Art in boxes

Die Inspiration eines Kunstautomaten

Ulrich Kawalle

Über ganz Deutschland verteilt finden sich sogenannte „Kunstautomaten“. Es sind umfunktionierte alte Automaten, aus denen man früher Zigaretten, Kaugummi oder Kondome ziehen konnte und die somit an sehr unterschiedlichen öffentlichen Orten zu finden waren.

Aus diesen Automaten kann man nun Kunstwerke ziehen. Wirft man einen natürlich einheitlichen Betrag etwa zwischen 4 oder 15 Euro in den Münzschlitz, erwartet den neugierigen Kunstinteressierten eine Schachtel, die ein Kunstwerk enthält: einen literarischeren Text, ein Werk der bildenden Kunst oder sogar eine kleine Installation, beschränkt allein auf die Größe einer Zigarettenschachtel, die im Übrigen selbst als Kunstwerk gestaltet sein kann.

Die Werke sind signiert und datiert, auf einem kleinen Zettel findet man biographische Angaben zum Künstler oder zur Künstlerin.

Kunst wird so nicht nur in übersichtlicher Größe und in einem Modus angeboten, der Berührungsängste nimmt und sich im öffentlichen Raum ereignet, an Orten, die in der Regel wenig kunstaffin sind (etwa Bars, Cafés oder Hotels oder eben an den früheren Standorten von Zigarettenautomaten).

Es ist sozusagen „gefundene Objektkunst“, ein Begriff, der allein denen schon etwas sagt, die vor einem solchen Automaten stehen in der Erwartung, den gesunkenen Nikotinspiegel wieder auf akzeptable Höhen zu bringen. Die Kunstautomaten, fast 40 Jahre alt und 1982 als Ausstellungsstücke auf der documenta 7 geadelt, vereinen in dieser Form einige Widersprüchlichkeiten in sich: Sie sind nahezu massenkompatibel, marktaffin und (im besten Fall) originell und kreativ.

Ohne Zweifel inspiriert dies kreative Geister, die auch didaktisch mit Kunst arbeiten und zudem das nun über 30 Jahre alte Dictum von Joseph Beuys „Jeder Mensch ist ein Künstler“ ernst nehmen.

Andreas Mertin, seit Jahr und Tag in der alljährlich stattfindenden einwöchigen Sommerakademie für Lehrkräfte für Kunst zuständig, hat den Kunst-Automat als Anregung für eine Projektarbeit genommen.

Fortbildungen für Lehrkräfte, die sich mit dem Einsatz von Werken der Bildenden Kunst auseinandersetzen, erschließen in der Regel Bilder und Objekte. Es geht um Zugangsweisen, Werkzeuge einer adäquaten Interpretation und letztlich immer darum, die Weltsicht der Künstler bzw. Künstlerinnen mit den eigenen inneren Bildern zu konfrontieren. Die solchermaßen Involvierten erleben Kunst als Verfremdung, Irritation, nicht selten als Provokation, bleiben in der Interaktion mit dem Werk aber letztlich Konsumenten.

Wer den schöpferischen Akt der Kunstproduktion selbst vollzieht, stößt vor zur erlebten Fähigkeit, „das Wahrnehmen und Gestalten der eigenen Umwelt zu genießen, zu kritisieren, zu verändern ...“.[1] Wer Kunst macht, wird zum Schöpfer und kann eine Ahnung davon bekommen, was es bedeutet, der Welt ein weiteres Geheimnis zu entreißen und sie damit schöpferisch zu gestalten.

Vermutlich hat dies Andreas Mertin im Sinn gehabt, als er die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Sommerakademie 2015 in der zu dieser Veranstaltung gehörenden Projektarbeit einlud, Kunstschachteln zu erstellen, die entweder ein Stück Bildender Kunst, etwas Literatur oder Musik enthalten sollten. Diese Differenzierung entsprach dem Thema der Sommerakademie „Religion und Kultur“, das im Laufe der Woche mit den Schwerpunkten Bildende Kunst, Literatur und Musik entfaltet wurde. Dieses Themenspektrum drückte sich in den Farben der Schachteln aus: Grün stand für die Literatur, Blau für die Musik und Rot für die Bildende Kunst.  Die Aufgabe der Teilnehmer und Teilnehmerinnen bestand nun darin, an jeweils einem Tag (von insgesamt drei Tagen) ein Werk zu schaffen, dessen Bezeichnung „Kunstwerk“ einen Anspruch formulierte.

Jedes Werk musste in die Schachtel von 7x7x3,5 cm passen, zusammen mit einem Zettel mit biographischen Angaben. Widerstände von TeilnehmerInnenseite waren abzusehen und gewollt, erleben sich doch gerade Lehrkräfte mehr in der Rolle von Instruktoren den als Mittelpunkt eines Diskurses über die eigene Gestaltungskompetenz und kreative Wirkmächtigkeit. Besonders zeigte sich dies an der Schachtel mit dem irritierenden Imperativ „Musik“. Wie kommt ein originäres Werk der Musik in eine kleine Schachtel? Geht es ohne Hören, geht es über ein Instrument, geht es über technische Hilfsmittel (wie Speicherkarten o.ä.)?

Diese „gestaltende Eigentätigkeit“, die auch in den niedersächsischen Lehrplänen für das Fach „Kunst“ sehr deutlich als emanzipatorisches und identitätsbildendes Geschehen qualifiziert wird, hat die Teilnehmer und Teilnehmerinnen der Akademie intensiv angeregt, über Kunstproduktion und das eigene Selbstverständnis als kreativer Gestalter von Welt nachzudenken, erprobt im Labor einer akademischen Woche. Folgerichtig mussten die entstandenen Werke präsentiert werden in einer als künstlerischen Performance gestalteten Veranstaltung am letzten Tag der Akademiewoche. Um nicht in die Verlegenheit zu kommen, die eigenen Kunstwerke zu erläutern oder gar zu rechtfertigen – damit wäre der tieferliegende Sinn des Projektes ad absurdum geführt -, wurden alle Schachteln zusammengelegt, anschließend entnahm jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin des Projektes drei Schachteln, je eine aus den oben genannten Kategorien. In der darauffolgenden Vorstellung der Objekte musste sich somit Kunst beweisen, nicht in ihrer gewollten didaktisch-normativen Wirkung (die etwa ein Text nahelegt), nicht in einer angestrebten Performance (die etwa eine außergewöhnliche Form nahelegte), sondern durch ihre ästhetische Qualität allein. Im besten Sinne ereignete sich Kommunikation, „Befreiung, Zuwachs, Fantasie, Anarchie“ (H. Bredekamp)

Nun, die Sommerakademie für Lehrkräfte war keine Kunstakademie und die Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren keine angehenden Künstler, kurz vor ihrer ersten bedeutenden Ausstellung. Sicher haben sie aber durch dieses Projekt mehr über Kunst und den kreativen künstlerischen Akt gelernt, als es jemals durch den didaktisch (im schlimmsten Fall auch nur illustrierenden) Einsatz von Bildern im schulischen Unterricht möglich ist. „Kunst ist eine Erfahrung, nicht ein Objekt“ hat Robert Motherwell einst formuliert und diese Erfahrung wurde den TeilnehmerInnen der Sommerakademie ermöglicht. Dazu bedarf es einer beeindruckenden und tiefsinnigen Idee. Für diese Ideen (und sicher noch für ein erhebliches Mehr an Wissen über Kunst, Kunstproduktion und Kunstrezeption) steht Andreas Mertin seit vielen Jahren. Ohne ihn wären die Fortbildungen und Tagungen im Feld der Lehrerfortbildung im Bereich der Diözese Hildesheim kaum denkbar.

Anmerkung

[1]    Hartmut von Hentig: Systemzwang und Selbstbestimmung,  Stuttgart 1969

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/113/uk01.htm
© Ulrich Kawalle, 2018