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Empathie - Mitgefühl Faszination?Zum humanitären Gebrauch Virtueller RealitätenJens Eder Virtuelle Realität ist die „ultimative Empathiemaschine“! So pries der Regisseur und VR-Pionier Chris Milk die innovative Medientechnologie in einem TED-Talk des Jahres 2015 an.[1] Immersive 360-Grad-Filme versetzen ihre Zuschauer an den Ort des Geschehens und ermöglichen es ihnen, sich dort selbständig umzusehen. „Echte“, computergenerierte VR-Produktionen eröffnen darüber hinaus die Möglichkeit, mit dargestellten Personen zu interagieren. In beiden Fällen steigert die virtuelle Kopräsenz laut Milk nicht nur die Empathie, sondern führt gar zu tieferer Menschlichkeit: “Through this machine we become more compassionate, we become more empathetic, and we become more connected. And ultimately we become more human.” Diese These von der Empathiemaschine VR fügte sich in einen damals aktuellen Diskurs. Psychologen diskutierten intensiv darüber, wann empathische Sorge um Notleidende die Bereitschaft zu altruistischem Handeln erhöht.[2] In populären Sachbüchern entwarfen der Ökonom Jeremy Rifkin und andere Utopien einer empathischen Gesellschaft.[3] Milks vollmundiges Versprechen wurde im Netz millionenfach gesehen und fachte den beginnenden VR-Hype an: Plötzlich sprachen viele Größen der Medienbranche, etwa die Hollywoodregisseurin Kathryn Bigelow, von den neuen Möglichkeiten virtuellen Mitempfindens.[4] Ein auffälliger Produktionstrend im VR-Bereich scheint Milks Versprechen neuer Empathiepotenziale und Erlebnisintensitäten zu bestätigen: „Immer mehr Hilfsorganisationen entdecken das Potenzial von Virtual Reality und verdienen mit ihren Kurzfilmen viel Spendengeld“, berichtete etwa kürzlich die FAZ.[5] Bemerkenswert oft werden VR-Produktionen für humanitäre oder karitative Zwecke eingesetzt; die Pionierphase der Virtuellen Realität ist eng mit dieser Verwendungsweise verbunden. Zu den Themen gehören beispielsweise Flucht und Migration (The Crossing), Krieg (Fear of the Sky), Armut (Hunger in Los Angeles), Epidemien (Waves of Grace) oder Wassermangel (The Source). Ein frühes Beispiel ist Milks eigener, gemeinsam mit Gabo Arora produzierter 360-Grad-Film Clouds Over Sidra (2015).[6] Mittels Datenbrillen versetzt der Film seine Zuschauer in das Za’atari-Flüchtlingslager in Jordanien, wo ein Mädchen namens Sidra ihnen die Lebensumstände syrischer Geflüchteter vor Augen führt. Die Produktion des Films erfolgte im Rahmen der UN-Millenniumskampagne, dabei arbeitete Milk sowohl mit UNICEF Jordanien als auch dem Datenbrillen-Hersteller Samsung zusammen. Clouds Over Sidra wurde Entscheidungsträgerinnen und Spendern auf zahlreichen Großveranstaltungen im Bereich Medien, Wirtschaft und Politik vorgeführt, darunter dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Fotos zeigen mächtige Politikerinnen und Diplomaten wie den damaligen UN-Generalsekretär Ban Ki-moon mit Samsung-Datenbrille. Dem Film wird zugeschrieben, dass bei Spendenveranstaltungen für Syrien weit höhere Beträge zusammenkamen als erwartet: etwa 3,8 Milliarden $, eine Steigerung von 70% gegenüber dem Vorjahr.[7] Clouds Over Sidra ist nur ein besonders bekanntes Beispiel für den Medientrend der humanitären oder karitativen VR. Bekannte Journalistinnen, Filmemacher und Künstlerinnen engagieren sich auf diesem Gebiet. Um humanitäre VR-Produktionen zu erschaffen, kooperieren internationale Organisationen wie die UN, NGOs wie Amnesty, Fernsehsender wie die BBC, Zeitungen wie der Guardian und Nachrichtenplattformen wie die Huffington Post mit spezialisierten Produktionsfirmen wie Ryot. Die UN hat für ihre VR-Kampagnen sogar eine eigene Website eingerichtet, auf der jährlich eine Handvoll fünf- bis zehnminütiger Filme hinzukommt (2015 neben Clouds Over Sidra etwa Waves of Grace über die Ebola-Epidemie in Liberia).[8] Zu den wichtigsten Akteuren in Deutschland gehören der Fernsehsender Arte und Produktionsfirmen wie INVRSpace.[9] Inzwischen kristallisieren sich mehrere Produktionslinien humanitärer VR heraus. Viele orientieren sich an Formen des Journalismus, insbesondere der Reportage, oder an Formen des Dokumentarismus, insbesondere des engagierten Dokumentarfilms (committed documentary[10]). Diese Mediengattungen verbinden das Streben nach Wahrheit, Faktizität und Aufklärung[11] mit dem Einsatz für Leidende und Benachteiligte. Sie sind mit dem Gefühl verbunden, dass das Dargestellte Teil unserer Realität ist und wir dafür Mitverantwortung tragen. Daher liegt das Interesse nahe, sich virtuell in diesen entfernten, doch verbundenen Teil unserer Lebenswirklichkeit hineinversetzen zu lassen. Die humanitäre VR hat zwei Grundformen entwickelt, die dazu dienen sollen, allerdings in unterschiedlichen Arten und Graden: zum einen journalistische und dokumentarische 360-Grad-Filme, zum anderen „echte“, interaktive Virtual-Reality-„Experiences“. Die 360-Grad-Filme zeichnen reale Menschen und Ereignisse vor Ort mit speziellen Rundum-Kameras und -Mikrofonen auf. Dadurch versetzen sie ihre Nutzerinnen in eine Zuschauerposition, die zwar ein selbstbestimmtes Beobachten des sie virtuell umgebenden Geschehens ermöglicht, aber kein Eingreifen. Das Streben nach Wahrheit und Aufklärung wird hier oft mit emotionalem Storytelling verbunden. Beispielsweise veranschaulicht The Source (2016) anhand der Geschichte einer dreizehnjährigen Äthiopierin die Problematik des Zugangs zu sauberem Trinkwasser. Die Huffington Post und die Firma Ryot gewannen Hollywoodstar Susan Sarandon als Erzählerin für The Crossing (2016), eine Filmserie über syrische Flüchtlinge und ihre riskante Bootsfahrt nach Griechenland. Im National-Geographic-Film The Protectors: Walk in the Ranger’s Shoes (2017) lassen Kathryn Bigelow und Imraan Ismail kongolesische Nationalpark-Wächter von ihrem gefährlichen Kampf gegen Wilderei berichten. Seltener sind fiktionale Erzählungen wie Dani Levys Stories from Jerusalem: Faith-Hope-Love-Fear. In der „echten“ Virtuellen Realität entstehen andere Formen, teils zu vergleichbaren Themen. In computergenerierten Games, Simulationen oder Installationen können die Nutzerinnen innerhalb virtueller Welten handeln, mit Personen und Dingen interagieren. Allerdings ist die Computergrafik, die diese Welten, Personen und Dinge hervorbringt, bisher noch schlicht und stilisiert, da sie in Echtzeit berechnet und den Nutzeraktionen angepasst werden muss. Fotorealistische Elemente, etwa mittels Fotogrammmetrie und volumetrischem Video dreidimensional aufgezeichnete Körper, können den Wirklichkeitsanschein verstärken, sind aber nicht interaktionsfähig. All dies bedeutet, dass die virtuelle Welt auf der visuellen Ebene eher künstlich und verfremdet erscheint. Ihr Wirklichkeitseindruck und ihre Realitätsbezüge entstehen vor allem durch das Zusammenspiel dreier anderer Faktoren: erstens durch Verweise auf eine Faktenbasis („basiert auf realen Ereignissen“ o.ä.); zweitens durch die Verwendung von O-Tönen und authentischen Atmos auf der auditiven Ebene; und drittens durch den Eindruck, selbst in der virtuellen Welt zu handeln. Eines der ersten Beispiele für diese VR-Form ist Hunger in Los Angeles (2012) von Nonny de la Peña. Als Basis diente die Audio-Aufzeichnung eines realen Vorfalls: Ein Diabetiker bricht in der Warteschlange vor einer Essenstafel zusammen, die VR-Nutzer werden zum Teil einer Menge, die hilflos um den Kranken herumsteht. Man kann in diesem Fall also gerade nicht handeln, obwohl man es eigentlich sollte oder will. Neuere Produktionen machen das Handeln dagegen möglich; sie lassen sich in dieser Hinsicht am ehesten mit Computerspielen oder interaktivem Theater vergleichen. Einen Game-Charakter haben z.B. viele Anwendungen, die man über das Web auf seine Datenbrille laden kann. So begegnen die User der BBC-Produktion We Wait: A Migrant Story[12] (2016) einer syrischen Familie, welche die Flucht übers Meer nach Griechenland wagt; die Grundlage bilden Interviews mit Geflüchteten. Das Virtual Human Interaction Lab der Stanford University lässt die Nutzerinnen seiner Versuchsanordnung Becoming Homeless: A Human Experience (2017) schrittweise den Weg in die Obdachlosigkeit durchlaufen und will damit gegen die Tendenz angehen, die Schuld den Betroffenen zuzuschreiben.[13] Aufwändiger sind VR-Installationen, die interaktiven Theateraufführungen oder Live-Rollenspielen ähneln: Beispielsweise versetzt der Hollywoodregisseur Alejandro González Iñárritu die Nutzer seiner Installation Carne y Arena (2017) in die Lage von Migranten, die an der Grenze zwischen Mexiko und den USA festgenommen werden. Etwa hundert Besucher pro Tag können die sechseinhalbminütige VR-Performance erleben, die großer Räume und unterstützenden Fachpersonals bedarf. So vielfältig wie die Darstellungsformen virtueller Welten sind also auch die technischen Medien, mittels derer sie erlebt werden können. Die Bandbreite reicht von aufwändigen Installationen und teuren Datenbrillen über Google Cardboard und billige VR-Apps bis hin zur webbasierten VR und 360-Grad-Filmen, die kostenlos angeboten werden. Bei der „ultimativen Empathiemaschine“ VR handelt es sich also eigentlich nicht um eine einzige Maschine, sondern um einen veritablen Gerätepark. Vielfältige Apparate und Formen des Virtuellen werden eingesetzt, um die Adressaten humanitärer und karitativer Botschaften zum Mitfühlen, Spenden und politischen Handeln zu bewegen. Ein gemeinsames Ziel besteht offenkundig darin, die durch intensive Medienkommunikation verbreitete Mitleidsermüdung (compassion fatigue) mithilfe der Faszination für neue, noch intensivere und immersivere Medientechnologien zu bekämpfen. Der VR-Hype soll beim Helfen helfen, und durch VR erzeugte Empathie mit leidenden Menschen soll der Weg zu diesem Ziel sein. Auf den ersten Blick erscheint dies als eine Win-Win-Situation, von der alle Beteiligten profitieren: Leidende erhalten Unterstützung, Hilfsorganisationen Spenden, VR-Produzenten und Hardware-Firmen ein positives Image. Allerdings macht sich in der Branche und im Publikum inzwischen auch ein gewisser Überdruss breit, und es formieren sich Widerstände gegen die Empathiethese. Patrick Milling-Smith, immerhin Chris Milks Partner in der gemeinsamen Produktionsfirma Here Be Dragons, bekannte kürzlich: “I never want to hear anybody say ‘empathy machine’ again”.[14] Und Karim Ben Khelifa, bekannt für seine VR-Installation The Enemy, einer Gegenüberstellung gegnerischer Kämpfer, verbot seinem Team sogar, das E-Wort zu benutzen; stattdessen sollten sie von Mitgefühl (compassion) sprechen.[15] Auch der populäre Empathie-Diskurs hat sich inzwischen gewandelt. Vielgelesene Bücher und Zeitungsartikel von Autoren wie Fritz Breithaupt oder Paul Bloom weisen auf Gefahren der Empathie hin und beschreiben sie als belastende, lähmende, vereinfachende und parteiische Reaktion, die leicht manipuliert werden kann und angemessener Hilfsbereitschaft eher im Wege steht.[16] Das wäre eine eigene Diskussion wert. Mit der Literaturwissenschaftlerin Suzanne Keen könnte man etwa auf Erzählstrategien hinweisen, die Empathie über die Eigengruppe hinaus, also mit Menschen anderer Kulturen und Sozialgruppen ermöglichen.[17] Hier soll es aber spezifischer um die Zusammenhänge zwischen Empathie und VR gehen. Gerade Medienschaffende schöpfen zunehmend Verdacht, dass Virtual Reality sich zur Auslösung empathischer Reaktionen gar nicht so gut eignet, wie Milkk es behauptet, sondern ihnen sogar strukturell im Wege steht. Um zu entscheiden, ob VR tatsächlich eine Empathiemaschine ist und ob humanitäre VR geeignet ist, Empathie mit Notleidenden hervorzurufen, muss man zunächst einmal wissen, was mit Empathie gemeint ist, auf welche Weisen sie erzeugt werden kann und inwiefern VR-Produktionen über die Mittel dazu verfügen.[18] Unter Empathie werden ganz unterschiedliche Dinge verstanden, aber es lässt sich ein besonders verbreiteter und plausibler Begriff hervorheben: Demnach ist Empathie ein verstehendes Mitfühlen oder mitfühlendes Verstehen beobachteter Personen, das mit einer Perspektivenübernahme verbunden ist.[19] In der Empathie treten also drei Vorgänge miteinander in Wechselwirkung und verstärken einander: Mitfühlen, Fremdverstehen und Perspektivenübernahme. Beim Mitfühlen entwickeln wir Gefühle, die denen der Beobachteten ähnlich sind oder zu ihnen passen. Das kann vorbewusst und unbemerkt geschehen, etwa wenn uns ihr Lachen ansteckt oder ihre weinenden Gesichter uns traurig stimmen. Bei der Perspektivenübernahme nähern wir uns nicht nur den Gefühlen der Beobachteten an, sondern auch ihren Wahrnehmungen, ihrem Wissen, ihren Bewertungen, Wünschen und Zielen. In Prozessen des Fremdverstehens erschließen wir uns das Innenleben der Beobachteten, ihre Persönlichkeit, ihre Motive und psychosozialen Kontexte. Durch die Wechselwirkung von Mitfühlen, Perspektivenübernahme und Fremdverstehen, und damit durch die affektive Annäherung an die Erlebnisse beobachteter Individuen, unterscheidet Empathie sich von distanziert-überlegener Bemitleidung aus der eigenen Perspektive auf Personen, über die man nichts Näheres weiß, aber auch von Gefühlen der Solidarität mit Betroffenen, für die man aufgrund einer reflektierten Kenntnis ihrer Lage Partei ergreift.[20] Wenn Empathie eine solche Wechselwirkung aus Mitfühlen, Fremdverstehen und Perspektivenübernahme ist, stellt sich die Frage, wie Medien ihre Nutzerinnen zum Mitfühlen bringen, ihre Verstehensprozesse steuern und eine Perspektivenübernahme erreichen. Dabei sind vier Wege zur Empathie von besonderer Bedeutung. Medien rufen unterschiedliche Arten von Empathie hervor, indem sie (1) ausdrucksvolle, bewegte und aktiv handelnde Körper inszenieren, die ihrerseits körperlich ansteckend wirken (Körperempathie); (2) geteilte Situationen emotional fokussieren und Emotionsreize hervorheben, auf die sowohl die Beobachteten als auch die Beobachter reagieren (Situationsempathie); (3) durch Musik und andere ästhetische Mittel Gefühle hervorrufen, die auch den beobachteten Personen zugeschrieben werden (Projektionsempathie); und (4) durch ihre Erzählweise und Informationsvergabe zum imaginativen Fremdverstehen und zur Aktivierung emotionaler Erinnerungen an eigene, ähnliche Situationen einladen (Imaginationsempathie). Dabei kommt ein umfangreiches Repertoire konkreterer Mittel zum Einsatz: Formen der Dramaturgie und Rhetorik, der Perspektivierung und Emotionalisierung durch Bild, Ton, Sprache, Musik usw. Jedes Werk, jeder Medientext hat durch den spezifischen Einsatz solcher Mittel und Techniken ein bestimmtes Empathieprofil. Dabei spielen auch Zeitstrukturen eine Rolle, denn Mitfühlen, Perspektivenübernahme und Fremdverstehen brauchen Zeit. Nur dann kann Empathie höhere Grade der Intensität, Tiefe, Genauigkeit, Fairness und Nachhaltigkeit erreichen. Angesichts dieser Grundlagen der Empathisierung wird schnell deutlich, wie begrenzt das Empathiepotenzial der Virtual Reality tatsächlich ist. Schon die Voraussetzungen sind eher ungünstig, denn die neuartige, spektakuläre Technik zieht die Aufmerksamkeit auf sich und von den dargestellten Personen ab. Nicht nur wegen der Brillen sind VR-Experiences mit einem Tauchgang vergleichbar: Man erlebt Desorientierung in einer fremden Welt wie nach einem Sprung ins Wasser, dann allmähliches Zurechtfinden und lustvolles Erkunden, doch fast immer mit dem Gefühl, ein Partikel zu sein, der hier nicht wirklich hingehört. Zudem lassen die VR-Formate aufgrund ihrer Kürze wenig Zeit für die Entwicklung tiefer gehender Empathie. Um Raumirritationen zu vermeiden, sind Kamerabewegungen und Montage reduziert, die Bilder auf eine Weitwinkeloptik festgelegt, und weil der Blick der User weitgehend frei im Raum umherschweift, ist es schwierig, die Aufmerksamkeit der Nutzerinnen gezielt zu lenken. Aus diesen Gründen haben VR-Produktionen auch große Probleme mit den oben skizzierten Techniken der Empathisierung. Im Gegensatz zum Film ist es kaum möglich, Details des körperlichen Ausdrucks einer bestimmten Person oder subtile Emotionsreize einer gemeinsam erlebten Situation gezielt hervorzuheben. Die Transportationserfahrung beeinträchtigt die Bereitschaft zur Körperempathie, zur Ansteckung durch fremde Gesichter und Körper, Emotionsausdrücke und Handlungen. Bei fotorealistischer VR stellt sich der Eindruck der Künstlichkeit ein und es kann zu Uncanny-Valley-Effekten kommen, die dargestellten Personen wirken dann unheimlich. Auch die Projektionsempathie, die Auslösung eigener Gefühle durch ästhetische Mittel, ist in vielen VR-Produktionen eingeschränkt, oft soll sanfte Mood Music das aufregende Erlebnis abmildern und für Entspannung sorgen. Das größte Handicap der VR besteht allerdings im Bereich der Imaginationsempathie, weil es zumindest bisher kaum möglich ist, komplexere soziale Konflikte und psychologisch differenzierte Geschichten aus subjektiver Perspektive darzustellen. Meist erzählen VR-Produktionen simple Stories, in denen eine Voice Over oder Schriftinserts spärliche Informationen vermitteln. Bei First-Person-Formen der VR empathisiert die Nutzerin nicht mit Betroffenen, sondern ist selbst die Handelnde und Betroffene. Third-Person-Formen können wiederum zu einer Art virtuellem Elendstourismus führen: Das technisch überlegene Publikum „beamt“ sich in die Welt der Notleidenden und beobachtet sie, erfährt dabei aber nur wenig über sie. Von einer Empathiemaschine VR kann also offensichtlich nicht die Rede sein. Andere Medien können stärkere und tiefer gehende Formen der Empathie erzeugen. Die Hoffnungen auf die Empathiemaschine VR werden sich nicht bewahrheiten, und der Hype um die VR-Technologie wird sich in absehbarer Zeit legen. Für eine begrenzte Zeit hat dieser Hype dazu beigetragen, Teile der westlichen Gesellschaften aus ihrer Ichbezogenheit und Hartherzigkeit zu reißen. Dies wird nicht mehr lange so sein, und dann stellt sich die Frage, ob auch zukünftig mit humanitären VR-Produktionen anzufangen ist. Anknüpfen könnte man bei den spezifischen empathischen Stärken der Virtuellen Realität, die durch die vorangegangenen Überlegungen ebenfalls sichtbar geworden sind: Ihre Möglichkeiten der räumlichen Immersion und Interaktion führen zu dem Gefühl, an fremden Orten, Lebenswelten und Situationen anwesend zu sein und deren Atmosphäre zu erfassen. Im Idealfall können die Nutzerinnen dadurch zwar nicht individuelle Menschen, aber sie können allgemeiner Menschen in solchen Situationen in bestimmter Hinsicht besser verstehen. Dabei handelt es sich nicht um Empathie mit einer individuellen Einzelperson, sondern vielmehr um Empathie mit einer sozialen Situation, Rolle oder Gruppe. Ob man danach Betroffene in einer solchen Situation tatsächlich besser versteht und sich in sie einfühlen kann, ob die Empathiefähigkeit und Empathiebereitschaft nach der VR Rezeption gestiegen sind, wäre noch zu untersuchen; ebenso die Frage, wie man die spezifischen Empathiepotenziale der Virtuellen Realität zielgerechter gestalten kann. Bisher sorgt VR wohl weniger für Empathie, sondern eher für Faszination, Staunen und die Vermittlungen atmosphärischer Stimmungen. Aber das ist ja vielleicht auch nicht wenig. Anmerkungen[1] Chris Milk, How Virtual Reality Can Create the Ultimate Empathy Machine, in: TED.com 5. März 2015, www.ted.com/talks/chris_milk_how_virtual_reality_can_create_the_ultimate_empathy_machine [2] Vgl. etwa Batson, C.D. (2011). Altruism in Humans. New York: Oxford University Press. Hoffman, Martin: Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice, Cambridge: Cambridge University Press 2000; De Waal, Frans: »Putting the Altruism back into Altruism. The Evolution of Empathy«, in: Annual Review of Psychology 59 (2008), S. 279-300. [3] J Rifkin, Jeremy (2010): Die empathische Zivilisation. Wege zu einem globalen Bewusstsein. Unter Mitarbeit von Ulrike Bischoff. Frankfurt am Main: Campus-Verl. [4] Adi Robertson, VR was sold as an ‘empathy machine’ but some artists are getting sick of it, in: The Verge 3. Mai 2017, https://www.theverge.com/2017/5/3/15524404/tribeca-film-festival-2017-vr-empathy-machine-backlash [5] Sabrina Leretz, Spenden durch Virtual Reality: In den Schuhen von Flüchtlingen, in: FAZ.net 1. Februar 2018, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/virtual-reality-zur-spenden-akquise-ist-das-schon-manipulation-15403150.html [6] UN SDG Action Campaign, Virtual Reality and Vulnerable Communities, o.J. https://sdgactioncampaign.org/virtualreality/ [7] Sabrina Leretz, Spenden durch Virtual Reality: In den Schuhen von Flüchtlingen, in: FAZ.net 1. Februar 2018, http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/virtual-reality-zur-spenden-akquise-ist-das-schon-manipulation-15403150.html ; UNVR, VR + Advocavy & Impact, o.J., http://unvr.sdgactioncampaign.org/vr-advocacy-impact/ [8] United Nations Virtual Reality, o.J., http://unvr.sdgactioncampaign.org// [9] Im Web unter https://sites.arte.tv/360/de und http://invr.space/ [10] Thomas Waugh (2011) «Show us life»: Toward a History and Aesthetics of the Committed Documentary. Metuchen, N.J.: Scarecrow Press; vgl. dazu kritisch: Pooja Rangan: Immediations: The Humanitarian Impulse in Documentary, London: Duke University 2017. [11] Carl Plantinga spricht von ‘asserted veridical representations’ (Plantinga, 2005, p. 114). Plantinga, C. R. (2005) ‘What a Documentary Is, After All.’ Journal of Aesthetics and Art Criticism 63:2, 105-117. [12] BBC Virtual Reality, http://www.bbc.co.uk/guides/z6wqqhv [13] Virtual Human Interaction Lab, Becoming Homeless: A Human Experience, o.J., http://vhil.stanford.edu/becominghomeless/ [14] Adi Robertson, VR was sold as an ‘empathy machine’ but some artists are getting sick of it, in: The Verge 3. Mai 2017, https://www.theverge.com/2017/5/3/15524404/tribeca-film-festival-2017-vr-empathy-machine-backlash [15] Vortrag „The Enemy“ auf dem Workshop „Docmedia“, Filmuniversität Babelsberg 21./22.6.2018 [16] Breithaupt, Fritz (2017): Die dunklen Seiten der Empathie. Berlin: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2196). Bloom, Paul (2016): Against empathy. The case for rational compassion. First edition. New York, NY: Ecco. [17] Keen, Suzanne (2010): Empathy and the novel. Oxford: Oxford University Press. [18] Ausführlichere Erläuterungen des Folgenden finden sich in: Jens Eder: Empathie und existentielle Gefühle im Film. In: Empathie im Film. Hrsg. v. Íngrid Vendrell und Malte Hagener. Bielefeld: Transcript 2017, S. 237-270; und in: Jens Eder: Films and Existential Feelings. In: Projections. The Journal for Movies and Mind 10(2) 2016, S. 75-103. [19] Vgl. etwa Hoffman, Martin: Empathy and Moral Development. Implications for Caring and Justice, Cambridge: Cambridge University Press 2000; De Waal, Frans: »Putting the Altruism back into Altruism. The Evolution of Empathy«, in: Annual Review of Psychology 59 (2008), S. 279-300. [20] Kleres, Jochen (2015): Narrative des Mitgefühls: Methodischer Ansatz und Anwendung. In: Jochen Kleres und Yvonne Albrecht (Hg.): Die Ambivalenz der Gefühle. Über die verbindende und widersprüchliche Sozialität von Emotionen. Wiesbaden: Springer VS, S. 267288. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/114/jede01.htm |