Kein Gott kommt

Gedanken zu Gott im Kino beim Wiedersehen von Pasolinis „Teorema“

Hans-Gerd Schwandt

Für Jörg, auf viele Jahre!

Verlangt vom Kino nicht zu retten, woran die Theologie gescheitert ist. Beantwortet nicht vorschnell die Fragen, die die Filmkunst stellt. Deutet nichts in sie hinein. Befreit euch von euren mitgebrachten Vorstellungen, lasst euch treffen von den Bildern, die ihr seht. Und nutzt den unvergleichlichen Augenblick – wenn das Licht angeht – für Gespräche, wie sie sonst nirgends stattfinden.

Wir haben das nie so formuliert, aber es ist so etwas wie das ungeschriebene Programm der schönen Kooperation, die wir „Licht & Dunkel“ genannt haben: Evangelische und Katholische Akademie zu Gast im Hamburger Abaton-Kino. Pasolini war einer der ersten Autoren, die wir zeigten, mit Retrospektiven seines gesamten Werks, verbunden mit Gesprächen mit Filmwissenschaftlern, Zeitgenossen, Weggefährten. Und Pasolini – seine Selbstdeutung, seine Rezeption und ein neuer Blick auf ihn – lässt fragen nach Gott im Kino, nach der Offenheit von Immanenz für Transzendenz.

***

Der Gast kommt aus dem Nichts. Angekündigt lediglich durch ein Telegramm, („Arrivo domani“), überbracht von einem engelhaften Boten. Er ist Gast; aber das Haus, das ihn aufnimmt, scheint ihm nicht fremd zu sein. Er kommt wie in sein Eigentum.

Fremd sind sich, fremd werden sich die Bewohner, fremd wird ihnen die Banalität ihres Alltags. Der Gast stößt sie in die Erfahrung der Leere, in der sie längst leben. Aus ihr kommen sie nicht wieder hervor.

„Eine schwer zu entschlüsselnde Parabel“, wurde „Teorema“ genannt; „vielfältig, für verschiedene Interpretationen offen“.[1] Der Mainstream der Deutung aber läuft anders.[2] Vom „Sendboten des Göttlichen“ ist die Rede, vom „Einbruch des Metaphysischen“.[3] Pasolini selbst wird zitiert und dabei festgelegt auf eine Deutung, die er ermöglicht, aber offenlässt. Ein „für die Religion vorindustrieller Zeiten typischer Gott“ habe der Gast ursprünglich sein sollen, „der Sonnengott, der biblische Gott, Gottvater“. Aber der Schauspieler Terrence Stamp habe die Figur metaphysisch geöffnet: „Er könnte ebensogut der Teufel sein wie eine Mischung aus Gott und Teufel.“[4] So widersprüchlich Pasolinis eigene Äußerungen sind, abhängig von dem Kontext, in dem sie entstanden – Ankündigung, Deutung, Verteidigung des Films –: durchgängig rezipiert wird, in Ablehnung oder Zustimmung, die Rede vom „Besuch Gottes“, der, wie Reinhold Zwick ausführlich darlegt, christomorphe Züge trage. [5]

Vielleicht ist es Zeit, „Teorema“ gegen seine Interpreten, aber auch gegen Pasolini selbst in Schutz zu nehmen. Und: von neuem zu schauen; noch einmal genau zu schauen auf ein Kunstwerk, das inzwischen eine fünfzigjährige Rezeptionsgeschichte mit sich herumträgt.

Also: Was sehen wir? Was bricht ein, wer bricht ein in die Sterilität des Mailänder großbürgerlichen Alltags?

Es müsste kein Widerspruch sein: Was da als Einbruch des Metaphysischen gedeutet wird, ist physisch im allerwörtlichsten Sinn. Der Gast, über seine ganze Körperlichkeit sexuell konnotiert, weckt in der Familie – dem fabrikbesitzenden Vater, der frustrierten Mutter, dem selbstverliebten Sohn und der vaterverliebten Tochter – ebenso wie in der Hausangestellten Emilia eine Begierde, die er nur scheinbar stillt. Das Feuer, das er entfacht, reinigt nicht; vielmehr verzehrt es alles, was die Menschen ans bürgerliche Leben zu binden schien, es lässt sie ausgebrannt und nackt zurück. Lucia, die Mutter, begibt sich in die staubigen Gräben promisker Sexualität, Odetta, die Tochter, verkrampft sich in den, den sie nicht halten konnte. Der Junge Pietro verliert sich in illusorischen Versuchen, ein Künstler zu sein. Und Paolo, der Vater, schenkt seine Fabrik den Arbeitern und läuft schreiend durch eine Wüste, in der ihn niemand hört. Außer uns, den Zuschauern, die verstört zurückbleiben, wenn das Licht angeht.

Wir sehen starke Bilder, die einen großen Interpretationsraum öffnen: das starre Gesicht Emilias, ihr karges Zimmer mit Spind und Bett, mit den Andachtsbildchen der Madonna, ihre Tränen, der Gasschlauch, mit dem sie ihr Leben beenden will; Lucia, in Schönheit und Luxus erstarrt, die hingeworfenen Kleider des Gastes meditierend, sich hingebend an den halbnackten Schönen, an seine wahllosen Platzhalter; Pietro, der von sich selbst nichts weiß, der die Schreckensbilder Bacons anschaut und auf die eigenen Bilder pisst; Odetta und ihre „Kleinmädchenangst“[6], gefangen in einer verklärten Vergangenheit, die es wohl niemals gab, erstarrt auf ihrem Bett, das einer Bahre gleicht und weggeschafft an einen Ort ohne Wiederkehr; schließlich Pietro, im Auto auf der Fahrt durch seine öde Fabrik, von Schmerzen gepeinigt, von der Sonne geblendet, und am Ende, unauslöschlich, das Bild seines Gangs durch die Wüste, ausgesetzt, nackt, schreiend.

Und immer wieder: der Gast – lächelnd, sinnend, lesend, Rimbaud zitierend, aus blauen Augen schauend; mit gespreizten Beinen vor dem auf seinen Schritt fixierten Blick der Kamera, Objekt der Begierde und Verführer; angekündigt und abberufen durch einen kindlich fröhlichen Boten, einfach da und am Ende den Blicken entzogen; und „die Straße an deren Ende er verschwindet / bleibt verlassen für immer“.[7]

Wenn es „leerer“ gäbe als leer, dann wäre es das Haus, dann wären es seine Bewohner nach seinem Entschwinden. Sie vermessen die Leerstelle, versuchen sie zu füllen. Paolos Geschenk an die Arbeiter – aber es wird von ihnen nicht verstanden. Lucia und Pietro erproben Wege, die zu nichts Neuem führen. Odetta wird an einen Ort geschoben, an dem nichts Neues geschehen kann.

Und Emilia, die Hausangestellte? Die „verrückte Heilige“, wie Pasolini sie nennt[8], kehrt zurück aufs Land, in den Schoß des Subproletariats, dem sie entstammte; eine authentische Verkörperung dessen, was Alberto Moravia Pasolinis „populistischen und romantischen Kommunismus“ nannte, „der in der archaischsten Tradition wurzelt und gleichzeitig in die abstrakteste Utopie sich verlängert.“[9] Sie sitzt und schweigt, sie nährt sich von Brennnesseln, die Menschen um sie her sind verstört und fasziniert, sie heilt ein Kind, sie schwebt mit Segensgeste über ihnen; und schließlich – „Es ist Zeit zu sterben“ – lässt sie sich, unablässig weinend, in einer verlassenen Baugrube lebendig begraben, damit ihre Tränen ein Quell werden, „aber nicht des Schmerzes“. „So liegt“, sagt Pasolini, „die bäuerliche Kultur begraben unter der der Arbeiterwelt, unter der industriellen Kultur. Tatsächlich liegt darin vielleicht das einzig optimistische Moment des Films.“[10]

Aber worin soll ein solcher Optimismus gründen? In einer archaischen, von magischem Denken geprägten Religiosität etwa, die die zeichenhaften Heilungen Jesu aus den Evangelien in platte oberitalienische Realität überführt? In einem Quell aus Tränen, der aus unerfüllter Leidenschaft entspringt? In einer Leidensmystik, die sich erfülltes Leben, wenn überhaupt, nur als Preis für Entsagung, Schmerz, Verlust denken kann? Emilia, wie auch die Herrschaft, der sie diente, werden zwar vertrieben aus der Lüge, aber der Gast ist nicht der Tröster, der sie „in die ganze Wahrheit“ führt (vgl. Joh 16,13).

Das Motto, das Pasolini seinem Film, wie auch dem Teorema-Roman voranstellt, eröffnet einen Deutungshorizont für den Prozess, in den die Protagonisten eintreten: „Gott führte sein Volk durch die Wüste“ (Ex 13,8). Dies könnte aber eine falsche Fährte sein. Die Wüstenerfahrung Israels, das seinen Exodus aus dem „Sklavenhaus“ als eine Befreiung durch seinen Gott deutet, kann ich in den Wüstenbildern, die Teorema durchziehen, und auch in der finalen Wüstenerfahrung Paolos, der alles hinter sich gelassen hat, was er besaß und war, nicht wiederfinden. Die „Korollare“, die der Gast zurücklässt, sind keine „guten Gaben“; die Versuchsanordnung, das „Theorem“, aus dem sie hervorgehen, erweist sich als zerstörerisch. Wenn Reinhold Zwick im Schicksal Odettas und Lucias und vor allem im Schicksal Paolos Befreiung aufscheinen sieht[11], dann ist dies das Ergebnis einer – wenn auch ausführlich begründeten – Entscheidung: der Deutung des Gastes als Inkarnation der göttlichen Liebe, als Christusgestalt.[12]

Diese Entscheidung ist eine theologische, keine filmhistorische. In ihr ist das Zentrum des jüdisch-christlichen Gottesglaubens impliziert: die Deutung menschlicher Geschichte als Ort, an dem Gott handelt, in den hinein Gott kommt. Christus, der Gekreuzigte und Auferweckte, ist die Inkarnation des Gottes, der sich in die Immanenz der Schöpfung hineinbegibt, sie heilt und rettet. Dieses Kommen Gottes, der Einbruch von Transzendenz, befreit Menschen aus einer ansonsten hermetisch geschlossenen Immanenz, er verwandelt sie, er macht sie, christologisch gesprochen, „christusförmig“. Vor diesem Hintergrund legt das Bild Paolos, der mit kreuzförmig ausgebreiteten Armen durch die Wüste wankt, ebenso wie das Bild von Emilias Levitation die Deutung nahe, ihre Erfahrung mit dem Gast habe sie in eine Dynamik gebracht, die sie herausführt aus allen Zwängen, die sie erhebt über das Elend des Diesseits.

So könnte man es sehen. Die Krise, in die der Gast die Menschen führe, sei „selbst eine Form der Rettung“, so Pasolini[13], Paolos Schrei ein solcher, „bei dem man aus der Tiefe des Bangens / auch einen feigen Hauch von Hoffnung hört.“[14] Aber ich kann diese Rettung nicht entdecken; ich höre auch den Hauch von Hoffnung nicht. Odetta bleibt festgeschnallt am Phantom einer Liebe. Die Kirche, in die Lucia zurückkehrt, steht verlassen und fern von den Menschen. Ihr Blick auf den Gekreuzigten ist flüchtig. Der Erlöser, hoch oben über verlassenen Plätzen, segnet ins Leere. Die bäuerliche Religion gebiert nur Irrationalismus. Die Wüste lebt nicht und gewährt kein Leben.

Nichts deutet hier darauf hin, dass die Hoffnung auf Rettung innerhalb der verriegelten Immanenz der Geschichte sich erfüllte. So wurde auch durch den Glauben, Geschichte sei schon Heilsgeschichte, sie sei schon aufgebrochen durch Botschaft und Praxis, durch Tod und Auferweckung des Gottessohns, kein menschliches Elend, keine geschichtliche Katastrophe je verhindert. Jeden Tag neu reißt die Geschichte der Menschen das geglaubte „schon“ der Erlösung in die Erfahrung eines katastrophalen „noch nicht“ hinein. Nicht ohne Grund hat Johann Baptist Metz schon in seinen „Thesen zur Apokalyptik“ davor gewarnt, Christologie ohne Apokalyptik werde zur Siegerideologie.[15] Er fordert stattdessen eine „Christologie mit apokalyptischem Gewissen“, ein „theodizee-sensibles Zeit- und Geschichtsdenken, das lieber metaphysisch stumm bleibt, als dass es sich auf eine Metaphysik oberhalb oder außerhalb der konkreten menschlichen Leidensgeschichten stützte“.[16]

Für meine Ohren ist „Teorema“ metaphysisch stumm; aber auch den „apokalyptischen Blick“ entdecke ich nicht, der „die Spuren Gottes im Antlitz der leidenden Menschen (sucht), um so ihrem Schrei ein Gedächtnis und ihrer Zeit eine Frist zu geben“.[17] Nach biblischem Zeugnis setzt Gott Anfang und Ende der Geschichte. Aber er bricht in Geschichte nicht ein. Er bricht sie ab. Er kommt als ihr Ende, an dem Immanenz nicht geheiligt, nicht geheilt wird, sondern verschlungen in etwas ganz Neues. Etwas, das kein Mensch bewirken kann. Auch kein geheimnisvoller Gast, kein „numinoser Katalysator“[18], sei er noch so aufgeladen mit Bedeutung.

Einer der zentralen Sätze in Hans Jonas‘ „Gottesbegriff nach Auschwitz“ lautet: „Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben.“[19] Aber Paolo und Lucia, Pietro und Odetta und auch Emilia, die Menschen, die der „göttliche Gast“ zurücklässt, haben nichts zu geben. Und der Gast selbst reißt zwar den Schleier von der Lüge, aber er reißt den Himmel nicht auf. Dass das Metaphysische ins Physische einbreche, seine Mechanismen außer Kraft setze, sein Elend, seine Katastrophen heile: das ist nicht verheißen. Dass kein Tod mehr sei, nicht mehr Leid noch Geschrei noch Schmerz (Ofg 21,4), ist nicht verheißen als Rettung der Geschichte, sondern als ihr Abbruch, als Apokalypse. Auch in „Teorema“ wäre Rettung Abbruch, nicht das Kontinuum eines unlebbar gewordenen Lebens.

„Denn was früher war, ist vergangen“, muss vergangen sein. Von dem, was dann geschehen wird, gibt es keine Bilder mehr.

Literatur
  • Ulrich Gregor, Geschichte des Films ab 1960, München 1978
  • Peter W. Jansen, Wolfram Schütte (Hg.), Pier Paolo Pasolini. Mit Beiträgen von Hans-Klaus Jungheinrich …, München 1977 (Reihe Film 12)
  • Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt 152016
  • Lexikon des Internationalen Films, Band T-U, Reinbek 1995
  • Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 31980
  • Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006
  • Pier Paolo Pasolini, Teorema oder Die nackten Füße, München 21980
  • Pier Paolo Pasolini, Wer ich bin, Berlin 1995
  • Pasolini über Pasolini. Im Gespräch mit Jon Halliday, Wien 1995
  • Otto Schweitzer, Pier Paolo Pasolini. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1986 (rm354)
  • Reinhold Zwick, Passion und Transformation. Biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis „mythischem Quartett“, Marburg 2014
Anmerkungen

[1]   Teorema – Geometrie der Liebe, in: Lexikon des Internationalen Films, Band T-U, Reinbek 1995, 5543f. (=fd 15863)

[2]    Es mag ein wenig vermessen erscheinen, nach Reinhold Zwicks umfangreichen Analysen (Passion und Transformation. Biblische Resonanzen in Pier Paolo Pasolinis „mythischem Quartett“, Göttingen 2014, 68-154) hier ein paar recht „eigenmächtige“ Deutungen vorzunehmen; es sei mir nachgesehen.

[3]   Ulrich Gregor, Geschichte des Films ab 1960, München 1978, 84

[4]    Pasolini über Pasolini. Im Gespräch mit Jon Halliday, Wien 1995, 160

[5]    Zwick, Passion, 107-119

[6]    Pier Paolo Pasolini, Teorema oder Die nackten Füße, München 2/1980, 94

[7]    Pier Paolo Pasolini, Wer ich bin, Berlin 1995, 27

[8]    ebd., 28

[9]    Alberto Moravia, Der Dichter und das Subproletariat, in: Peter W. Jansen, Wolfram Schütte (Hg.), Pier Paolo Pasolini, München 1977, 7f.

[10]   Jean Duflot, Interviews, in: Jansen, Schütte, 88

[11]   Zwick, Passion, 125f.

[12]   ebd., 107

[13]   Zit. in: Otto Schweitzer, Pier Paolo Pasolini. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1986 (rm354), 101

[14]   Pasolini, Teorema, 184

[15]   vgl. Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie, Mainz 3/1980, 155

[16]   Johann Baptist Metz, Memoria Passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg 2006, 60

[17]   ebd., 139

[18]   Jansen, Schütte, 146

[19]   Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme, Frankfurt 15/2016, 47

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/114/hga01.htm
© Hans-Gerd Schwandt, 2018