Musik- und Filmerfahrung mit Hilfe von Jörg Herrmanns Medienanalyse
und seiner praktischen Filmarbeit
Hans-Jürgen Benedict
Gelebte Religion genauer wahrzunehmen, unsichtbare Religion sichtbar zu machen, hat sich in den letzten Jahrzehnten zu einem wichtigen Forschungsgebiet der Praktischen Theologie entwickelt. Dabei standen werkhermeneutische Untersuchungen im Vordergrund. Eine jüngere Theologengeneration, die ihr christliches Bürgerrecht durchaus nicht im Himmel (Phil 3,20) lokalisiert, sondern in ihrer alltagsweltlichen Existenz vor und mit den Massenmedien und der Populärkultur, hat hier ein ergiebiges Forschungsfeld gefunden. Es gibt eine fast unüberschaubare Zahl religionstheologischer Expertenanalysen zu Produktionen der Populärkultur, die den cultural turn der Praktischen Theologie als zentrale Aufgabe einer empirisch-praktischen Religionshermeneutik verstehen. In diesem Gebiet, dass ich vor 40 Jahren mit den skizzenhaften Aufsätzen „Vom Trost der Religion zur Tröstung durch die Massenmedien?“ (1976) und „Fernsehen als Sinnsystem“ (1978) mit angestoßen habe, hat sich der Begriff Medienreligion durchgesetzt, der für die religiöse Bedeutung von Medien, Medieninhalten und Mediennutzung steht. Es gilt inzwischen als ausgemacht, dass die modernen Medien Funktionen der kirchlichen Religionskultur übernommen haben; sie greifen dabei Motive religiöser Traditionen auf und produzieren auch neue religiöse Sinnstrukturen. Die heutigen Jugendlichen sind medienreligiös sozialisiert. Ein Desiderat aber blieb die qualitative Erforschung der Medienreligiosität bei den Rezipienten.
1. Filme und Romane - nur oder immerhin mittlere Transzendenzen?
Mit seiner Berliner Habilitationsschrift Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion (Göttingen 2007) hat Jörg Herrmann eine groß angelegte qualitative Studie zur religiösen Valenz von Medieninhalten vorgelegt. Er geht davon aus, dass der Begriff gelebte Religion als gelebte Medienreligion der Individuen, gewissermaßen als ihr „Glaube“ zu verstehen sei, mithin als „subjektive Performance dessen, was als religiöse Dimension in Büchern, Kinofilmen und Fernsehsendungen namhaft gemacht werden kann“ (56).
An solche Erfahrungen aber kommt man nur über qualitative Interviews heran. Als Kennzeichen der Medienreligion sieht er die Sinnstiftung zu den Topoi bergende Natur, unbedingte Liebe und befreiende Authentizität, wie sie über Kinofilme (Das Fest, Titanic) vermittelt wird und die rituelle Alltagsstrukturierung des Fernsehens. Herrmann verweist auf medienbiographische Untersuchungen, die die hohe Bedeutung der Medien für die familiäre Kommunikation erweisen: vor allem das Kino- und Filmerlebnis ist Leben in gesteigerter Form, während das Fernsehen eher rituelle Begleit- und Beratungsfunktion im Alltag hat.
Herrmanns empirisches Interesse geht dahin herausfinden: Wie schreibt sich ein Film in die Medien- und Religionsbiographie seiner Rezipienten ein? Welche Bedeutung hat das rituelle Fernsehen für seine Nutzer? Wie trägt die Lektüre eines Buches zur Selbst- und Weltdeutung seines Lesers bei? Herrmann hat im Jahr 2003 innerhalb eines Zeitraums von etwa sechs Monaten 20 biografisch orientierte Leitfadeninterviews mit jungen Erwachsenen (vor allem aus seinem eigenen Bekanntenkreis) geführt. Es sind problemorientierte Leitfadeninterviews zu aktuellen Medienerfahrungen, zur Medienbiographie und zu resümierenden Fragestellungen.
Die Darstellung und Deutung dieser Interviews ist spannend, lehrreich und bewegend, ein oft intimer Einblick in den Sinnhaushalt und die Medienerfahrungen gebildeter jüngerer Menschen mit distanzierter Kirchlichkeit; es sind hochinteressante kleine Medienbiographien, von Hermann einfühlsam-kundig nacherzählt und interpretiert. Überraschend ist die Breite der Interessen und die existentielle Dichte von Lektüre- und Filmerfahrungen mit sozusagen Offenbarungscharakter. Eigene Erinnerungen an entscheidende „Bildungserlebnisse“ werden wachgerufen. Herrmanns Strukturierung der unterschiedlichen Sinnerfahrungstypen überzeugt. Er unterscheidet bei der Medienreligion der Befragten die Bewältigung von Kontingenzerfahrungen (Sünde und Erlösung), ästhetische Lebenssteigerung (präsentische Eschatologie) und das Ideal authentischen Lebens bzw. der Lebensperspektivierung (futurische Eschatologie). Bei der Kontingenzbewältigung gibt es unterschiedliche Techniken in einem Fall ist sie mehr mimetisch, in einem andern geht es um persönliche Videopraxis. Bei der Lebenssteigerung geht es um ästhetische Erfahrungen, im Fall von Stefan (die anspruchsvollste Befragung) sogar um Lebenssteigerung in kunstreligiöser Perspektive (das Göttliche zeigt sich im Ästhetischen). Besonders in der Lektüre erlebt Stefan eine imaginative Selbstgestaltung (Ricoeur). In der Lebensperspektivierung geht es im Fall von Christoph um das Ideal authentischen Lebens. Dieses wird trotz positiver kirchlicher Erfahrungen in der Jugend nicht mit kirchlichem Leben assoziiert, sondern mit der existenziellen Tiefe von Büchern und Filmen, in denen gebrochene Persönlichkeiten ihren Lebensentwurf auch gegen Widerstände durchhalten (236f). „Diese Religiosität ist ein Produkt individueller Selbstbildung, die vor allem vom Glück eines guten Buches oder Filmes lebt.“ (237). In seiner Gesamtauswertung der Interviews im Horizont der leitenden Theorieperspektiven kann Herrmann noch mal differenziert die unterschiedlichen ästhetischen und religiösen Dimensionen der Erfahrungen mit Büchern, Kinofilmen und dem Fernsehen systematisieren (266ff). Zusammenfassend sagt er: Medienreligion ist unsichtbare, implizite Religion, erscheint nur in der funktionalen Interpretation als Religion. Sie kommt zumeist ohne explizite religiöse Semantik aus. Sie ist eine Diesseitsreligion ohne Bezugnahme auf große Transzendenzen. Ihr fehle, sagt er mit U. Barth, die Unbedingtheitsdimension (303). Trotzdem hält Herrmann an dem Begriff Medienreligion fest. Die drei zentralen Funktionen der Mediennutzung sind, wie schon erwähnt, Lebensbewältigung, Lebenssteigerung und Lebensperspektivierung, die mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft korrespondieren. Die Sinnhorizonte ergeben sich jedoch oft zufällig, sind von Schlüsselerlebnissen abhängig und zeigen wenig Kontinuität. Immerhin gibt es „individuelle Sinnhorizonte von lebensorientierender Bedeutung“. Wenn Religiosität auch vom Elternhaus geprägt und von Kirche verstärkt wird es sind die Medien, die eine zentrale Rolle bei der Ausdifferenzierung besonders dessen spielen, was Bastelexistenz genannt wird. Die kirchliche Religionskultur bietet den Befragten dabei wenig Anreize für ihre weltanschaulich-religiöse Selbstbildung. Da sind die Rituale des Fernsehens, die Filme und Bücher für die Ausbildung individueller Sonnhorizonte bedeutsamer.
In einem letzten Abschnitt seines Buchs zieht Herrmann praktisch-theologische Konsequenzen. Dicht und weiterführend ist das Kapitel über Nähe und Unterschiede ästhetischer und religiöser Erfahrung. Die Gemeinsamkeit ist durch Momente von Unsagbarkeit, Zweckfreiheit, Unterbrechung, gesteigerte Selbstwahrnehmung und Sinnerfüllung gekennzeichnet. Aber ästhetische Erfahrung verharre bei mittleren Transzendenzen. Erst in der Religion ist das Vermögen der Selbsttranszendierung gleichsam zu sich selbst gelangt. (U. Barth). Das Kunsterleben könne das Gespür für das Religiöse wiedererwecken, „ästhetische Transzendierungserfahrungen (seien) Voraussetzung für einen Zugang zum religiösen Transzendenzgedanken“ (344).
Immer wieder notiert Herrmann, dass die Medienerfahrung der Befragten ohne Bezugnahme auf große Transzendenzen auskomme. Er sieht darin die entscheidende Differenz zur kirchlichen Religionskultur. Ist das wirklich so? Zwar wird im kirchlichen Glauben quantitativ mehr von so genannten großen Transzendenzen gesprochen, etwa in den Texten über Christi Tod und Auferstehung, über Schuld, Vergebung, Gericht und ewiges Leben. Andererseits sind diese großen Transzendenzen sowohl für die kirchlich Distanzierten aber auch für viele Kirchenverbundene doch oft das, was Matthias Kroeger „Verschlussformeln“ nennt, das heißt zumeist ohne wirklich existentielle Bedeutung, zumindest bezweifelt und oft schwer subjektiv nachvollziehbar. Sicher hat Herrmann recht, dass allein ihre Benennung gegenüber ihrem Wegfall in der Medienreligion etwas offenhält, aber mehr als Frage denn als Antwort. Ich vermute, dass die religiöse Transzendierung für viele Kirchennahe und -ferne in die großen Kunstwerke eingewandert ist. Bach gilt als der fünfte Evangelist, „Gott verdankt Bach sehr viel“ (Cioran), eine Predigt ist oft nur erträglich, weil es daneben noch exzellente Kirchenmusik gibt. Könnte man sagen, der schwindende dogmatisch-transzendente Gehalt finde im autonomen Kunstwerk eine neue Realisierung, den Vorschein von „realer Gegenwart“ (G. Steiner)? Der Tod Jesu geht in der Matthäus-Passion ganz anders zu Herzen als in einer durchschnittlichen Kreuzespredigt. Wenn in Bachs Passion auf die Worte des sterbenden Jesus der Paul Gerhardt-Vers „Wenn ich einmal soll scheiden“ folgt, konvergieren ästhetische und theologische Transzendenz mit dem Vorrang auf der musikalischen Erfahrung. Gerade bei vielen, die eben nicht kirchlich distanziert sind, gibt es ein fast unauflösbares Amalgam von religiöser und ästhetischer Erfahrung (man denke an die zahlreichen Chor- und Kantoreigemeinden).
Kurz: Wenn das Christliche im Rahmen einer allgemeinen Religionstheorie zu beschreiben ist (346), dann kann das Christliche nicht sofort wieder eine Deutungshoheit über implizite Religiosität reklamieren, als sozusagen medienkulturell neuformulierter Absolutheitsanspruch der Kirche, die „die unsichtbare Religion der Medien im Horizont großer Transzendenz (deutet) und dabei zugleich kritisch auf die Vorläufigkeit aller religiösen Deutungsvollzüge (verweist).“ (348) Kirche hält allerdings mit ihren rituellen Formen die in sie eingebetteten ästhetischen Transzendierungserfahrungen in einem Kontinuum, schützt sie vor jenem Drang der Erlebnisgesellschaft, nur durch mehr desgleichen Sinn zu erzeugen oder nun der Kunst eine absolute Sinnfunktion aufzubürden.
Dies ist aber kein grundsätzlicher Einwand gegen Herrmanns Skizzierung der Medienreligion unter kirchlich-religiös Distanzierten. Es wäre interessant zu erfahren, ob die Interviewten nach dem Besuch eines Literatur-, Kunst- oder Filmgottesdienstes ähnliche Sinnerfahrungen macht haben. Oder ob sie sich lieber an das Original halten als an die kirchlich-gottesdienstliche Verwertung.
2. „Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein…“ Von J.S. Bach zu Siegfried Lenz
Um noch einmal auf die eben erwähnte Stelle in der Matthäuspassion zurückzukommen. Ich sah in Aufführungen von Bachs Passion, wie einige Paare sich bei dem Paul Gerhardt-Choral „Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir“ anblickten und die Hände drückten. Ich deute das so, dass hier der Partner gewissermaßen als Stellvertreter Christi angeblickt und in Anspruch genommen wird. Denn der Choral geht ja weiter: „Wenn ich den Tod soll leiden, so tritt du dann herfür. Wenn mir am allerbängsten wird um das Herze sein, so reiß mich aus den Ängsten, kraft deiner Angst und Pein.“ Die Geste sagt: Sei du bei mir in meiner letzten Stunde und halte meine Hand. So wie Luther im Sermon vom Sterben sagt, dass Christus durch sein Leiden und Sterben den Tod geheiligt und zu einem Freund des Menschen gemacht hat, indem er „den Tod selbst berührt, geheiligt, den Fluch in Segen gewandelt, also dass der Tod die Pforte zum Leben hat werden müssen.“ Im Blick auf den Christus außer uns kann die Todesangst beschwichtigt und zur Lebenshoffnung werden. Diese Blickerwartung wird jetzt auf den Partner übertragen. Die allgemeinmenschliche Grundlage der christlichen Hoffnung, nicht allein zu sterben, wird aufgerufen, verstärkt durch die Musik Bachs. Der Hörer ist durch alle Stadien der Verurteilung und Hinrichtung Jesu mitgegangen. Jetzt heißt es nach dem Schrei der Verzweiflung „Eli eli lama absabtani“ Jesus „schrie abermals laut auf und verschied.“ Und dann folgt die Beruhigung im Choral, den die Gemeinde innerlich mitsingen kann. Nach der kurzen dramatischen Evangeliums-Passage über das Erdbeben in Jerusalem wird diese Beruhigung im letzten Teil der Passion fortgesetzt mit dem Bass.-Rezitativ „Am Abend da es kühle war“, mit dem Rezitativ „Nun ist der Herr zur Ruh gebracht“, in das der Chor hineinruft „Mein Jesus gute Nacht“ .Und schließlich mit dem Chor „Wir setzen uns mit Tränen nieder und rufen dir im Grabe zu. Ruhe sanfte! sanfte Ruh.“ Gott ist tot, bemerkt Hans Blumenberg dazu und mit einer dem Tod Gottes gemäßen Trauer und Melancholie klinge die Matthäuspassion daher folgerichtig aus. Jesus hat sich hinter sich, was wir, die Hörenden, noch vor uns haben. Gut, wer einen Partner, eine Partnerin hat, dem/der man bewegt die Hand drücken darf.
Siegfried Lenz letzte Novelle Schweigeminute beginnt mit dem Schlusschoral der Matthäuspassion: „‚Wir setzen uns mit Tränen nieder‘, sang unser Schülerchor zu Beginn der Gedenkstunde. Dann ging Herr Block, unser Direktor, zum bekränzten Podium; er ging langsam, warf kaum einen Blick in die vollbesetzte Aula. Vor Stellas Foto, das auf einem hölzernen Gestell vor dem Podium stand, verhielt er, straffte sich, oder schien sich zu straffen und verbeugte sich tief.“ Schweigeminute ist eine Liebesgeschichte, die als Rückblende des Ich-Erzählers, des Schülers Christian, berichtet wird. Er hatte sich in eine junge Lehrerin, Stella, verliebt; es kommt zu einer kurzen Affäre, die durch den Unfalltod der Geliebten bei einem Segelmanöver jäh beendet wird. Während der Schweigeminute, zu der der Direktor die Trauer-Versammlung auffordert, findet der Liebende endlich die Worte für das Glück, das er erfahren hat. Und versucht so gegen den tragischen Abbruch an zu erzählen und das Unwiederbringliche dieses kurzen Liebesglücks festzuhalten. Während der Trauerfeier wird danach Bachs Kantate „Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit“, auch Actus Tragicus (BWV 106) genannt, aufgeführt. „Zwei Mal hatte ich unserem Orchester zugehört, dem Orchester und dem Chor, nun vor deinem Bild ergriff mich die Kantate unerwartet stärker. Diese Ausgesetztheit, diese verzweifelte Suche und das Hoffen auf Antwort, auf Erlösung, angerufen wurde die sieghafte Kraft, die bei ihnen ist, bei Vater und Sohn, ihre Zeit ist die allerbeste Zeit.“ Christian schaut das Foto an, das aufgestellt wurde, spricht Stella direkt an: „Wie auf einmal dein Gesicht leuchtete, Stella, dies Gesicht, das ich überall geküsst hatte.“ Und dann erfolgt in einer Säkularisierung des Kantatentextes eine jähe, liebende Übertragung der Gottesprädikate auf die tote Geliebte: „Lob und Herrlichkeit, ich nenne die Namen und ergebe mich, Glorie sei Dir.“ (53) Lenz lässt den ersten Teil der Kantate mit seiner Sterberealität weg, konzentriert sich ganz auf die Verheißungen des Evangeliums, auf den Schlusschoral und sein Amen: „Und dann dies Amen, das unser Orchester echohaft aufnahm, das leiser wurde und sich wunderbar verlor im Universum des Trostes, überwunden der Actus tragicus.“ (53f)
So wird der anthropologische Kern der christlichen Sterbelehre und ihrer musikalischen Darstellung bei Bach zum Trost für den Trauernden, und das auch ohne direkten Jesusbezug. Christian lehnt es ab, auf der Trauerfeier zu sprechen „vielleicht“, heißt es, „muß ja im Schweigen ruhen und bewahrt werden, was uns glücklich macht.“ (126) Keine Anklage gegen die Kontingenz des Todes, kein expressives ‚Warum geschieht es mir‘?
Siegfried Lenz ist sehr alt geworden. Ich war bei seiner Trauerfeier 2015 im Hamburger Michel dabei. Helmut Schmidt, im Rollstuhl sitzend, rief dem verstorbenen Freund nach, sie hätten beide an keinen Gott und kein Jenseits geglaubt. Das war vor dem Altarbild mit dem Auferstandenen ein starkes Stück. Aber Hamburger kirchliche Liberalität erträgt auch das. Und Schmidt wünschte sich immerhin für seine Trauerfeier im Michel, sie fand anderthalb Jahre später statt, Matthias Claudius Abendlied, in dem der Jenseitsbezug doch deutlich ist. „Wollst endlich sonder Grämen aus dieser Welt uns nehmen durch einen sanften Tod, Und wenn du uns genommen, lass uns in Himmel kommen, du guter Herr und guter Gott.“
3. Licht und Dunkel große Fragen im Kino
In der Filmgesprächsreihe im Abaton-Kino „Licht und Dunkel“, die Jörg Hermann mitverantwortet und zu der er mich gelegentlich als Gesprächspartner eingeladen hat, kommt immer wieder auch das Dunkle vor, der tragische Abbruch des Lebens durch den unzeitigen Tod. Aus dem Nichts von Fatih Akin gehörte 2017 zu den Filmen, die in dieser Reihe gezeigt wurden. Die Geschichte der Frau, gespielt von Diane Krueger, die durch einen von Rechten begangenen Mordanschlag ihren kurdischstämmigen Mann und das gemeinsame Kind verliert. Im Prozess gegen die mutmaßlichen Täter muss sie fassungslos mitanhören, welche schrecklichen Verletzungen die Nagelbombe an ihren Liebsten anrichtete. Nach dem überraschenden Freispruch sinnt sie auf Rache. Aus ihrer Depression, in der sie zu versinken droht, kann sie zeitweilig aussteigen, indem sie einen Mordplan fasst. Und doch ist ihre Lust am Leben unwiderruflich zerstört. Sie bringt an dem Wohnwagen des Nazi-Pärchens eine Sprengladung an, zögert und nimmt sie wieder ab, kehrt zurück, steigt mit der Sprengladung in einem Rucksack auf dem Rücken in den Wohnwagen und sprengt sich so selbst mit in die Luft. Der in einer langen Einstellung gezeigte brennende und qualmende Wagen begleitet den Zuschauer noch auf seinem Weg aus dem Kino in einer Mischung von Trauer und Wut, auch wenn die Kamera barmherzig ganz zum Schluss Himmel und Meer zu einem melancholischen Gesang zeigt. So gern hätte er sich gewünscht, dass die Frau trotz des Leids, das sie erfahren hat, ins Leben zurückfindet. Kunst zeigt eben nicht nur nach einem Diktum Martin Walsers „etwas so schön, wie es nicht ist“, sondern auch, wie schrecklich das ist, was ist. In Michael Hanekes Film Liebe erstickt der Mann seine an Demenz erkrankte Frau mit einem Kissen, weil er ihren Verfall nicht mehr aushält. Er tut es aus Liebe, wie der Titel postuliert. Eine schreckliche Szene. Und doch können sich neben ihr die kleinen Gesten von Zuneigung und Liebe behaupten, in denen die ein Leben lang haltende Zärtlichkeit dieser Beziehung aufleuchtet. Diakonisch gesprochen wäre ein besserer Pflegedienst natürlich eine Hilfe gewesen. Aber eine Lösung wie die französische Filmkomödie Ziemlich beste Freunde sie suggeriert, in der ein farbiger Sonnyboy den Querschnittsgelähmten dem Leben zurückgibt, ist dann doch zu sehr happy ending. Trotzdem man sollte beide Filme zusammen sehen. Die französischen Filmemacher haben die Fähigkeit, soziale Fragen der Gegenwart witzig im Film zu verhandeln. Etwa das Problem der neuen Multikulti-Familien in dem Film Monsieur Claude und seine Töchter. Der in seiner Toleranz arg strapazierte konservative Vater, der nach einem jüdischen und einem muslimischen Schwiegersohn sich endlich auf den Katholiken für die dritte Tochter freut, der sich dann aber als Schwarzer herausstellt, das ist gut gemacht.
„Was haben Sie gegen das Lachen? Kann man nicht auch lachend sehr ernsthaft sein?“ fragt Minna von Barnhelm den in seiner Ehrpusseligkeit arg schwierigen Major von Tellheim. Gelegentlich greifen evangelische Pastoren auf die Tradition des Osterlachens zurück, mit der der allgegenwärtige Tod verlacht werden soll und erzählen einen Witz im Gottesdienst. So dieses Jahr in der Matthäuskirche in Winterhude. Es war der Witz mit dem Gespräch der Trinität über die jeweiligen Reisepläne der göttlichen Personen, in dem der Heilige Geist sagt: ich will nach Rom, da war ich noch nie! Gelungene deutsche Filmkomödien sind eher selten, auch bei Woody Allen fällt das Lachen immer schwerer. Ich wünsche mir oft den anarchischen Witz der Marx Brothers zurück, und bin mir sicher, dass ähnlicher Witz auch uns Melancholiker aufheitern würde. Immerhin hat mit Maren Ades Filmkomödie Toni Erdmann endlich mal ein deutscher Film für langanhaltende Heiterkeit gesorgt. Diese Vater-Tochter-Geschichte, in der eine eiskalte Jungmanagerin (Sandra Hüller) von ihrem Alt-Achtundsechziger-Vater (Peter Simonischek) mittels Scherzartikeln (Furzkissen und falsches Gebiss) bei ihren Geschäftstreffen sabotiert, schließlich sogar zu einem neuen Verhalten befreit wird, sie veranstaltet eine Nackt-Party, das ist gelungen. Große heitere Kinoerfahrung! Licht!
4. Überwältigende Naturerfahrung als Gottesbeweis?
Der Film Life of Pi Schiffbruch mit Tiger erzählt die Geschichte eines indischen Jungen, der einer Schiffskatastrophe entronnen in den Weiten des pazifischen Ozeans allein mit einem Tiger im Rettungsboot überlebt und nach 227 Tagen in Mexiko an Land gespült wird. . Eine unwahrscheinliche Geschichte, die Yann Martel in seinem Erfolgsroman 2003 erzählte und die für unverfilmbar galt, bis der aus Taiwan stammende Filmregisseur Ang Lee den Stoff, Abenteuer-Roman und spirituelle Geschichte zugleich, für sich entdeckte. Und uns die Zuschauer in 3D auf die Schiffbruchfahrt mitnimmt, als säßen wir selbst in dem Boot.
Ang Lee schafft das Unmögliche der aufwendig computergenerierte Tiger ist so präsent, dass wir uns wegducken, wenn er faucht und zum Sprung ansetzt. Ähnliches gilt für die Naturschauspiele, in die der Film uns mit seinen Helden mit aller kinematographischen 3D-Wucht hineinstößt. Wir sind als Zuschauer mitten im Naturgeschehen. Ein gewaltiger Sturm kommt auf, das Boot wird hin und her geschleudert, Blitze zucken, der Tiger stöhnt nur noch, aber Pi schreit es heraus: „Gott, warum tust du mir das an? Ich kapituliere, ich kapituliere, was willst du denn noch?“ Wie Hiob nach der Rede Gottes aus dem Wettersturm sagt: „Ich erkenne, dass du alles vermagst und nichts, was du dir vorgenommen hast, ist dir zu schwer… ich spreche mich schuldig“ (Hiob 42,2f) Hiob und Pi geben auf, resignieren vor dem allmächtigen Schöpfergott und nehmen die Ungerechtigkeit des Lebens hin. Eigentlich eine unbefriedigende Lösung: Und deswegen geht Pi nach einer Aussage von Ang Lee über dies Konzept eines transzendenten Schöpfergottes, mit dem man sprechen, zu dem man sich in seiner Not wenden kann, hinaus. Der Glaube sei eine Haltung, sich emotional mit dem Unbekannten, ich würde sagen mit dem Numinosen, einzulassen. Gott sei eher die Reflexion unseres Innern, meint Lee. Es ist ein innerer Prozess, der, mit vielen Religionen und ihren verschiedenen Namen für das Göttliche gesprochen, ein X im Herzen der Welt annimmt, während man mit den Stürmen des Lebens zurechtzukommen versucht. So wäre Schiffbruch mit Tiger eine Parabel auf die Existenz des Menschen in der Welt, der sich mit dem Ungeheuerlichen, das in ihm und um ihn ist, auseinandersetzen muss. Hier hat es die Gestalt des schrecklichen Tigers, und die des ungeheuren Meeres, auch die Gestalt einer zunächst rettenden, dann aber fleischfressend herausstellenden Algen-Insel, die Pi und Tiger deswegen wieder verlassen müssen. Aber es gibt auch das Ungeheuerliche im Menschen selbst. Pi bietet den Mitarbeitern der japanischen Versicherung folgende Variante seiner Odyssee an: die Tiere sind nun Menschen, der böse Koch (Gerard Depardieu) des Schiffes ist die Hyäne, das Zebra ein verletzter Matrose, der Orang-Utan Pis Mutter. Es kommt zu Kannibalismus und am Ende tötet Pi den Koch. Ist er nun selber der Tiger?
Die beiden Beamten meinen, vielleicht sei die Geschichte mit den Tieren doch die bessere. Und Pi antwortet rätselhaft: „Und genauso ist es mit Gott.“ Wir müssen der besseren Erzählung glauben, dann bekommen wir auch, was wir uns davon versprechen im Kino zwei Stunden Spannung, Emotionen, Tränen, ein Happy ending. Aber auch Irritation und Schrecken. Im Glauben und seiner Darstellung im Gottesdienst- manchmal ein Stück Geborgenheit und Trost auf unserer Lebensfahrt, auch wenn es sich nicht überprüfen lässt, ob das stimmt, was da im Namen Gottes versprochen und an Tröstung angeboten wird. [1]
5. Der unendliche Erzählstrom und der Choc bestimmter Kinoerfahrungen
Jörg Herrmann hat in seiner Dissertation das Kino als „Sinnmaschine“ bezeichnet.[2] Abgesehen von der Frage, ob die Sinnangebote des Kinos religiös-symbolischen Charakter haben - das Mechanische daran, der unentwegt produzierte Erzählstrom, hat tatsächlich etwas Maschinelles. Unendliches. Kino als perpetuum mobile. Im Laufe eines langen Lebens hat der kinointeressierte Zeitgenosse, der mehr als nur die Blockbuster sich anschaut, möglicherweise einen Großteil der 1000 Filme, die man nach einem Buchtitel unbedingt gesehen haben muss, bevor man aus diese Welt verlässt, tatsächlich gesehen. Viele Filme, die er vor 20, 30, 40 Jahren gesehen hat, hat er vergessen. Wenn er sie zufällig oder absichtlich wiedersieht, staunt er über das, was er alles vergessen hat, freut sich, wenn er etwas wiedererkennt, besonders dann, wenn er einen Kinomoment erinnert, der ihn damals schon, beim ersten Sehen, fasziniert hat. Der Cineast erkennt in den neueren Filmen zudem jede Menge Zitate aus älteren Filmen Und dann gibt es die Momente, die einen chocartig überwältigen, weil sie ein existentielles Thema aufgreifen. Zum Beispiel eines, das mit Schuld und Versagen zu tun hat. Zu den großen Momenten der Passionsgeschichte gehört der Verrat des Petrus. Erich Auerbach hat in seinem Buch Mimesis diese Szene differenziert als eine wichtige Station realistisches Erzählens im Abendland dargestellt. Der Moment, als Petrus beim Krähen des Hahns mit seinem Verrat konfrontiert, hinausgeht und „bitterlich weinte“, geht zu Herzen, auch und gerade in der musikalischen Version Bachs.
Ähnlich wirkt Fellinis La Strada aus dem Jahr 1954 mit Guilietta Masina und Anthony Quinn, wenn man den Film wiedersieht. In der Liebe des naiven Mädchens Gelsomina zu dem sie ausbeutenden Zampano leuchtet die Gnade auf, in der sie sich befindet, ohne es zu wissen. Und dann der herzzerreißende Schluss, als sich Zampano, nachdem er von Gelsominas Tod erfahren hat, betrinkt und weinend am Meeresstrand zu Boden wirft.
Neben den emotionalen gibt es kalte Choc-Wirkungen. So eine erzielt Michael Haneke in seinem Film Caché. Zunächst ein Thriller über das Gefühl der Bedrohung, das von verstörend-bedrohlichen Videobändern ausgeht, die einer gut situierten bürgerlichen Familie in Paris zugeschickt werden, führt der Film zur Aufdeckung einer lange verdrängten Schuld. Als Kind hat der Ehemann und Vater Georges, ein bekannter Fernsehmoderator, Mahjid, dem Kind algerischer Gastarbeiter, das seine Eltern aufgenommen hatten, aus Eifersucht zu einer Tat (dem Köpfen eines Hahns) provoziert, die zu seiner Entfernung aus der Familie führte. Hinter dieser verdrängten kindlichen Intrige, die lebensbestimmend auf ihr Opfer sich auswirkte, steht die noch größere des Massakers vom 17.Oktober 1961, als die französische Polizei über 200 protestierende Algerier, darunter wohl auch Mahjids Eltern, tötete. Zwar kommt es zu einem Gespräch zwischen Mahjid und Georges, Mahjid bestreitet etwas mit den Videos zu tun zu haben, Georges will nicht schuld sein an dem traurigen Schicksal seines zeitweiligen Ziehbruders. Und dann unvermittelt, jener Schreckensmoment, in dem sich Mahjid vor den Augen von Georges mit einem Messer die Kehle durchschneidet. Auch danach lehnt Georges gegenüber Mahjids Sohn die Verantwortung für den Selbstmord ab. Er nimmt Tabletten und zieht sich in sein Bett zurück. Der Film endet mit einem Gespräch zwischen Georges Sohn und Mahjids Sohn, aufgenommen aus der Entfernung. Bahnt sich hier Vergebung an? Der Film ist ganz ruhig und unaufgeregt erzählt, manchmal von quälender Langsamkeit, verändert seine Protagonisten. So kann verdrängte Schuld quälen, nicht zufällig fiel mir, als ich den Film sah, eine Geschichte aus der Schulzeit ein wie wir aufsässigen Obertertianer einem hilflosen Religionslehrer den Unterricht derart kaputtmachten, dass er schließlich die Schule verlassen musste. Haneke hält für den Zuschauer keinen Trost bereit, es gibt auch keine Absolution. Es zeigt, wie schlimm das Verhalten der Menschen sein kann. Darin den realistischen Geschichten der hebräischen Bibel ähnlich von Kain und Abel bis zu dem Verhalten Absaloms, der seine Schwester rächen und seinen Vater absetzen will, am Ende sich mit seinen langen Haaren in einer Terebinthe verfängt und vom „Feldhauptmann Joab“ getötet wird. Die neuen Serien aus den USA und England, die uns in lange Geschichten verwickeln, sind sozusagen filmische Thronnachfolgegeschichten. Sinnmaschine Hollywood, Serienproduzent Netflix. Verglichen damit kann die Kirche als eine Erzählgemeinschaft, die ständig die eine Geschichte „Gottes Menschenfreundlichkeit in Jesus“, sicher in vielen Varianten, wiederholt, nicht mithalten. Aber die Kirche ist eine Gemeinschaft, die auf ihre Art, schwach, ja arm, Menschen, die an einen barmherzigen Gott glauben, Trost und Stärkung bietet. Sie kann, was die Spannung betrifft, das Katapultiertwerden in die Macht der Bildwelten, und nun gar 3D, nicht mithalten. Sie kann aber in ihren Bildern und Symbolen, dem des leidenden Gottes vor allem, die Differenzerfahrung des Lebens aushaltbar machen und für eine Welt mit weniger Leiden eintreten. Oder allgemein gesagt: Religion ist ein Stück Holz zum Festhalten auf dem Ozean des Lebens, hilft zur Zähmung des Ungeheuerlichen. Unter anderem mit „Licht und Dunkel“ im Abaton-Kino, ausgewählt und moderiert von Jörg Herrmann.
Anmerkungen
[1] Eine Konfrontation mit dem Fremden vollzieht sich auch in dem mit mehreren Oscars preisgekrönten Film „The Shape of Water. Das Flüstern des Wassers“. Die stumme Elisa (Sally Hawkins) ist während des Kalten Krieges als Putzfrau in einem Hochsicherheitslabor der US-Regierung angestellt, wo sie isoliert und einsam ihrer Arbeit nachgeht. Doch dann entdeckt sie zusammen mit ihrer schwarzen Freundin Zelda ein strenggeheimes Experiment. Ein seltsames Fischmenschwesen aus dem Amazonasgebiet soll mit seinen heilenden Kräften bei einem Kriegsausbruch gegen die Sowjetunion eingesetzt werden. Zu seiner Abrichtung wird es von dem Laborleiter mit Stromschlägen gequält. Elisa fasst Zutrauen zu dem Amphibienmann und gibt ihm zu essen. Ein gestisches Näherkommen, eine Freundschaft entwickelt sich. Als sie von den Plänen der Regierung erfährt, beschließt sie zusammen mit ihrem Nachbarn das seltsame Wesen zu befreien. Zu Hause kommt es zur erotischen Begegnung zwischen Amphibienmann und Eliza; es ist eine der originellsten Szenen, wenn sie in der Badewanne stehend den Duschvorhang zuzieht und so dem Voyeurismus von uns Zuschauern Einhalt gebietet. Man wird als Zuschauer von dieser phantastischen Geschichte zunehmend in Bann gezogen. Der Amphibienmann, eine Mischung von ET und Frankenstein, hat unser Mitleid. In der gnadenlosen Verfolgungsjagd, die von dem CIA angestrengt wird, springt die tödlich verletzte Elisa in das Hafenbecken. Unterwasserbilder der versinkenden Eliza, sie wird von dem Amphibienmann mit seinen Heilkräften in Empfang genommen, gerettet, transformiert, man weiß es nicht genau. Aber man geht nach den zwei Stunden wieder in den Alltag, in dem die Begegnung mit Fremden, etwa in einer S-Bahn am Abend, die mehrheitlich von jungen Männern aus dem Vorderen Orient besetzt ist, für nicht wenige eine Irritation darstellt.
[2] Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im modernen Film, Gütersloh 2001