noch der Name des Hotels am Sunset-Boulevard in Hollywood „Mondrian“ steht.

Jedenfalls bringt dieses Bild die Kreuzigung mit dem Namen und der Person Kippenbergers zusammen. Zwar gibt es ikonographisch kaum eine unmittelbare Verbindung zu dem Multiple mit dem Frosch, aber es entstammt demselben Kontext. Dieses Bild hat aber bedauerlicherweise keine dem Frosch vergleichbare Wirkungsgeschichte gehabt, könnte aber viel zur Erhellung der Bedeutung dieses Multiples beitragen. Und wie schon bei Ensor verbindet es die Situation des leidenden Gekreuzigten mit der des Künstlers. Die Provokation besteht darin, noch im vielleicht sogar selbst verschuldeten Leiden des Künstlers einen Spiegel des Leidens Jesu Christi zu sehen.


Schritt V: Weitergabe – Olu Oguibe

Wie ordnet sich nun der Obelisk von Olu Oguibe in diese Folge von Kunstwerken ein? Auch hier sehe ich eine Form der Christus-Identifi­kation, nur ist diese noch viel zugespitzter, noch viel performativer, noch viel gewagter als die bisherigen subjektiven Aneignungen des Christusimpulses durch die Künstler. Denn wenn man es genau betrachtet, dann spricht Olu Oguibe hier ja in einem übertragenen Sinne ein Gottes-Urteil, er begibt sich in die Situation Jesu Christi im Jüngsten Gericht:

Ihr, Kasseler Bürger, das sage ich mit meinem Obelisken, habt mich - wie in Matthäus 25,35 gefordert - in eurer Stadt aufgenommen und willkommen geheißen. Wann, so fragen die Kasseler Bürger verwundert, Herr [Oguibe], haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Und er [Oguibe] antwortet ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan. Und dann wendet er [Oguibe] sich an die AfD und die amerikanischen Fundamentalisten: „Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln! Denn ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich nicht aufgenommen.“ Da reiben sich diese die Augen und fragen: Herr [Oguibe], wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dir nicht geholfen? Und er antwortet ihnen und sagt: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem von diesen Geringsten, das habt ihr mir auch nicht getan.

So dramatisch spricht das Kunstwerk von Olu Oguibe und so ordnet es sich ein in die Geschichte der künstlerischen Christus-Identifikationen: es identifiziert jene Kasseler Bürger, die seit 400 Jahren Flüchtlinge und Migranten mit offenen Armen empfangen, als Christus-Nachfolger. Das ist aus der Perspektive eines eigentlich religionsfernen Künstlers überaus bemerkenswert. Und all die Kasseler Bürger und Schein-Christen, die sich dagegen wehren, müssen sich fragen, wie sie denn zum christlich-humanitären Impuls von Matthäus 25, 35 stehen, ja, wie sie mit diesem Urteil leben können. Und siehe da: sie können es nicht.

Der Obelisk von Olu Oguibe ist künstlerisch proleptische Rede: sie greift in einer prophetischen Zeichenhandlung vorweg, was Gott am Ende der Zeiten sagen wird. Vielleicht ist das der Grund, warum die Kasseler Kirchenfürsten so wenig zu diesem Kunstwerk zu sagen haben. Weil sie sich diese Art von zugleich prophetischer wie performativer Rede längst abgewöhnt haben, weil sie sich heraushalten aus allen Verwerfungen und Urteilen. Bloß nicht anecken, bloß niemanden verschrecken. Christus-Nachfolge sieht anders aus. Die Kasseler Bürger haben es bei den Hugenotten vorgemacht. Und es wäre gut, wenn das in Kassel sichtbar bliebe.

Anmerkungen

[2]    Rombold, Günter; Schwebel, Horst (1983): Christus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Eine Dokumentation. Freiburg/Br.: Herder.

[3]    Cox, Harvey (1977): Das Fest der Narren. Das Gelächter ist der Hoffnung letzte Waffe. Gütersloh: Mohn (Gütersloher Taschenbücher/Siebenstern, 216).

[4]    Angaben des MOMA dazu: 1989. Pencil, colored pencil, felt-tip pen, ballpoint pen, and gouache on hotel stationery, 11 x 8 1/2" (27.9 x 21.6 cm). http://www.moma.org/collection/browse_results.php?object_id=96351

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/am631.htm
© Andreas Mertin, 2018