GeistesGegenwart |
This is the End ...Auf dem Tisch der RedaktionAndreas Mertin Ein interessantes Thema bearbeitet die Literaturwissenschaftlerin und Kunstführerin Cristina Gregorin zusammen mit dem Fotografen Norbert Heyl. Es geht um die Wahrnehmung der Reformation in Venedig. Jedem Venedig-Reisenden und Kunst-Interessierten ist die Diskussion der Inquisition mit Paolo Veronese über sein Letztes Abendmahl gewärtig, bei dem es um den vermuteten Einfluss der Reformation auf die Bildgestaltung ging. Das Bild sollte nach dem Beschluss der Inquisition geändert werden, erhielt aber einfach nur einen anderen Titel: Gastmahl im Haus des Levi. Heute hängt es in der Accademia und erfreut die Besucher. Das Buch „Ketzerisches Venedig“ macht aber deutlich, dass der Streit um das Gemälde von Veronese im Vergleich zu anderen Ereignissen eher eine Randerscheinung ist. Vielmehr lösten Martin Luthers Schriften in Venedig heftige Debatten aus. Dabei erwies sich Venedig im Vergleich zur restlichen katholischen Welt eher als tolerant, Gottesdienste wurden im Privaten geduldet. Das Buch von Gregorin und Heyl stellt auf gelungene Weise die Stadt vor und nicht zuletzt ihre Bedeutung für den europäischen Bücherhandel. Schließlich werden die einzelnen reformatorischen Gemeinden in der Lagunenstadt vorgestellt. Wirklich aufregend ist der Abschnitt über die Frage der Bestattungen protestantischer Gläubiger in Venedig, die lange Zeit nicht neben Katholiken zur Ruhe gebettet werden durften und deshalb auf den Lido „abgeschoben“ wurde. Jenseits der konventionellen Reiseführer ist dies einmal eine andere und überaus bereichernde Art, sich Venedig zu nähern. Eine Lektüreempfehlung! Der Filmkritiker Georg Seeßlen ist ein meinungsstarker Publizist. Und so ist sein jüngstes Buch über den Pop zwischen Befreiung und Unterdrückung auch weniger eine analytische Auseinandersetzung mit popkulturellen Einzelphänomenen, als vielmehr eine grundsätzliche Perspektivierung. Ich will zugestehen, dass mich bei der Lektüre des Buches manchmal Depressionen einholten, was man als Kritiker der Popkultur heute eigentlich überhaupt noch leisten kann. Anders als etwa bei Theodor W. Adorno, der trotz des verkündeten universalen Verblendungszusammenhangs immer auch Freude an der kritischen Beobachtung der Gegenwart vermittelt und nicht in eine Perspektive der Ausweglosigkeit gerät, bin ich mir bei den Ausführungen von Seeßlen nicht ganz sicher.
Andererseits kann man viel bei Seeßlens Beobachtungen lernen und mit den eigenen Studien der Popkultur vergleichen. Wo gibt es Übereinstimmungen und wo Differenzen. Ist es wirklich so einfach, Helene Fischer und Frei.Wild in ein Korsett zu zwingen? Befinden wir uns wirklich in einer Zeit der postdemokratischen Ästhetik? Oder ist das Problem nicht eher, dass wir uns in einer Zeit der „demokratischen Ästhetik“ befinden? Als Protestant glaube ich nicht an das Gute im Menschen und halte deshalb das, was wir im Augenblick beobachten, für die ungezügelte Normalität so schwer das auch zu ertragen ist. Ich sehe keine Apokalypse, sondern nur das ganz normale Leben „Jenseits von Eden“. Mir persönlich liegt daher der weniger apokalyptisch angehauchte Ton der Cultural Studies eines John Fiske näher. Aber das muss jeder für sich selbst entscheiden. Vielleicht, das wäre meine Lektüreempfehlung für dieses Buch, muss man es genießen wie den morbiden Charme jenes legendären Intro-Videos von Apocalypse Now zur Musik „The End“ der Gruppe The Doors. Und man sollte bedenken: Auch Jim Morrison lebt weiter. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/am633.htm |