„Sich auf der Höhe der Kunst ihrer Herausforderung stellen“

Ein fortgeschriebenes Interview

Horst Schwebel / Andreas Mertin

Schwebel: Im Juni 2005 hast Du in Paderborn einen Ehrendoktor bekommen und dabei hat der Laudator Harald Schroeter-Wittke Dich als einen der kreativsten und innovativsten deutschsprachigen Theologen bezeichnet. Viele Theologen sind vor allem biblische Theologen. Du hast aber andere Schwerpunkte. Könntest Du Deine Schwerpunkte beschreiben?

Mertin: Meine Schwerpunktsetzung im Bereich der Begegnung von Theologie und Ästhetik bzw. von Kunst und Kirche kam im Rahmen meiner Arbeit am Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart. Grundsätzlich hat mich an der Theologie immer interessiert, was sie in die Gegenwart hinein an lebendigen, gegenwartsrelevanten Aussagen machen kann, wo sie also geistesgegenwärtig wird. Meine akademischen Lehrer waren solche, die es verstanden, Theologie auch in die jeweilige Gegenwart hinein zu vermitteln, also nicht nur Geschichte vorzustellen, sondern zu sagen, was die biblischen Aussagen mit der Gegenwart zu tun haben. Mein sich daraus entwickelnder Ansatz im Umgang mit der zeitgenössischen Kultur war dann, nach einem erkenntnisproduktiven Umgang mit der pluralistischen zeitgenössischen Kultur in religiöser Perspektive zu suchen.

Schwebel: Gegenwärtig wird der Begriff Kultur auch in theologischen Zusammenhängen positiv gewertet. War das bei Deinen Anfängen auch schon der Fall?

Mertin: Nein. Meiner Ansicht nach hat die Renaissance des Kulturbegriffs in der Kirche heute allerdings mehr mit Verwaltung als tatsächlich mit der Erforschung der Kultur der Gegenwart zu tun. Ganz nach dem Wort von Theodor W. Adorno „wer Kultur sagt, meint Verwaltung“. Ich kann im Augenblick nicht erkennen, dass diese Thematisierung der Kultur, wie sie sich in der Denkschrift und anderen Verlautbarungen der Kirche äußert, tatsächlich auch begleitet ist von einem neuen Interesse an dem, was in Literatur, Musik und bildender Kunst aktuell passiert. Es gibt vielleicht ein abstraktes Interesse, sich mit Kultur zu beschäftigen, aber es gibt kein spezifisches Interesse im Sinne einer kulturellen Geistesgegenwart.

In den 80erJahren gab es dagegen noch ein vitales Interesse an dem, was in der zeitgenössischen Kultur passierte, weil man sich herausgefordert und provoziert fühlte durch Schriftsteller, Musiker und bildende Künstler. Da musste man sich fragen: Wie kann ich mich als Theologe zur Kultur äußern, wenn die Kultur elementare Fragen der Theologie aufgreift. Das scheint mir heute anders zu sein.

Schwebel: Du würdest sagen, dass gegenwärtig ein Interesse an Kultur besteht, dass aber primär instrumentell ist.

Mertin: Wenn man Anfang der 80er-Jahre auf eine Kunstmesse ging, traf man dort auch interessierte Theologen. Gegenwärtig ist das eher der Ausnahmefall. Ich glaube nicht, dass es für einen Theologen oder ein Mitglied der Kirchenleitung heute selbstverständlich ist, auf eine Kunstmesse oder in eine Galerie zu gehen. Und das vermutlich deshalb, weil sie die Herausforderung durch die aktuelle Kunst gar nicht mehr verspüren. Aktuell beschäftigt man sich mit Kultur in einem abstrakten Sinne. Und man hat ein Bild an der Wand, weil man ein Bild an der Wand zu haben hat. Dass ein Kunstwerk, ein Literaturstück aber ebenso einen eigenen Wahrheitsanspruch hat wie eine religiöse Aussage - dieses Bewusstsein ist verloren gegangen. Mit anderen Worten, in dem Maße, in dem die Kirche sich der Kultur durch Verlautbarungen genähert hat, hat sie sich zugleich der Herausforderung der Kultur entzogen.

Schwebel: Wenn Du Kultur sagst, sind ja mehrere Bereiche gemeint. Man kann an Literatur denken, an Musik, an bildende Kunst oder auch an die Medien. Ich denke, dass wir zunächst uns mit der bildenden Kunst beschäftigen. Kannst Du sagen, worin die Herausforderung der bildenden Kunst an die Theologie besteht.

Mertin: Die an Kunst interessierte Theologengeneration vor mir musste zeitgenössische autonome Kunst im Raum der Kirche erst noch legitimieren und plausibel machen. Anfang der 80er-Jahre war dies im Großen und Ganzen geschehen. Danach galt es zu zeigen, dass unabhängig von einer spezifisch religiösen Fragestellung alle Kunst für die Theologie und die christliche Religion bedeutsam ist. Man braucht nicht mehr spezifische Anknüpfungspunkte, sondern alles, was wir im Bereich der Künste vorfinden, ist theologisch von elementarem Interesse. Das heißt, man muss zum Beispiel auch die Beiträge postmoderner Kunst und Kultur theologisch fruchtbar machen, man muss lernen, dass eine an der Oberfläche orientierte Kultur nicht als Kulturverlust zu interpretieren ist, sondern als Bereicherung des (religiösen) Lebens. Anfang der 80er-Jahre wurde die Kunst spielerischer und ironischer, ohne dass ihr Wahrheitswert oder ihre Ernsthaftigkeit in einem elementaren Sinne aufgegeben wurde. Zu fragen war deshalb: Wie kann ich Arbeiten etwa von Damien Hirst theologisch wahrnehmen, ohne sofort in einen kulturpessimistischen Habitus der Klage über den Verfall der Kultur zu geraten? Wie kann man diesen Aufbruch der Unterhaltungskultur in den Hochkulturbereich hinein theologisch deuten und innertheologisch fruchtbar machen? Das war die Herausforderung der 80er- und 90er-Jahre.

Schwebel: Es ist interessant, dass Du nicht nur von der klassischen Moderne gesprochen hast, sondern bereits von der Postmoderne und auch von dieser Ästhetik, die auch das Triviale und das Unterhaltungsmoment einbezieht. Ich möchte aber noch einmal zurückfragen: Du machst deutlich, wie wichtig Kultur ist und natürlich auch, was bildende Kunst bedeutet, welche große Öffnung hier von theologischer Seite vonnöten ist. Interessant ist allerdings, dass Du Dich bei der Begegnung von Theologie und Gegenwartskunst am Bilderverbot orientierst. Man könnte ja annehmen, dass jemand, der das Bilderverbot im Mund führt, sich der Kunst nicht öffnet. Könntest Du diesen Gegensatz – wenn er einer ist – versuchen aufzulösen.

Mertin: Ich komme aus einer reformierten Tradition, in der das Bilderverbot als Kultbildverbot immer gültig war. Gleichzeitig gab es bei mir zu Hause eine Fülle von originalen Kunstwerken, d.h., in meiner Tradition gibt es keinen Widerspruch zwischen Kunstbesitz, Kunstinteresse und Bilderverbot. In einer reformierten Kirche gibt es zwar keine Bilder, aber natürlich hat man zu Hause Gemälde an der Wand hängen. Mein bewusster Umgang mit dem Bilderverbot kam dann, als ich Horst Bredekamps Dissertation „Kunst als Medium sozialer Konflikte“ las, in der er nachweist, dass der Reflexionshorizont der Bilderstürmer und Bildkritiker in der gesamten Kunst- und Kulturgeschichte auf der gleichen intellektuellen Höhe war, wie die ihrer Gegner, der Bildbefürworter und Bildanbeter. Das heißt, man ist kein Barbar, wenn man sich kritisch mit Bildern auseinandersetzt, sondern man ist intellektuell geradezu auf der Höhe der Zeit. Hinzu kam dann noch die Erkenntnis, dass man die gesamte kulturelle Moderne als Umsetzung des biblischen Bilderverbots begreifen kann. In einem ikonoklastischen Akt sondergleichen wurde in der Moderne alles auf den Prüfstand gestellt, was für die Kunst und die Kultur bis dahin Gültigkeit hatte. Alles, was man bis dahin von der abbildenden Funktion der Kunst gesagt hatte, wurde negiert. Das kann man als säkulare Umsetzung des Bilderverbots begreifen. Diese beiden Punkte sind für mich wichtig: dass die Kunst selbst eine Kunst des Bilderverbotes geworden ist und dass das Bilderverbot an sich nichts Negatives ist, sondern etwas intellektuell Herausforderndes. Beide Punkte haben mich motiviert, hier weiter zu forschen. Mir wurde dabei klar, dass die Beschäftigung des Theologen mit Bildern in einem bestimmten Sinne nur ikonoklastisch sein kann und zwar deshalb, weil man notwendig im Interesse theologischer Erkenntnis immer wieder den dynamischen ästhetischen Prozess still stellen muss. Das habe ich dann 1988 im Unterschied zu anderen Formen des Ikonoklasmus den legitimen Ikonoklasmus genannt.

Schwebel: Können wir das noch einmal vertiefen? Was bedeutet ‚stillstellen’? Was wird angehalten?

Mertin: Wenn man Kant folgt, dann ist ja die adäquate Haltung, die man gegenüber bildender Kunst ausbildet, die eines interesselosen Wohlgefallens. Kant hatte gefragt, wie ist ästhetische Erfahrung möglich bzw. wie kommen ästhetische Urteile zustande. Seine Antwort war, dass ästhetische Urteile keine Qualität des Objekts spiegeln, sondern vielmehr Äußerungen des Lust- und Unlustgefühls der Rezipienten sind. „Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben“ (Kant, KdU § 1). Dieses spielerische Hin und Her, das Identifizieren, das meint, etwas erfasst zu haben und es doch nicht erfassen kann, erzeugt in uns ein Gefühl, das wir ästhetische Erfahrung nennen. Und sie treibt uns dazu, uns immer weiter mit bildender Kunst zu beschäftigen. Wenn ich aber als Theologe gegenüber einem Kunstwerk agiere, habe ich ein Moment des Finalen im Erkenntnisprozess, ich will ja so etwas wie eine religiöse oder theologische Deutung des Werks. Das muss notwendig den Prozess der ästhetischen Erfahrung unterbrechen bzw. ihn punktuell still stellen. Als ‘legitimer’ Ikonoklasmus lässt sich somit das Spannungsverhältnis zwischen Theologie und Kunst bezeichnen, in dem die theologische Hermeneutik ästhetische Erfahrung momentan still stellt, um aus ihr Erkenntnisse für die Theologie zu gewinnen. Das ist ein Vorgang, den man zurecht mit Albrecht Grözinger paradox als die Aufgabe beschreiben kann, eine autonome Ästhetik heteronom zu denken, ohne dabei den Bezugspunkten „Ästhetik“ und „Theologie“ Gewalt anzutun. Die Perspektive des Gesprächs zwischen Kunst und Theologie, so habe ich es seinerzeit formuliert, liegt in der Koinzidenz ihrer Momente: zwischen Bilderverbot und ästhetischem Schein. Das Paradigma christlicher Kunsterfahrung ist der Bilderstreit.

Schwebel: Die ästhetische Erfahrung wäre eine Permanenterfahrung, die ad infinitum geht und wenn der Theologe kommt, dann unterbricht er diese ad infinitum gehende Erfahrung.

Mertin: Wenn er ein theologisches Urteil über Kunst sprechen will, wenn er sie deuten will, muss er das machen. Und das gilt nicht nur für moderne Kunst. Wer einem Dürer in einem Museum begegnet und sagt einfach: das ist Kunst, der macht keine ästhetische Erfahrung. Für ihn ist das eigentlich nur ein kulturgeschichtliches Gut, aber ästhetisch erfahren wird es nicht. Man sieht diverse Objekte an der Wand hängen, von denen andere Menschen gesagt haben, das sei Kunst, also schließt man, dass es dann wohl auch Kunst sein muss. Wer allerdings ästhetische Erfahrungen mit einem Dürer machen will, der muss ganz neu ansetzen, der muss riskieren, dass dieser Dürer bei ihm keine ästhetische Erfahrung auslöst, dass dieser Prozess, dieser unbeendbare Prozess des Zauderns zwischen Lust und Unlust, nicht zustande kommt. Nur wer ihn riskiert, lässt sich auf ästhetische Erfahrung ein. Wenn man dagegen als Theologe Äußerungen über Kunst macht, hat man den Prozess ästhetischer Erfahrung schon wieder verlassen und bringt die ästhetische Erfahrung in einen anderen, fremden Rahmen.

Schwebel: Er wird es ja wahrscheinlich versuchen. Er wird ja das, was er ästhetisch erlebt hat, in sein theologisches Weltbild zu integrieren versuchen.

Mertin: Ja, die Frage ist aber, ob und wie das geht und ob es sich bei der häufig anzutreffenden Analogiebildung nicht wie John Dewey meint, um eine Kategorienverwechslung handelt. Was man als Theologe machen kann, daran würde ich auch heute festhalten, ist, Erfahrungen, die man mit ästhetischen Prozessen macht, theologisch zu bearbeiten. Man muss theologische Sätze über Kunst formulieren, nur darf man nicht glauben, dass man damit Sätze über Kunst macht, sondern man macht theologische Sätze über Kunsterfahrung. Man kann – wie es ein Kollege vorgeschlagen hat – religiöse Erfahrungen mit ästhetischen Erfahrungen machen. Auf dieser Ebene religiöser Erfahrungen mit ästhetischen Erfahrungen kann ich produktiv arbeiten, muss mir aber klar sein, dass man da nur theologische Sätze sagt. Das sind nicht Sätze im Diskurs des Ästhetischen, nicht Sätze auf der Ebene der Kunsterfahrung. Ich deute unter der Erfahrung des befreienden Gottes vom Sinai und der Erfahrung Jesu Christi die Erfahrungen, die ich davor mit dem Kunstwerk gemacht habe, und suche sie produktiv im religiösen Sinne zu machen.

Schwebel: Ja. Also jemand, der von ästhetischen Erfahrungen herkommt, hat einiges erlebt und kommt, wenn er Theologe ist, jetzt in eine neue Situation. Auf jeden Fall wäre das aus theologischer Sicht ein Gewinn. Kann auch die Kunst heutzutage im Umgang mit Theologie und Kirche einen Gewinn haben? Ist es nicht bereits ein Gewinn, wenn man den Begriff Bilderverbot einbringt, und man die Kunstszene mit einer solchen Deutung konfrontiert, mit einem Begriff, der ja eigentlich dort nicht heimisch ist.

Mertin: Wenn Anselm Kiefer in der Knesseth in Jerusalem sagt: „Was mich als Künstler antreibt, ist das Bilderverbot“ zeigt das, wie tief auch das Denken des Bilderverbots in die autonome Kunst der Gegenwart einbezogen ist. Zugleich aber gilt, wenn man nach dem Ertrag dieses theologischen Denkens für die Kultur fragt, dass wir den Künstlern sagen können, egal was ihr in der Kunst macht, wir als Kirche, als religiöse Menschen stehen hinter euch, weil die Kultur und damit auch die Kunst ein Bereich ist, den Gott uns als Spielfeld freigegeben hat. Es gibt hier keine religiösen Normen, nichts, wo es Zensur oder Verbote gibt. Vielmehr bejaht die Kirche die kulturelle Tätigkeit des Menschen mit allen Kräften. Es gibt freilich eine einzige Grenze aus Sicht dieser Theologie und zwar dort, wo die bildende Kunst selber als Religion auftritt, wo sie sich zur Konkurrenzreligion macht, wo sie Kultbilder schafft, wo sie Verehrung fordert, da ist die klare Grenze. Das ist aber eine Grenze, die auch von Seiten der Kunst errichtet wurde. Kunst produziert keine Kultbilder, sondern Kunst produziert Kunst-Bilder. Ich verstehe mein theologisches Modell also so, dass ich den Künstlern sagen kann, dass das christliche Verständnis von Kultur so viel an kultureller Tätigkeit ermöglicht, wie es eben nur geht. Wir sind Freigelassene der Schöpfung. Gott hat uns den kulturellen Raum als Spielraum gegeben. Es ist jener Bereich, wo wir uns als Menschen von Tieren unterscheiden. Da redet Gott uns nicht rein, sondern wir können dort unsere ganze Produktivität entfalten. Nun könnte jemand sagen, warum brauchen wir dann überhaupt noch Theologen, die sich mit Kultur beschäftigen, man kann dann doch Kunst einfach Kunst sein lassen. Aber da es noch so viele gibt, die meinen, man könne aus der Bibel auch noch Richtschnüre für Literatur, Bildende Kunst und Musik ableiten, bedarf es der Theologen, die die Freiheit der Kultur und Kunst bekräftigen. Mit Kurt Marti und Kurt Lüthi gilt: Christus ist die Befreiung der Künste zur Profanität.

Schwebel: Wenn sich Theologie und Kirche gegenüber Kunst so verhalten würden, wie Du das beschrieben hast, dann wäre das auch aus meiner Sicht ein Idealfall, weil dann auch die Freiheit ernst genommen wird und die Kunst als ein großes Spielfeld des Lebens begriffen würde, auf das man zurückgreifen kann. Aber in der Kirche gibt es ja auch andere Vorstellungen. Beispielsweise spielt neuerdings in Veröffentlichungen der Begriff des Missionarischen eine große Rolle und das Missionarische wird dann direkt auf Kunst bezogen. Man beschäftigt sich mit Kunst, um beispielsweise die vergessene biblische Geschichte wieder unters Volk zu bringen. Und überhaupt, die Kirche in einem neuen Licht entstehen zu lassen. Wie stehst Du zu dem Begriff des Missionarischen, der jetzt auf Kunst von kirchlicher Seite angewandt wird?

Mertin: Einmal halte ich die missionarische Vereinnahmung der Kunst für unevangelisch, weil ein Freiraum, der uns Menschen gewährt wurde, durch eine Art gesetzlicher Vorgabe eingeschränkt wird, angeblich im Interesse des Evangeliums, im Interesse der Kirche und ihrer Verkündigung. Funktionalisierungen dieser Art sind nicht evangelisch und auch mit der Lehre der Reformatoren nicht zur Deckung zu bringen. Das ist das eine. Ich kritisiere also das zugrunde liegende theologische Modell und halte es eher für ein institutionell-ideologisches. Die andere Seite ist die, dass diejenigen, die so etwas fordern, dafür in 30, 40, 50 Jahren den Preis bezahlen müssen, nämlich die fortgeschrittene Selbst-Gettoisierung der Kirche in kulturellen Fragen. Es ist einfach lächerlich, was an bildender Kunst unter diesem Erkenntnisinteresse herauskommt, wenn man nur noch auf jene Kunst zugeht, die das eigene Interesse spiegelt unter dem Motto: wie gut kann mir der Künstler eine Auferstehung illustrieren oder wie gut kann er mir eine Himmelfahrt an die Kirchenwand malen. Das ist vor-aufklärerisch und ein Missverständnis dessen, was Kunst ist. Man achtet nicht mehr auf das, was in der bildenden Kunst vor sich geht, sondern fokussiert seinen Blick so, dass 95% des Kulturgeschehens aus dem Blick geraten. Diese bewusste kulturelle Deformierung und kulturelle Nivellierung der Kirche ist unverantwortlich. Man muss alles tun, damit so etwas nicht passiert. Man kann doch nur dankbar sein für das Produktive, auch theologisch Produktive, dass Künstler in das Gespräch mit der Kirche einbringen, dass sie sich auf die Räume einlassen und dass sie dabei Kunstwerke präsentieren, mit denen man in den kühnsten Träumen nicht gerechnet hätte. Das kann man nicht erreichen, wenn man theologische oder ikonographische Vorgaben, schon gar nicht missionarische Vorgaben macht. Aber natürlich kann die Kirche das zum Programm erklären. Ich würde das mit einiger Gelassenheit von außen betrachten, aber man wird dann auch die Kunstgeschichte darüber urteilen lassen müssen, was als Ergebnis dabei herauskommt.

Schwebel: Ich möchte aus der Theorie in den Bereich der Praxis wechseln und dabei auf Deine documenta-Begleitausstellungen zu sprechen kommen. Du hast zwischen 1997 und 2007 drei derartige Ausstellungen durchgeführt. Lässt sich das, was Du zuvor gesagt hast, 1:1 auch bei solchen Ausstellungen verwirklichen oder sind die Ausstellungen jetzt noch anders zu verstehen?

Mertin: Es lässt sich aus verschiedenen Gründen nicht 1:1 umsetzen. Einmal gilt natürlich: niemand kann sich wirklich 100% an seine eigene Theorie halten. Da halte ich es für weiser im Zweifelfall, wenn es nicht anders geht, auch einmal die strikten Vorgaben meiner eigenen Theorie beiseite zu lassen. Denn mir ist die Kunst wichtiger als dass ich mich jetzt sklavisch an mein eigenes Theoriemodell halte. Und so etwas lässt sich auch deshalb nicht 1:1 umsetzen, weil ich nicht allein entscheiden kann, was in einem Kirchenraum realisiert wird, sondern mich in einer ganz spannenden Gemengelage von Kirchengemeinde, Oberkirchenräten, Bischöfen, Künstlern, Galeristen, Rezipienten befinde, deren Erwartungen und deren Denken ich als Kurator in eine Konstellation bringen muss, die so weit wie möglich alle zufrieden stellt. Das ist etwas, wo man immer Kompromisse machen muss. Es gibt viele Künstler, die ich gerne ausgestellt hätte, wo das einfach nicht realisierbar war, weil es an bestimmten Konstellationen scheiterte. Da ich die vitale Begegnung von Religion und Kunst zu meinem kuratorischen Prinzip gemacht habe, muss ich immer mit Widersprüchen und Konflikten unter den Beteiligten rechnen. Eine Gemeindekirche ist keine Citykirche, die man einfach als Ausstellungsraum nutzen kann, sondern sie ist ein Raum, der mit Bedeutung, mit Resonanzen und mit religiösen Atmosphären gefüllt ist. Und wenn es eine konkrete liturgische Praxis in einer Kirche gibt, dann muss ich im Gespräch mit dem Künstler darauf hinweisen, das heißt, wir müssen das berücksichtigen. De facto gibt es einen Dialogprozess zweier einander begegnender Parteien, der Kirchengemeinde und dem Künstler. Insofern gibt es da notwendig Einschränkungen. Andererseits ist es so, dass ich die in Frage kommenden Künstler nicht danach auswähle, was passt zur Kirche, sondern ich gehe über Messen, in Ausstellungen und mache Galeriebesuche und wähle das aus, was mir als gute und perspektivenreiche Gegenwartskunst erscheint. Und dann, wenn ich meine, jemanden gefunden zu haben, der ein großes Potential hat, dann frage ich ihn. Und ich schlage ihn dann meinen Auftraggebern auch für die in Aussicht genommene Ausstellung vor. Und dann ist meine Aufgabe auch schon weitgehend getan, denn in der Folge ereignet sich dann ein produktives theo-ästhetisches Geschehen oder es geschieht eben nichts. Das heißt, mit meiner Vermittlung muss der Raum der Kirche und das Schaffen des Künstlers in eine produktive Konstellation kommen.

Schwebel: Kannst Du denn ein Beispiel nennen von einer Aktion oder einem Projekt, bei dem Du der Meinung bist, dass dies besonders gelungen ist oder vielleicht sogar Dein bestes Projekt ist.

Mertin: Das zu benennen ist immer schwer, weil jedes Projekt einmalig und nicht wiederholbar ist. Trotzdem nenne ich ein herausragendes Kunstereignis, die Arbeit von Thom Barth bei der documenta-Begleitausstellung 2002, also die Öffnung und der Ausbau des Kirchenfensters, der Aufbau eines Gerüstes, wo man auf 6 Meter Höhe mitten durch die Kirchenwand in die Kirche hineingeht und über dem Kirchenschiff schwebt und das ganze Geschehen durch rosarote Transparentfolie betrachtet, die mit Alltagsmotiven bedruckt ist. Ich glaube, dass das etwas ist, was weder ein Museum noch eine andere Kirche weltweit so wiederholen können wird. Das ist zugleich ein Werk, das in einer vielfachen Weise ästhetisch, theologisch, philosophisch, künstlerisch interpretierbar und bearbeitbar ist. Das ist natürlich nicht meine Leistung gewesen, sondern die des Künstlers Thom Barth, der etwas geschaffen hat und uns in einem gewissen Sinne auch abgerungen hat, was einzigartig ist und daher sicherlich so auch nicht wiederholbar ist. Das war etwas Besonderes und wie mir die Rezeption zeigt, auch etwas, was im Betriebssystem Kunst als zeitgenössisch akzeptiert wurde. Während man sonst im Bereich der Kirche das Gefühl hat, man sei künstlerisch einige Jahre hinter der Zeit zurück, dann stellte sich bei dem Projekt mit Thom Barth das Gefühl ein: „Ich bin jetzt auf der Höhe der Zeit“. Ähnliches gilt auch für einige andere Arbeiten, wie etwa die Arbeit von Madeleine Dietz oder das Medienkunstwerk von Bjørn Melhus oder das komplexe Medienkunstwerk von Yves Netzhammer.

Schwebel: Jetzt ist es ja so, dass die anderen Ausstellungen in der Regel keine Kirchenräume haben, das ist eine Besonderheit Deiner Ausstellungen. In der Regel finden in diesen Räumen ja auch Gottesdienste statt. Was bedeutet diese Besonderheit des Einbezugs von Gottesdiensträumen für Dich oder spielt das keine Rolle?

Mertin: Für mich ist das ganz elementar. Kirchenräume an sich sind als künstlerischer Inszenierungsort auch ein Geschenk an Künstler, weil sie einen Resonanzraum bekommen, der in der Kunstszene selbst rar geworden ist. Das, was ich in Zusammenarbeit mit Künstlern mache und was das Marburger Institut zumindest bis 2007 in Zusammenarbeit mit Künstlern geleistet hat, sind außergewöhnliche Rahmenbedingungen, die kein anderer Aussteller so gewährleisten kann. Künstler bekommen einen Resonanzraum, der in einer Galerie oder in einem Museum so gar nicht vorhanden ist. Mir ist es wichtig, dass wir nicht nur tote oder nicht mehr genutzte Kirchenräume in dieses Begegnungsgeschehen einbringen, sondern dass wir einen gewichtigen Teil von Religion mit einbringen: das Geschehen im Gottesdienst. Denn wenn es ein Gespräch sein soll zwischen Kunst und Religion, dann müssen wir dass, was bei uns Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat geschieht, mit in das Gespräch einbringen. Und das geht nur in genutzten Kirchenräumen. Für die Künstler bedeutet dies, dass sie mit einem Kosmos arbeiten müssen, der ihnen vielleicht unvertraut ist, vielleicht haben sie auch ein Bild von Kirche im Kopf, das aus dem 19. oder 18. Jahrhundert stammt. Und nun lassen sie sich auf eine zeitgenössische religiöse Praxis ein, mit der sie arbeiten müssen.

Schwebel: Gibt es dabei denn auch Konflikte?

Mertin: Ich glaube, ich habe noch keine Ausstellung kuratiert, bei der es nicht auch Konflikte gab. Manche waren nachvollziehbar, etwa wenn jemand von einer Hochzeit in Weiß träumt in einer mittelalterlichen Kirche und plötzlich ist da ein Baugerüst mit einem modernen Kunstwerk. In diesem Fall kann ich das Brautpaar verstehen, weil Kunst in diesem Falle ihre Inszenierung stört. Die Aufgabe von Kunst ist es aber natürlich auch, zu stören, aber Brautpaare wünschen sich weniger Kunstinszenierungen als vielmehr Traumhochzeiten. Konflikte gab es auch dort, wo ein Altar im Sinne der zeitgenössischen Kunst umgearbeitet wird. Es ist einsichtig: Wenn ich quasi groß geworden bin mit einem bestimmten Altar, wo getauft und getraut wurde und sehe plötzlich, wie dieser Altar unter Erde und Stahl verschwindet. Das mag für den, der das sieht, verstörend wirken. Aber wie gesagt, genau diese Wahrnehmungsstörungen gehören zur Aufgabe von Kunst. Andererseits muss man auch sagen, dass manche dieser Konflikte wenig mit der Kunst selbst zu tun haben. Vielmehr nutzt man Kunstwerke, um andere Konflikte, die man mit der Kirche hat, endlich ausfechten zu können. Das heißt, es geht gar nicht um Kunst, sondern es geht um den Ärger, den man immer schon mit der Kirche oder dem Pfarrer hatte. Tatsache ist nämlich auch, dass sich nur ganz wenige der Kritiker durch Sachkenntnisse in ihrer Kritik der Kunst auszeichnen. Aber es gibt auch wirkliche Konflikte, etwa um die Rolle und die Bedeutung von Religion. Wer sich in seiner Religion eingerichtet hat, dem mag es nicht gefallen, wenn er im Rahmen seiner Religion mit autonomer Kunst konfrontiert wird. Das muss ich akzeptieren, auch wenn meine Vorstellung von Religion und der Freiheit, die sie gewährt, eine andere ist.


Schwebel: Was Du bisher gesagt hast, bezog sich auf die Kunst als einen autonomen Bereich innerhalb der Gegenwartskultur. Ist das denn bei Medien, bei Filmen anders oder haben wir es hier mit dem gleichen zu tun? Man könnte ja sagen, wenn Kirche sich mit Kunst beschäftigt, soll sie auf die Autonomie achthaben, wenn sie sich mit Medien beschäftigt, wäre das ja vielleicht der Bereich, wo tatsächlich eine gewisse Funktionalisierung am Platz ist. Siehst Du die Medien auch in der gleichen Weise, wie Du die Kunst siehst? Oder siehst Du jetzt den Umgang von Kirche mit den Medien anders?

Mertin: Ich glaube, dass im Blick auf die Medienkunst dieselben Regeln gelten. Anders ist es, wenn wir in den Bereich der populären Medien kommen, also zum Kinofilm oder Videoclip. In diesem Bereich gelten die Gesetze autonomer Kunst im engeren Sinne nicht, weil diese Medien gar nicht den Anspruch erheben, autonome Kunstwerke zu sein. Zum Betriebssystem Kinofilm und zum Betriebssystem Videoclip gehört nicht der emphatische Anspruch auf Wahrheit. Videoclips sind zunächst Werbebotschaften für Musikstücke und Kinofilme sind zur Unterhaltung gemacht und nicht primär für ästhetische Erfahrung. Das ist schon eine veränderte Ausgangslage. Ich muss keinen Kinofilm oder keinen Videoclip so verteidigen, wie ich ein Kunstwerk verteidige. Andererseits ist es so, dass eine Vielzahl der Konflikte zwischen Kunst und Kirche aus den 60er- und 70er-Jahren heute auf der Ebene des Kinos und der Videoclips ablaufen. Das heißt, diese Reibungsfläche zwischen Bild und Religion ist heute auf die Ebene des Populärkulturellen übergewechselt. Man kann verschiedene Gründe dafür nennen, u.a. dass das einzige, was wir noch wahrnehmen, Filme, Videoclips oder Werbung sind. Manche der Konflikte, die sich historisch in der Kunst an Joseph Beuys, Wolf Vostell oder Herrmann Nitsch festmachen, findet man heute in der Werbung oder bei Videoclips.

Klassisches Beispiel wäre die im deutschsprachigen Raum weniger bekannte Sängerin Mylène Farmer, ein Superstar in Frankreich. Sie machte zu ihrem Lied „Ich gebe Dir meine Liebe zurück“ einen Videoclip. Darin gibt sie einen Ring, den sie als Braut trägt, inmitten einer riesigen Blutlache vor einem Kreuz Christi, wieder an Christus zurück. Ein starkes Bild, ebenso symbolreich wie provokant. In Frankreich ist der Clip sofort verboten worden. Mylène Farmers Bilder sind aber symbolische Akte, symbolische Codierungen, die sehr stark erinnern an Aktionen der Kunst in den 60er- und 70er-Jahre. Aber hier spielt sich das in einem Kontext ab, wo Millionen von Menschen zusehen und sich dazu verhalten müssen, wie sich denn Frauenrechte und kirchliche Verkündigung zueinander verhalten. Ein Clip, der religiöse Fragen erörtert. Für mich bedeutet das, dass man sich als Theologe zwingend auch mit diesem Bereich der Medien beschäftigen muss. Auch die Kultur selber hat ja die Unterscheidung von U und E weitgehend aufgegeben, Anne-Sophie Mutter ist ein Superstar und Videoclips von Madonna finden sich im Museum of Modern Art, Johann Sebastian Bach ist weitaus populärer als Frank Zappa, David Bowie integriert in seine Musikperformance Elemente der Fluxuskunst usw. Das heißt, die Gegenwart zeichnet sich durch ein extensives „Cross the border, close the gap“ aus. Daher kann man sich als Kulturwissenschaftler aus guten Gründen auch mit diesen Medien beschäftigen.

Schwebel: Der Videoclip ist ja ein sehr rasches Medium. Er verschwindet. Anders als wenn ich ein Bild anschaue oder wie beim documenta-Beitrag von Thom Barth, in den man hineingehen und den man intensiv erleben kann. Kann das Medium Video denn aufgrund seiner Schnelligkeit die Tiefenschicht erreichen?

Mertin: Man muss erst einmal zur Kenntnis nehmen, dass auch im Bereich der bildenden Kunst die Videokunst einen enormen Anteil hat, und dass keiner mehr erwartet, dass man sich vor ein Kunstwerk, ein Gemälde oder eine Skulptur stellt und sich darin vertieft und sie erschließt. Auf einer früheren documenta gab es Kunstwerke, die fingen am ersten Tag an und hörten am letzten Tag auf. Wer nach bildungsbürgerlichen Vorstellungen diese Kunstwerke erschließen wollte, musste sozusagen 100 Tage davor ausharren, sonst hätte er sie nicht komplett erschließen können. Dazu hat dann der Kunstphilosoph Boris Groys angemerkt, dass Kunst heutzutage nicht mehr kontemplativ ist, sondern unsere Kunstwahrnehmung sich der Medienentwicklung angepasst hat. Das beobachte ich, wenn ich auf eine Ausstellung in Köln, Frankfurt, Venedig oder Barcelona gehe und dort auf flimmernde Bilder treffe. Das heißt, die beschriebene Schnelligkeit und Flüchtigkeit gilt nicht nur für Videoclips sondern auch für die bildende Kunst. Man muss Erklärungen dafür suchen. Ganz offensichtlich hat sich unser kulturelles Rezeptionsverhalten geändert, es ist schneller und flüchtiger geworden.

Schwebel: Gibt es weitere Veränderungen, die sich in der Kultur mit den Neuen Medien abzeichnen?

Ja, es ist z.B. so, dass die Medien heutzutage im selben Produkt verschiedenen Menschen verschiedene Deutungsangebote machen. Selbst Kunstprodukte agieren wie der Kinofilm Matrix, den man je nach Einstellung als Actionfilm, als Film über Jesus Christus und als einen hoch komplexen Film über Baudrillard und seine Simulationstheorie lesen kann. Jeder hat seine Lesart, ohne dass man entscheiden könnte, wer eigentlich recht hat. Auch in Videoclips finden wir dieses Phänomen. Ich kann einen Videoclip wie „Like a prayer“ von Madonna anschauen und sagen toll, wie die da singt vor brennenden Kreuzen. Das ist ein tolles Lied! Aber ich kann mich auch längere Zeit mit diesem Clip wie mit einem Kunstwerk beschäftigen, ihn 100mal sehen und auch den kleinsten Schnitt und auch den Gegenschnitt analysieren und auf Bedeutung untersuchen. Diese vielfältige Rezeptionsmöglichkeit ist für heutige Medienprodukte konstitutiv. Madonnafreaks nehmen ihre Videoclips anders wahr als ich dies als Kulturwissenschaftler tue, ohne dass sich das ausschließt. Bezüglich der angesprochenen Geschwindigkeit besagt das nur, dass es auch in dieser Frage unterschiedliche Rezeptionsarten desselben Artefaktes gibt. Da würde ich aber keine Differenz zwischen Jugendmedien und den Medien des zeitgenössischen Kunstsystems sehen, sondern das ist ein allgemeines gesellschaftliches und kulturelles Phänomen geworden. Wenn es diese Differenzen nicht mehr gibt, dann ist für den Theologen eigentlich jeder Gegenstand kulturhermeneutisch und kulturtheologisch der Betrachtung wert.

Schwebel: Ich finde dies sehr interessant. Du sprachst davon, wenn Du heutzutage zu einer modernen Ausstellung gehst, dass es da flimmert: hier passiert dies und da jenes, es sind Ausstellungen, bei denen es nicht nur Bilder gibt, sondern immer auch Videokunst. Dadurch kommt eine ganz andere Wahrnehmung zustande, eine Art Patchwork-Wahrnehmung. Kann man denn philosophisch beschreiben, was in einem Menschen passiert, der so etwas wahrnimmt?

Mertin: Eine meiner Thesen ist, dass wir in der Gegenwart eine Form der Bildwahrnehmung wiedergewinnen, wie sie der gebildete Mensch des Mittelalters gehabt hat. Nehmen wir zum Beispiel ein Passionswerk von Hans Memling. Das enthält in ein und demselben Bild simultan den Einzug in Jerusalem, die Tempelvertreibung, das Abend­mahl, Gethsemane, Ecce homo, den Kreuzweg, die Kreuzigung, die Auferstehung und den Gang nach Emmaus. Und das alles in einem Bild von 57 x 92 cm. Wie hat ein mittelalterlicher Mensch das erfahren? Er hat ja nicht kontemplativ vor dem Bild gestanden, sondern er muss eine bewegte Wahrnehmung gehabt haben, vielleicht in Erinnerung an Passionsspiele in seiner Heimatstadt. Und bei der Bildbetrachtung ist vor seinem inneren Auge dieses Passionsspiel abgelaufen. Das heißt, es war eine Bewegung im Bild. Das scheint mir mit der bürgerlichen Kultur und ihrem kontemplativen Verhältnis zur Kunst verloren gegangen zu sein. Hier hat man sich im Wesentlichen mit Einzelbildern beschäftigt, die nicht mehr Geschichten erzählten. Statt dessen konzentrierte man sich aus guten Gründen auf Form, Farbe und Material. In der heutigen Medienkunst ist das aber anders, hier kommt ein narratives Moment ins Spiel. Wenn Bjørn Melhus uns seine Inszenierungen am Bildschirm zeigt, dann muss ich eine Story rekonstruieren, ich muss mir eine Geschichte dazu ausdenken oder versuchen, der von Melhus konstruierten Geschichte auf die Spur zu kommen. Ich beginne also, mich vom bloß Kontemplativen zu lösen und es beginnt eine Geschichte in meinem Kopf abzulaufen. Insofern glaube ich, dass die Medienkunst etwas aktiviert, was in der moderneren Kunstgeschichte verloren geht, nämlich eine Form der narrativen und dynamischen Entwicklung von Bildern.

Die von mir kuratierte Begleitausstellung zur documenta 2007 griff unter dem Titel VISION – AUDITION diese Form der narrativen Gestaltung durch Bildmedien, also Medienkunstkonzepte, auf. Die Frage war, kann Medienkunst an diese alte Form der dynamischen Bilderfahrung anknüpfen, nicht indem sie etwa biblische Geschichte erzählt, sondern den Betrachter zur Eigenkonstruktion von Bilderzählungen motiviert? Das wäre etwas Neues im Diskurs von Kunst und Kirche. (In der filmischen Tradition des Hollywoodkinos sind bewegte Bilder übrigens überraschenderweise immer solche des Teufels. Wenn irgendein Kunstwerk im Film in Bewegung gerät, hat man es mit dem Teufel zu tun, klassisches Beispiel ist der Film „Im Auftrag des Teufels“ mit Al Pacino.)

Yves Netzhammer ist dabei mit seinem Werk „Die Subjektivierung der Wiederholung – Project B“ ist dabei am weitesten gegangen, insofern er nicht einfach Medienkunst im Raum platziert hat, sondern mit seiner Installation einen Riss im Kosmos der hugenottischen Kirche aufgetan hat, der einen Blick auf einen ganz anderen poetischen und ästhetischen Kosmos erlaubte.

Aber wenn man davon mal absieht, bleibt die Frage, ob es möglich ist, dass unsere Kirchen auch mit bewegten Bildern dauerhaft ausgestattet werden. Ich weiß es nicht. Ich habe zum ersten Mal im Barcelona in der zentralen Kathedrale acht Monitore dauerhaft mitten in der Kirche aufgestellt gesehen. Das waren aber nur Werbemonitore über eine CD, die man in der Kirche kaufen konnte, sozusagen eine Unterforderung der Möglichkeiten des Mediums.

Schwebel: Was bedeutet das für das kulturelle Engagement der Kirchen?

Sich mit der Medienkunst in der Kirche dauerhaft auseinanderzusetzen, bedeutet für die Kirche, sich auf Höhe der Kunst ihrer Herausforderung zu stellen. Es kann sein, dass es nicht funktioniert, aber das sind Herausforderungen, denen man sich stellen muss. Es ist etwas anderes, als wenn ich einen Kinofilm zeige oder ob ich sage, dieses Werk eines Medienkünstlers wird jetzt für die nächsten 50 Jahre hinter dem Altar als bewegtes Medienkunstwerk etabliert. Man kann sich das ja plastisch für die eigene Kirche vorstellen: Hinter dem Altar ein Medientriptychon von Bill Viola auf dem eine Frau ein Kind bekommt (linker Altarflügel), die Mutter des Künstlers stirbt (rechter Altarflügel) und in der Mitte jemand ins Wasser springt. Ist es denkbar, dass auf Dauer in einer Kirche über dem Altar so ein Werk platziert wird? Inzwischen ist das ja zumindest ansatzweise in der St. Pauls Cathedral in London realisiert. Aber es sind weiterhin singuläre Beispiele.

Schwebel: Wir haben dieses Interview vor zwölf Jahren begonnen, im Jahr 2006, kurz vor Deiner dritten Documenta-Begleitausstellung. Nach dieser dritten Ausstellung hast Du öffentlich erklärt, nun müsse ein jüngerer Kurator das Werk fortsetzen. Bei der darauffolgenden Documenta 2012 ist die Kirche mit ihrer Ausstellung am Einspruch der Documenta-Leitung gescheitert, 2017 wurde auf eine Begleitausstellung verzichtet und das Kunstprogramm in das Reformationsjubiläum integriert. Wie beurteilst Du die Entwicklung von Kunst und Kirche in den letzten 12 Jahren?

Mertin: Dass die evangelische Kirche den bewährten Rhythmus, nach drei Ausstellungen einem jüngeren Kurator bzw. einer jüngeren Kuratorin das Heft zu übergeben, nicht fortgeführt hat, ist tragisch. Von 1982 bis 1992 wurden die Begleitausstellungen maßgeblich von Dir kuratiert, der 1940 geboren ist. Von 1997 bis 2007 wurden sie dann von mir kuratiert, der knapp 20 Jahre später geboren wurde. Es wäre sinnvoll gewesen, sie nun jemandem anzuvertrauen, der um 1980 geboren wurde und andere Kontexte, andere Fragestellungen, andere Kunstformen eingebracht hätte und so zwischen 2012 und 2022 neue Markierungen im Verhältnisse von Kunst und Kirche gesetzt hätte. Das ist leider nicht geschehen, vielleicht weil man meinte, es selber besser machen zu können oder eine spezielle Expertise im Bereich Kunst und Kirche nicht für nötig hielt.

Schwebel: Und wie beurteilst Du das, was stattdessen geschehen ist?

Mertin: Das Scheitern der Documenta-Begleitausstellung 2012 war eine Katastrophe im Blick auf das Verhältnis von Protestantismus und Kunst. Natürlich kann eine Ausstellung immer scheitern und in diesem Falle gab es schwer auszuräumende atmosphärische Störungen mit der damaligen Documenta-Leiterin, die den Kirchen an sich feindlich gegenüberstand. Dennoch hätte man an der Ausstellung festhalten müssen – nicht zuletzt als Signal an das Betriebssystem Kunst. Die Orientierung der Kasseler Ausstellung am Reformationsjubiläum 2017 kann man irgendwie nachvollziehen, ist aber in ihrer konkreten Botschaft grundfalsch. Denn sie besagt ja nichts anderes, als dass man sich nur dann für Kunst interessiert, wenn es um das Eigene geht. Dass passt zu der von mir beobachteten Tendenz, dass die Kirche die geistesgegenwärtige Auseinandersetzung mit der Kultur aufgegeben hat, dass sie in der autonomen Kunst und der autonomen Kultur nicht mehr "die dem Menschen ursprünglich gegebene Verheißung dessen (sieht), was er werden soll" (Karl Barth).

Schwebel: Siehst Du das als Symptom in der Evangelischen Kirche?

Mertin: Heute geht es bei kirchlichen Verlautbarungen oft nur noch um bürgerliche Geschmacksurteile (a la Olu Oguibe oder Marina Abramović gefällt mir oder gefällt mir nicht). Und es geht nicht mehr um konkrete, sich am Objekt orientierende Kunsterfahrung: Was sagt mir der Obelisk von Oguibe als Kunstobjekt in der ästhetischen Erfahrung? Stattdessen werden Regeln aufgestellt, wie ein Künstler ganz konkret Kunst zu produzieren habe. Das ist geradezu barbarisch. Vor dem Hintergrund der Diskussionen am Ende des 20. Jahrhunderts ist das eine schreckliche Entwicklung und ein deutlicher Rückschritt. Diese Bewegung lässt sich aber nicht nur im Blick auf die Bildende Kunst feststellen, sondern erstreckt sich auf den gesamten kulturellen Bereich. Es fehlt die Leidenschaft – in all ihren Facetten –, sich herausfordern zu lassen.

Und, auch das beobachte ich, es fehlt ein Bewusstsein der historischen Bedeutung des Protestantismus für die Kunst („Martin Luther und die Folgen für die Kunst“) und der Kunst für den Protestantismus („Zur Szenografie des Protestantismus“). Heute können Pfarrer ohne Probleme durch und durch katholisch angelegte Bilder in ihre evangelischen Kirchen einbauen lassen, Bilder, die all dem widersprechen, was Martin Luther in die Theologie eingebracht hat. Die Essener Kreuzkirche mit den Rizzi-Fenstern ist ein gutes Beispiel dafür. Selbst Stiftungsbilder mit zugeordneten Stiftern in Gestalt ehemaliger Staatsoberhäupter – eine Kultbilderform, die ja einstmals zum Bildersturm führte - finden wir inzwischen wieder in der evangelischen Kirche. Daraus schließe ich, dass die Kunst als autonome Kunst gar nicht mehr ernstgenommen wird, sie ist nur bunte Staffage oder eben religiöses Design. Das stimmt mich traurig.

Schwebel: Siehst Du keine Aufbrüche?

Mertin: Man muss vielleicht zwischen der Funktionärsebene und der ganz normalen Gemeindepraxis unterscheiden. Die Selbstverständlichkeit, mit der heute in nahezu jedem Kirchenkreis auch Kunstausstellungen mit durchaus gehobenem Niveau veranstaltet werden, ist schon beeindruckend.  Daran war vor einem halben Jahrhundert noch nicht zu denken. Damals gab es vielleicht gerade mal so viele Kunstinitiativen, dass man sie für Deutschland an einer Hand abzählen konnte. Das waren die, die wir 1988 in unserem Buch „Kirche und moderne Kunst“ vorgestellt haben. Hier hat sich eine grundsätzliche Öffnung vollzogen und das ist gut so.

Aber es gibt eben auch die Ebene der kirchenpolitischen Haltung zur Kunst – und da sehe ich nur gravierende Rückschritte. Genauer: eine um sich greifende Unbildung darüber, was Kunst eigentlich leistet und was sie für den Menschen bedeutet. Die Beteiligten sind kunstphilosophisch unaufgeklärt und kennen sich – sogar eingestandenermaßen – in der Kunstszene kaum aus. Hier agieren Kulturbürger, aber kaum Kunstkenner. Kulturbürger gehen in Veranstaltungen, um sich unterhalten zu lassen, Kunstkenner, um sich in Frage stellen und herausfordern zu lassen. Dazwischen liegen Welten. Dass Kunstbeauftragte der Evangelischen Kirche inzwischen offen eingestehen, dass sie sich in der Kunst nicht auskennen, spricht Bände.

Schwebel: Darf man da auf die Frühpensionierung der Kirchenfunktionäre hoffen?

Mertin: Vielleicht auf eine eventuell noch vorhandene Bereitschaft, sich auf das Abenteuer der Kunst einzulassen. Das bedeutet etwa, dass man die Kultur-Tradition des Protestantismus nicht nur als historisches Ereignis begreift, das sich überlebt hat, sondern künftig eines transformierten Ausdrucks bedarf.

Schwebel: Womit wir bei der Zukunft des Gesprächs von Kunst und Kirche wären. Wo siehst Du da die Herausforderungen, Chancen und Probleme?

Mertin: Die bisherige Geschichte von Kunst und Kirche konnte ja davon profitieren, dass es weiterhin Überschneidungen im semantischen Feld von Kunst und Kirche gab, dass also weiterhin Künstlerinnen und Künstler sich mit den überlieferten Topoi des Christentums auseinandersetzen. Die Hoffnung, dass dies ausreiche, um das Gespräch von Kunst und Kirche am Leben zu erhalten, hat sich als illusionär erwiesen. Eine Alternative war es dann, wenigstens in Existentialen und Sinnfragen eine gemeinsame Basis für ein Gespräch zu erkennen. Aber auch das scheint mir zunehmend schwierig zu werden. Insoweit Teile der Kunst nun das Sozial-Politische für sich entdecken – wie es auf der letzten Documenta 14 programmatisch versucht wurde – sehe ich eher konkurrente Überschneidungen als Gemeinsamkeiten von Kunst und Religion. Das große Problem des Protestantismus ist es, dass ihm der bisherige Rettungsanker in Gestalt theo-ästhetischer Sujets verloren gegangen ist und es den religiösen Virtuosen weder gelungen, noch bewusst ist, wie sie die autonome, säkulare Kultur als Teil der protestantischen Existenz verständlich werden lassen können. Die gesprächsweise Äußerung eines evangelischen Bischofs, man beschäftige sich mit zeitgenössischer Kunst, damit wieder mehr Menschen in die Kirche kämen, dokumentiert dieses falsche Bewusstsein. Es geht bei der Begegnung mit der Kunst aber nicht um Funktionalisierungen von Kunst im eigenen Interesse, sondern um die Arbeit am Projekt Menschwerdung (Novalis). Alles hängt davon ab, ob den religiös Virtuosen diese Zuordnung der Kunst einsichtig wird. Wir beschäftigen uns mit der Kunst nicht, weil das irgendwelchen (und schon gar keinen religiösen oder kirchlichen) Interessen dient, sondern weil die Kunst an sich bedeutungsvoll ist. Sie ist eine der ältesten und bedeutsamsten Errungenschaften in der Menschheitsgeschichte und wird sträflich in ihrer anthropologischen Dimension verkürzt, wenn sie auf irgendwelche Zweckperspektiven eingegrenzt wird. Wir haben und wir brauchen Kunst als Freigelassene der Schöpfung, das ist und bleibt elementar. Aber als Freigelassene haben wir auch die Möglichkeit, die Freiheit zur Kunst nicht zu nutzen und leider ist das gegenwärtig häufiger der Fall, als ich es mir wünschen würde. Daran müssen wir auch künftig verstärkt arbeiten.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/hs25.htm
© Horst Schwebel, 2018