Das Geheimnis des Daniele da Volterra

Horst Schwebel

I.

Vielleicht wissen Sie gar nicht, wer Daniele da Volterra war. Obgleich er als Maler wie auch als Bildhauer Spitzenwerke schuf, ging er als Spottfigur in die Geschichte ein. Was mag damals in Daniele vorgegangen sein?

„Komm her, Braghettone, setz dich zu uns“, riefen sie ihm zu, wenn er die Osteria betrat. „Wen hast du heute mit einem neuen Höschen beglückt?“ Mit Braghettone, Hosenmacher, hänselten sie ihn, Daniele da Volterra, der es unternommen hatte, die nackten Körper in Michelangelos „Jüngstem Gericht“ einzukleiden. Wäre es nach der Clique im Vatikan gegangen, hätte man das „Jüngste Gericht“ aus der Sixtinischen Kapelle gleich herausgenommen und vernichtet. Doch nach langem Hin und Her wurde ihm, Daniele, der Auftrag erteilt, jene Körperteile aus Michelangelos Bild zu übermalen, die vom Herrgott zwar erschaffen, vom Klerus aber als anstößig empfunden wurden.

Überraschenderweise schien Daniele den Spott der Freunde und Kollegen widerspruchslos hinzunehmen. Paul IV., der neue Papst, hatte Daniele persönlich mit dieser Aufgabe betraut. Selbst Michelangelo war damit einverstanden. Aber nur, weil es Daniele war, der Freund früherer, besserer Tage, während Michelangelo die Theologen allesamt zur Hölle wünschte. Da mochten sich Danieles Freunde und manch schnatterhaftes Gesindel in der Osteria über den Braghettone die Mäuler zerreißen. Für Daniele ging es um mehr. Nicht nur um Hosen und Stofffetzen. Daniele hatte einen Auftrag. Dem galt es gerecht zu werden. Doch es gab noch einen anderen Grund. Aber dies war Danieles Geheimnis.

II.

Achtzehn Jahre waren vergangen, seit Michelangelos das „Jüngste Gericht“ vollendet hatte. Was hatte sich inzwischen nicht alles geändert? In Trient hatte ein Konzil stattgefunden, in dem beschlossen wurde, welche Bilder in den Kirchen erlaubt seien und welche nicht. Die Jesuiten waren in Rom eingezogen. Jetzt wurde auch das gedruckte Wort der Zensur unterzogen. Nachdem die Inquisition eingeführt wurde, gab es bereits erste Prozesse.

Man fing an, in Kunstwerken Irrlehren zu entdecken. Selbst vor Michelangelo wurde nicht Halt gemacht, obgleich er unter Päpsten die Sixtinische Kapelle ausgemalt hatte und jahrelang für die Arbeiten am Petersdom verantwortlich war. Es war sein „Jüngstes Gericht“, das ins Schussfeld der Theologen geraten war.

Nach Andrea Gilio, dem schärfsten Kritiker an Michelangelos Bild, stimmte am „Jüngsten Gericht“ aber auch gar nichts mehr. Dem bartlosen Christus fehlte die Würde, die umherwirbelnden Engel hatten keine Flügel. Die Heiligen wurden in ihren Gebärden der Lächerlichkeit preisgegeben. In der Unterwelt den Charon auf der Barke auffahren zu lassen, empfand Gilio als heidnisch.

Aber es kam noch Schlimmeres hinzu. nämlich die schamlose Nacktheit von Michelangelos Figuren. Gewiss, das Schamteil des athletischen Christus blieb verdeckt und die Maria war in ein Gewand verhüllt. Aber die übrigen Personen waren ausnahmslos nackt, die Verdammten, die Geretteten, die Heiligen, selbst die flügellosen Engel. Die anstößigen Körperteile wurden, so Gilio, nahezu provokativ dem Publikum entgegengestreckt.

Da half es wenig, dass die Akademie St. Lukas Michelangelos Bild lautstark verteidigte. Dank des Konzils hatten die Gegner des Bildes allemal die besseren Karten. Und Michelangelo, der das achtzigste Lebensjahr bereits überschritten hatte, war ins eigene Innere abgetaucht und schrieb Verse. Anders dagegen Daniele da Volterra. Viele wunderte es, wie der schwerblütige und öffentlichkeitsscheue Daniele für das „Jüngste Gericht“ Partei ergriff und Michelangelos Bild als „einzigartiges Meisterwerk“ verteidigte. Die angeprangerte Nacktheit derer, die aus den Gräbern auferstünden, sei doch etwas ganz Natürliches. Woher sollten denn die aus den Gräbern zu Kleidern gekommen sein?

Das war ein einfältiges Argument. Doch man konnte ihm nichts entgegensetzen. Dann sollte man wenigstens die Schamteile mit einem Lendenschurz abdecken, meinte Andrea Gilio.

Dies war der Punkt, wo Daniele endgültig ins Zentrum des Geschehens trat. Michelangelo kam auf Grund seines Alters und seiner Widerborstigkeit für Änderungen nicht mehr in Frage. Daniele, der Treue, indes war zum Opfergang bereit. Den hohen Herren erklärte er, dass er die anstößigen Stellen zu übermalen gedenke. In nächster Zeit, das war ihm klar, würde er mit nichts anderem beschäftigt sein, als unter dem Bauchnabel befindliche Körperteile zu übertünchen. Dass er mit geheuchelten Mitleidsbezeugungen, aber auch mit offener Schadenfreude, würde rechnen müssen, war Daniele bewusst. Dass ihn die Kollegen einmal Braghattone, Hosenmaler, nennen würden und dass er mit diesem Namen sogar in die Geschichte eingehen würde, konnte er freilich nicht wissen.

Der Papst und das Kardinalkollegium waren jedenfalls froh, dass Daniele da Volterra einverstanden war. Denn so, wie es jetzt war, konnte das „Jüngste Gericht“ nicht bleiben. Aber Michelangelos Bild zu entfernen, hätte zu einem Aufstand der sogenannten Gebildeten geführt, was unbedingt verhindert werden musste.

Indem sie die Verantwortung für das weitere Geschehen in die Hände von Daniele gelegt hatten, war den hohen Herren aber auch bewusst, dass sie ihn damit einem Höchstmaß an Anfechtungen ausgesetzt hatten. Hatten sie ihn beauftragt, die besagten Körperteile zu übermalen, so war nicht auszuschließen, dass er in seinen Träumen durch unsittliche Vorstellungen okkupiert, wenn nicht sogar zu unzüchtigem Tun verleitet würde. Man schlug Daniele darum vor, ihm einen Beichtvater zur Seite zu stellen, nämlich Antonio de Brosio, der mit solchen Vorkommnissen vertraut war und als Spezialist für gewisse Anfechtungen dem Künstler die entsprechende Erleichterung mittels Beichte würde zukommen lassen. Doch Daniele hatte dieses Angebot schlichtweg abgelehnt, obgleich ihm über seinen potentiellen Beichtvater nur Positives zu Gehör gekommen war.

III.

Bevor Daniele mit seinem Werk begann, stellte er sich vor das „Jüngste Gericht“, um die Fülle von Michelangelos Figuren auf sich wirken zu lassen. Da gab es die Geretteten, die von Christi Arm nahezu magnetisch emporgezogen wurden. Gestalten, einzeln und in Zweier- und Dreiergruppen verschlungen, wirbelten nach oben, wobei sie im Flug den Nachkommenden helfend die Hände entgegenstreckten. Dann gab es noch die anderen, die Verdammten, die nach unten gezogen wurden und, sich hoffnungslos umklammernd, kopfüber und kopfunter in die Tiefe stürzten. Die Heiligen hielten die Gerätschaften ihrer Marter noch in Händen. Bei der heiligen Barbara war dies das Rad, und Bartholomäus reichte Christus gar die abgezogene Haut, auf der Michelangelo sein eigenes Antlitz abgebildet hatte. Daniele gewahrte die Vielfalt der Gebärden und Posen, der Charaktere und Temperamente. Dass Charon mit dem Knüppel die Schiffsbesatzung von der Barke trieb, war für Michelangelo ein willkommener Anlass, sein nahezu grenzenloses Repertoire an Formen des Fliehens, Fallens, Stürzens und Ins-Wasser-Springens vor Augen zu stellen. Daniele war klar: „Raffael hätte so etwas nie gekonnt.“

Alle Personen waren also nackt. Und das war gut so. Es gab keinen Unterschied von Stand und Würde. Es gab keinen Papst, keinen König, keinen Edelmann. Ob einer zu den Erwählten gehörte oder zu den Verdammten, das lag allein an Christus. Den einen war er gnädig, die zog er nach oben, die anderen wies er in den Abgrund.

Diesen Figuren also Lendenschurze oder etwas Ähnliches zu verpassen, so lautete der Auftrag.

Daniele ging das langsam an. Zwei der Verdammten, die dem Betrachter ihr Hinterteil zuwandten, verpasste er Hosen bis zum Knie. Die heilige Barbara beglückte er mit einem grünen Kleid, das ihren vorgebeugten Körper vollständig bedeckte. Doch bald zogen ihn die muskulösen Männerkörper in ihren Bann. Mit trockenem Pinsel und großer Sorgfalt glitt er über die Körperpartien, die unsichtbar zu machen ihm anvertraut war. Unvorhersehbarer Weise wurde er zum Entdecker und Erfinder. Außer farbigen, wehenden Tüchern entwarf er Schurze aus Stoff, Leder und wolligen Fellen, die von Schnüren mit kostbaren Perlenköpfen die besagten Körperteile umspannten.

Je länger er sich mit den Körpern beschäftigte, umso mehr spürte er mit ihnen eine gewisse Vertrautheit. Da beide, Michelangelo und er, nicht nach Abbildungen arbeiteten, sondern wirkliche Menschen als Modelle nahmen, empfand er die Nähe ihrer personalen Existenz. So kam es vor, dass Daniele vor einer Michelangelo-Figur minutenlang verweilte. Es gab Figuren, mit denen er sprach, die er morgens begrüßte, nachdem er sich am Tag zuvor von ihnen verabschiedet hatte.

Gewiss, in der Osteria war er bloß der Braghattone, der Hosenmaler, über den man Witze machte. Die abendlichen Spötter konnten nicht wissen, dass der von Schwermut Geplagte bei seiner Tätigkeit Augenblicke unbeschreiblichen Glücks erfuhr. Waren doch diese Körper ein einziger umfassender Leib, an den er täglich - mal sanft, mal roh - Hand anlegen durfte. Manchmal kam es ihm vor wie in dem Sonett, das Michelangelo an den Freund Cavalieri geschrieben hatte:

„Wär doch mein rauhes Fell wie das, aus dem
Dein Kleid gewebt ward, Dir zum Schutz und Wohle,
Dass ich an Deinem Körper dürfte bleiben
Den ganzen Tag!“

 So wie es Michelangelo an Cavalieri schrieb,

„Dass ich an Deinem Körper dürfte bleiben
Den ganzen Tag“,

so empfand auch er, Daniele, wenn er sich den Körpern zuwandte, die Michelangelo geschaffen hatte, in denen er Michelangelo verspürte. Nie zuvor war er dem Freund so nahe gekommen.

Und das war Danieles Geheimnis, weshalb ihm der Spott der Freunde und Kollegen, auch der Spott Vasaris und der späteren Kunstgeschichte, nichts anzuhaben vermochte.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/hs24.htm
© Horst Schwebel, 2018