Ich begrüße Sie herzlich und lade Sie ein zu einer Filmbibelarbeit – der dritten auf diesem Dresdener Kirchentag im Jahr 2011. Das Besondere an dieser Bibelarbeit besteht darin, dass sie sich nicht nur, wie üblich, auf den Losungstext des Tages bezieht, sondern auch auf einen Film, den Sie heute Abend in diesem Kino sehen können. Es ist der Film „Hope“ von Stanislaw Mucha, entstanden 2007 nach einem Drehbuch des polnischen Autors Krzysztof Piesiewicz, der lange Jahre mit dem 1996 gestorbenen Regisseur Krzysztof Kieslowski zusammengearbeitet hat. Als Hintergrund sollten Sie wissen, dass dieser Film keineswegs als Illustration, als Interpretation oder als eine Art aktueller Kommentar zu unserem Bibeltext ausgewählt worden ist, sondern ganz unabhängig davon.

Text und Film bilden also eine Zufallskonstellation, die unsere Bibelarbeit zu einem Experiment mit offenem Ausgang macht. Für die Künste sind solche experimentellen Arrangements nichts Ungewöhnliches, so wenig wie die Kombination heterogener Materialien. Sie vertrauen darauf, dass daraus ein Sinn jenseits des bekannten Sinns, eine Erfahrung jenseits vertrauter Erfahrungen, eine Gestalt jenseits des Planbaren entsteht. Das ist, in der Kunst, ein Spiel mit Risiko und Chance, von dem sich vorab nicht sagen lässt, wohin es führen wird. Soviel jedoch ist gewiss, dass das eine, die Chance, ohne das andere, das Risiko, nicht zu haben ist.

Ich beginne also meine Bibelarbeit mit Hoffen und Bangen und mit der Bitte um Gottes Segen.

Ich will Ihnen zunächst den Bibeltext vorlesen und folge dabei meiner Bibelausgabe, das ist die Lutherbibel in der revidierten Fassung von 1912. Matthäus 6, 19-34:

Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe nachgraben und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht nachgraben noch stehlen. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz. Das Auge ist des Leibes Leuchte. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist, so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein! Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. Darum sage ich euch: Sorget nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet, auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Speise und der Leib mehr als die Kleidung? Sehet die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater nährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist aber unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen kann, ob er gleich darum sorget? Und warum sorget ihr für die Kleidung? Schauet die Lilien auf dem Felde, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht bekleidet gewesen ist wie derselben eine. So denn Gott das Gras auf dem Felde also kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr euch tun, o ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach solchem allem trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr des alles bedürfet. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen. Darum sorget nicht für den andern Morgen; denn der morgende Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass ein jeglicher Tag seine eigene Plage habe.

Diese Verse sind, wie Sie sicher wissen, ein Teil der Bergpredigt; Luther hat sie überschrieben mit „Vom Schätze sammeln und Sorgen“. Die Verse 19-21 sowie 25-33 finden sich analog auch im Lukas-Evangelium und heißen dort „Falsches und rechtes Sorgen“.

Ich könnte jetzt lange über das Schätze sammeln reden, über die Banken und die Finanzkrise, über unsere Abhängigkeit von Wirtschaft und Ökonomie und über den falschen Gott des Geldes, der in der Luthersprache Mammon heißt. Für mich jedoch hat der Text ein anderes, tiefer reichendes Grundthema.

„Sorgen“, das ist für mich das Schlüsselwort des Textes. Sorget nicht um euer Leben, um Essen, Trinken und Kleidung, sorget nicht um den anderen Morgen – das ist die Botschaft. Es ist, damals und heute erst recht, eine wohlbedachte Provokation, eine Kampfansage an die Welt, wie sie ist, und ich kann sehr gut den Worten folgen, mit denen Matthäus die Bergpredigt schließt: „Und es begab sich, da Jesus diese Rede vollendet hatte, entsetzte sich das Volk über seine Rede, denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten.“ Nein, es ist nicht eine Meinung, ein Diskussionsbeitrag, ein vielleicht bedenkenswerter Vorschlag, sondern allen Ernstes und Wort für Wort so gemeint. Und auch wenn man diese Worte nicht als Aufforderung zum fröhlichen Dauerurlaub missversteht, in dem man Tag um Tag dem Beispiel der Vögel unter dem Himmel und der Lilien auf dem Felde folgt, so bleiben sie herausfordernd genug.

Spätestens mit dem Anbruch der Moderne, also mit der Entstehung von Gesellschaften, die systematisch mit Zukunft und Zukunftsmöglichkeiten operieren, hat die Welt den von Jesus verworfenen Weg der Sorge eingeschlagen. Die Zukunft in dieser Welt zu bedenken heißt nichts anderes als sich Sorgen zu machen. Mentalitätsgeschichtlich, so sagt uns Max Weber in seiner Schrift „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, haben die Kirchen der Reformation daran einen beträchtlichen Anteil, auch wenn Historiker seine Thesen heute relativieren. In diesem Umbruch wird die Sorge umgetauft und heißt nun: Verantwortung. Statt sozialen und religiösen Pflichten zu gehorchen sind wir nun unter den Imperativ geraten zu bedenken, was unser Handeln heute für morgen bedeutet: für uns selbst, unsere Angehörigen, die Gesellschaft, inzwischen sogar für den gesamten Planeten.

Dabei entdecken wir, in krisenhaften Schüben, immer neue Bereiche der Sorglosigkeit, die wir nach Kräften zu kontrollieren, zu regulieren oder ganz zu beseitigen versuchen, also einer Sorge zu unterwerfen, die wir als Vorsorge verstehen. Von der Sorge zur Vorsorge und schließlich zur Versorgung – das ist die Bahn, auf der die Sorge zum gesellschaftlichen, aber auch zum individuell-psychologischen Grundprinzip wird. Und wenn wir von Entsorgung reden, so meinen wir keineswegs Sorgenfreiheit, sondern nur einen weiteren Bereich, der uns große und immer größere Sorgen bereitet.

Ich betone unsere umfassende Verstrickung in die Macht der Sorge so stark, um in aller Schärfe den Kontrast zum biblischen Text zu verdeutlichen. Ich will auch keineswegs den Eindruck erwecken, als ob wir uns alle jederzeit oder jedenfalls immer häufiger in einer Stimmung sorgenvoller Bedrücktheit befänden, obwohl es dafür ohne große Übertreibung eine ganze Reihe von Indizien gibt. Wir sind ja im Gegenteil stolz auf unsere auf Basis der Sorge errichteten sozialen Systeme, und betrachten sie mit guten Gründen als unter Mühen erkämpfte Errungenschaften und Erfolge: Kranken-, Sozial-, Alters- und Pflegeversicherung, Umwelt- und Klimapolitik, Bildungs- und Sozialpolitik, Justiz und Verwaltung, Marktregulierung usf., so sehr wir auch immer wieder ihre Verbesserung, das heißt: ihre sorgegerechtere Gestaltung anstreben.

Es ist vielleicht eine paradoxe Dynamik, aber wir erlegen uns gesellschaftlich immer größere Sorgen auf, um uns individuell von Sorgen zu entlasten. Wir können uns allerdings nie sicher sein, ob diese Rechnung aufgeht. Was gestern noch als Problemlösung galt, wird heute oder morgen schon wieder als unzulänglich verworfen, muss einer Reform unterzogen und neu gelöst werden, mit Ergebnissen, die demnächst wieder als vorläufig erkannt werden.

Auch die aktuellen Vorschläge zum Umbau unserer Industrie-, Konsum- und Überflussgesellschaft, die im Zeichen einer Abkehr vom Verbrauch fossiler Energien stehen, von Selbstbeschränkung und Stabilität ohne Wachstum, so umwälzend und notwendig sie auch sein mögen, befreien uns von dieser ehernen Kette nicht.

Gemessen daran müssen uns die Forderungen Jesu als höchst unrealistisch oder gar antirealistisch erscheinen. Sie sind mit der Welt, die wir kennen, so mein vorläufiger Schluss, definitiv nicht vereinbar.

Realismus, so werden Sie vielleicht einwenden, ist nicht alles. Der Glaube zumal geht andere Wege. Für einen Protestanten ist es allerdings nicht ganz einfach zuzugestehen, dass Realismus, also Verantwortung in dieser Welt, und Glauben, also Vertrauen in Gott, in verschiedene Richtungen weisen sollen. „Nach solchem allem,“ nämlich dem, was der Sorge unterliegt, so heißt es in unserem Text, „trachten die Heiden.“ Oder, in der Kirchentagsübersetzung: „Auf all dies richten die Menschen der Völker ihren Sinn“ – all dies, also Versicherungen, Politiken, Reformbemühungen. Nicht etwa Gier, Machtstreben, Lüge, Eitelkeit. Vor diesem Maßstab sind wir, da ziehe ich den älteren Text vor, alle Heiden. Der Kirchentagstext hat, nach meinem Empfinden, diesen Schluss heimlich bereits ratifiziert – zugegeben in einer durchaus realistischen Einschätzung unserer Lage, in der wir nicht mehr selbstgerecht auf andere, auf irgendwelche Heiden, herabblicken können oder dürfen. Wir Christen sitzen mit den Heiden ganz ohne Zweifel im gleichen Boot. Unterschlagen sollten wir diese heidenhafte Egalität dennoch nicht.

Realismus ist auch nicht der angemessene Bezugsrahmen für eine andere Artikulation unseres Daseins – die Kunst. Zwar hat man in einer wirkungsmächtigen Tradition auch die Kunst „realistischen“, in unserem Kontext also von Sorge bestimmten Zielen zugeordnet. „Prodesse et delectare“, so die berühmte Prägung nach der ars poetica des Römers Horaz, Nützlichkeit und Erbaulichkeit oder, ein bisschen moderner, Information und Unterhaltung seien die Grundelemente der schönen Künste. Heute finden Sie die beiden Begriffe im Grundauftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wieder. Künstler und Kunstbegeisterte haben diese profane Zweck­bestim­mung immer als eine engstirnige, im Grunde kunstfremde Banalisierung bekämpft. Ich teile diese Haltung und würde die Kunst, um es so kurz wie möglich zu machen, vielmehr als einen Verwandlungsakt beschreiben, der sich sowohl in der künstlerischen Schöpfung wie in der Kunsterfahrung ereignet. Es ist dieses sich selbst genügende Verwandlungsgeschehen, was die Kunst prinzipiell von der „Sorge um den morgigen Tag“ unterscheidet.

Versuchen wir also, den Bibeltext durch ein Kunstwerk zu beleuchten – durch den Film „Hope“, den uns, wie angekündigt, ein Zufall zugespielt hat. Der Titel, „Hope“, Hoffnung, bildet selbst schon ein Gegenstück zu dem mächtigen Komplex, mit dem wir uns bislang beschäftigt haben, der Sorge. Ein Gegenstück übrigens, was sich ebenfalls auf Zukunft bezieht. Krzysztof Piesiewicz, der Autor des Drehbuchs, hat den Film als Teil einer Trilogie geschrieben, deren andere beiden Teile „Glaube“ und „Liebe“ heißen. Von dieser Trilogie ist bis jetzt nur ein Teil realisiert worden, eben „Hoffnung“. Glaube, Hoffnung, Liebe – das ist die berühmte Trias des Evangeliums, die Paulus im 1. Korintherbrief als Grundlagen eines christlichen Lebens bezeichnet – Paulus spricht von „Geistesgaben“, wir würden eher, etwas farbloser, von Grundeinstellungen oder Grundhaltungen reden.

Wenn Sie den Film sehen werden, werden Sie sich vermutlich fragen, was der Titel denn mit dem Ganzen zu tun hat – erst recht, wenn Sie den paulinischen Hintergrund im Kopf haben. Und es wird Ihnen sicherlich nicht genügen, dass der Held der Geschichte einmal ein grünes Auto mit dem Kennzeichen HO-PE 123 fährt.

Der Film spielt im heutigen Polen und handelt von einem jungen Mann, František, der den Diebstahl eines wertvollen Kirchenbildes beobachtet, ja sogar mit einer Videokamera filmt, und den Dieb, einen renommierten Kunsthändler, dazu bringen will, das Bild zurückzugeben. Die ganze Operation erweist sich als höchst gefährlich, weil das Bild längst in die Hände einer skrupellosen Hehlerbande gelangt ist, einer polnischen Variante der Mafia.

Diesem Thriller um einen Kunstdiebstahl stellt der Film einen Prolog voran, der ein einschneidendes Erlebnis aus Františeks Kindheit schildert. Ich möchte Ihnen diesen Prolog in voller Länge zeigen und noch einige Einstellungen danach – etwa 6 ½ Minuten, ohne dass ein einziger Satz fällt. Allein dieser Verzicht auf jeden Dialog in der grundlegenden Exposition des Films ist ein Kunststück für sich.

(Ausschnitt 1: 0.00-6.41)

Wir sehen eine sommerliche Idylle. Eine schöne blonde Frau hört die Radioübertragung eines Konzerts, das, wie wir später begreifen, ihr Mann dirigiert. Auf der Wiese um das Haus herum spielen Kinder. Ein älterer Junge kickt einen Ball hoch und weit, bis auf die Straße, sein kleiner Bruder läuft ihm nach. Die Mutter springt erschrocken auf und läuft los, ein LKW donnert vorbei. Auf der Straße nähert sich der Kleine mit dem Ball zögernd einer liegenden, weißgekleideten Gestalt. Nicht er, sondern die Mutter ist überfahren worden.

Auch Sie werden den Schock verspürt haben, den der plötzliche Tod der Mutter auslöst – ein Schock buchstäblich wie aus heiterem Himmel. Für die Betroffenen hinterlässt er, mit einem populären Begriff der Psychologie, ein Trauma. Der Vater, innerlich gebrochen, wird von einem berühmten Dirigenten zum Organisten einer Kleinstadtkirche. Der Bruder, der den Ball auf die Straße gekickt hat, wird kriminell und sitzt im Gefängnis. Und František, der kleine Junge, der nicht begreift, dass seine Mutter tot ist? František glaubt, dass ihm nichts geschehen kann, als sei er vor jeder Gefahr gefeit– und nimmt es mit einer kriminellen Bande auf. Er lebt im Schutz einer narzisstischen Unberührbarkeit. Als sich ein Mädchen in ihn verliebt, bemerkt er es kaum. Wir kennen diesen Typus aus der mythologischen Überlieferung, etwa als Siegfried, der in Drachenblut gebadet hat. Anders als dieser sich unbesiegbar fühlende germanische Raufbold gehört der zarte, jünglingshafte František jedoch zu einem anderen Bild- und Motivkreis. Um uns ein wenig auf die Sprünge zu helfen, gibt ihm der Film ein ausgefallenes Hobby: er ist Fallschirmspringer, einer, der sich in den Lüften zuhause fühlt. Solche Wesen kennen wir aus der christlichen Tradition, als Engel. Das Bild des Geige spielenden Engels in der Kirche, das gestohlen wird, erinnert uns ausdrücklich an diese Vorstellungswelt.

Dann passiert etwas, das Františeks engelhafte Sorglosigkeit, seine imaginäre Unverletzlichkeit und Todesgefeitheit zerstört. František wird auf seinem Motorroller von einer schwarzen Limousine angefahren, von der Straße gedrängt und stürzt einen Abhang hinunter. Es ist nur ein Kratzer, den er bei diesem Unfall, der in Wahrheit ein Mordanschlag ist, davonträgt. Aber das nächste Mal, als er aus einem Flugzeug springt, reißt sein Fallschirm – und er überlebt nur, weil sich im letzten Moment ein zweiter, ein Sicherheitsschirm öffnet. Der Engel stürzt und erlebt zum ersten Mal das Gefühl der Angst. Danach schläft er das erste Mal mit dem Mädchen, das ihn liebt.

Er wird, so könnten wir sagen, erwachsen, er wird menschlich, oder auch: er wird von seinem Trauma, seiner Verdrängung des Todes, geheilt.

(Ausschnitt 2: 1:24-1.26)

Das ist noch nicht das Ende des Films – und vieles andere habe ich schon weggelassen. Ich hoffe ja, dass Sie heute Abend wiederkommen und den Film selbst sehen werden. Eines bin ich Ihnen aber noch schuldig, nämlich eine Auskunft über das Schicksal des Bildes, des anderen Engels der Geschichte. Er kehrt tatsächlich an seinen Platz zurück, an die Wand der Kirche hinter dem Altar. Františeks riskanter Einsatz hat sich also gelohnt. Bleibt noch die Frage, was ihn zu seinem Abenteuer überhaupt getrieben hat. Das fragt ihn auch der räuberische Kunsthändler. Es geht ihm ja weder um materielle Entschädigung, also um Geld, noch um juristische Genugtuung, also Strafe. Es geht mir um etwas anderes, sagt František. Und lässt den Kunsthändler, und damit auch uns, mit der Antwort im Stich.

Offene Fragen dieser Art fordern uns auf, eine eigene Lösung zu suchen. Die Antwort gibt uns die leere Wand, die nach dem Diebstahl in der Kirche entstanden ist. Die Leere der Wand offenbart keinen materiellen Verlust, denn in der Kirche hat das Bild keinen Geldwert – ein solcher Wert entsteht erst auf dem Kunstmarkt, sei er legal oder illegal. Auch keine Sachbeschädigung, die die Zusammenkunft der Gemeinde erschweren würde, wie etwa eine zerbrochene Kirchenbank. Es ist schon eher ein ästhetischer Verlust, aber darüber lässt sich streiten. Ist die leere Wand nicht einfach schlicht, und damit sogar schöner als der perspektivisch doch etwas verunglückte, mindestens ziemlich gewagte Engel des Renaissancemalers Melozzo da Forli von 1480?

Zumindest ein Teil unserer protestantischen Vorfahren hat sich für die leeren Wände und gegen die Bilder entschieden, die Bilderstürmer oder Ikonoklasten, die ästhetischen Schmuck in Kirchen nicht nur für entbehrlich, sondern für eine irreführende, sogar schädliche Ablenkung vom Eigentlichen, von der rechten Ausübung des Glaubens hielten. Wenn es denn nur Ablenkung, Unterhaltung und Erbaulichkeit wäre. Die Bilder haben noch eine andere, in ihrer eigentümlichen Unbestimmbarkeit wurzelnde Qualität. Sie sind, nicht nur im katholischen Umfeld, ein Element des Glaubenslebens selbst. Der Diebstahl des Engelsbildes ist deshalb nicht einfach eine Straftat im juristischen Sinn, sondern, mit einer altertümlichen Wendung, ein Frevel. Er beschädigt die Integrität der Kirche als Kultort. Auch die Wiederbeschaffung des Bildes ist eine Heilung, religiös gesprochen, ein Akt der Buße. Der Film erzählt also zwei ineinander verschränkte Heilungsgeschichten.

Wenn ich den Film auf unseren Bibeltext beziehe, so ergibt sich eine doppelte Schlussfolgerung. Erwachsenwerden, Aufwachen aus der im Guten oder Bösen verzauberten Welt der Kindheit heißt beginnen, sich Sorgen zu machen. Einerseits. Andererseits werden die Dinge, ein Bild, ein Engel, nicht ihren und auch wir selbst nicht unseren rechten Platz finden, wenn wir uns nicht an etwas anderem orientieren als an der Sorge. Das ist ein ambivalenter, nicht sehr befriedigender Befund. Aber vielleicht müssen wir uns gerade mit Ambivalenzen anfreunden, statt immer Eindeutigkeit zu fordern.

Ich komme zurück zu unserem Bibeltext, und zwar zu der ersten Hälfte, von der ich bisher noch gar nicht gesprochen habe. Sie enthält eine bemerkenswerte Abschweifung, die Jesus in seine Predigt einflicht. Sie betrifft das Sehen. Unmittelbar nach unserem Kirchentagsmotto, „Denn wo dein Schatz ist, da wird auch dein Herz sein“, heißt es: „Das Auge ist des Leibes Leuchte. Wenn dein Auge lauter ist, so wird dein ganzer Leib licht sein. Wenn aber dein Auge böse ist (im Kirchentagstext heißt es: Wenn dein Auge missgünstig ist), so wird dein ganzer Leib finster sein. Wenn nun das Licht, das in dir ist, Finsternis ist, wie groß wird dann die Finsternis sein!“

Das Auge ist des Leibes Leuchte – das ist mehr als ein poetisches Bild. Es entspricht der antiken Vorstellung, dass das Auge Strahlen, Sehstrahlen, aussendet, die die Welt der Körper vermessen und von ihnen ins Auge zurückkehren. Das Auge kann aber auch bestimmte Qualitäten auf die Dinge übertragen – denken Sie an den bösen, also schädigenden Blick, vor dem man sich schützen muss, oder, im Kontrast, an den liebenden Blick, der das oder den Gesehenen, oder besser Getroffenen, mit der Emotion des Blickenden ansteckt, infiziert, verklärt. Das Auge ist ein aktives, kein passives Organ, in filmischen Begriffen gesprochen, eher ein Projektor als eine Kamera. Umgekehrt gilt aber auch, dass das Auge die Bilder sammelt, die sich von den Körpern lösen, wieder nicht in unserem modernen Sinn, sondern wie ein Behälter, eine Art Seh-Magen.

Diese Form optischer Theorie mag uns heute nur noch kurios erscheinen. Sie ist uns dennoch nicht so fern, dass wir die Worte Jesu nicht verstehen würden, mindestens ungefähr. Dabei kommt uns zu Hilfe, dass Licht-Dunkel-Metaphern im Gefolge alter Weisheitslehren auch in die Vorstellungen von Moral und Erkenntnis eingewandert und dort lebendig geblieben sind. Auch die Sätze Jesu verweisen auf diesen Kontext und sind uns darin vertraut geblieben.

Die Leuchte des Auges strahlt bei ihm eben nicht nur nach außen, sondern ebenso oder erst recht nach innen und erzeugt dabei einen lichten oder sogar leuchtenden Leib. Versagt dieses Leuchten, ist die Finsternis groß, innen wie außen.

Sie folgen mir hoffentlich immer noch bei meinem Versuch, die Worte Jesu wörtlich zu nehmen. Ich verstehe das erloschene Auge und den verfinsterten Leib als ein Krankheitsbild und die folgenden Sätze Jesu als einen Heilungsvorschlag. Oder vielmehr, weil es zum Erlöschen gar nicht erst kommen soll, als Hinweis auf eine Lebensführung „im Licht“, mit Akzent auf Erkenntnis also in der Wahrheit, mit Akzent auf die Moral in Gerechtigkeit. So gesehen stammt auch die Lehre, die Jesus uns an dieser Stelle mitgibt, aus der Sorge.

Wenn das Betriebsgeheimnis unseres Daseins die Sorge ist, so sieht es mit unserer Gattung nicht gut aus. Sorge heißt unvermeidlich Verfinsterung. Sie kann durch die Sorge selbst nicht aufgehellt werden, sondern droht sich immer weiter auszubreiten. Der durch und durch Sorgenvolle sieht nur noch schwarz. Er sieht statt Freiheit nur noch Zwang, statt Vergnügen nur noch Arbeit, statt Glück nur noch Katastrophenfälle.

Ist also Mäßigung die Lösung, die rechte Balance zwischen Besorgtheit und Entspannung? Besteht sie in einem beständigen Zeit-, Stress- und Selbstmanagement, das zwischen wohldosierten Belastungs- und Entlastungsphasen pendelt? Ich habe bereits anfangs gesagt, dass für mich solche Kompromisse am Kern der Sache und am Kern des Textes vorbeigehen, und ich halte deshalb auch die Unterscheidung zwischen rechten und falschen Sorgen, wie sie die Lukas-Glosse vorschlägt, für irreführend.

Die Lehre Jesu gibt uns eine andere, eine weisheitliche Antwort. Jesus sagt, in einer dann doch überraschenden Wendung: für eure Sorgen ist bereits gesorgt. Die Welt ist so eingerichtet, dass sie für eure Sorgen Antworten bereithält. Sie ist nicht auf Misslingen, auf Enttäuschung, auf eine unendliche Vergeblichkeit angelegt. Sie lässt uns nicht im Stich. Dies ist die Gerechtigkeit Gottes. Sie macht Sorgen und Anstrengungen nicht entbehrlich, aber sie entlastet das Dasein von Grund auf, weil sie dem, was wir selbst bewirken können, schon vorausliegt.

In diesem Sinn kann Jesus sagen, in ebenso schlichten wie eindringlich-schönen Gleichnisbildern, die viele kennen, auch wenn sie die Bibel nicht gelesen haben: Sehet die Vögel unter dem Himmel, sie säen nicht, sie ernten nicht, und euer himmlischer Vater nähret sie doch; und schauet die Lilien auf dem Felde, sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht, und sind doch schöner gekleidet als König Salomo in all seiner Herrlichkeit. Und schließlich: Sorget euch nicht, sondern: „Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch solches alles zufallen.“

Es wäre schön, wenn ich mit diesem tröstlichen, zuversichtlichen, ermutigenden Wort schließen könnte. Wenn wir gewiss sein könnten, dass, wie in unserem Film, die Hoffnung obsiegt, Verletzungen geheilt und alles seinen rechten Platz findet, so verschlungen die Wege dorthin auch sein mögen. Ich kann jedoch nicht unterschlagen, dass dieses schöne, Vertrauen stiftende, gerechte

Entsprechungsverhältnis zwischen der Schöpfung und ihren Geschöpfen durch unser eigenes, sorgegeleitetes Handeln in Gefahr geraten ist. Ein Handeln, das eben diese Entsprechung verworfen hat, das nur seiner internen Logik folgt – und seinen eigenen Folgen nicht mehr gewachsen zu sein scheint. Ein Handeln, das prinzipiell nicht auf Antworten, auf Entsprechungen ausgerichtet ist, sondern im Kreis der Sorge gefangen bleibt.

Fast jede Nachrichtensendung heute informiert uns über Folgen dieses Handelns, die uns alle tendenziell zu überfordern scheinen. Vor allem in dem Bereich, der unsere natürlichen Lebensgrundlagen betrifft. Wir wissen, dass wir für diese Probleme technische, politische und ökonomische Lösungen finden müssen. Wir wissen aber auch, dass sie nicht ausreichen werden, weil diese Probleme tief in unseren Lebensgewohnheiten, in unseren Wünschen und Erwartungen, in unserer gesamten Alltagspraxis verwurzelt sind. Die Frage ist, ob wir uns von dieser Praxis allein durch eine Willensanstrengung lösen können. Ich für mein Teil bin da sehr skeptisch, und bin gewiss nicht der einzige.

Kann uns in dieser Lage ein Film oder ein Bibeltext helfen? Heute fragen sich ja viele, ob die Vögel unter dem Himmel und die Lilien auf dem Felde nur eine schöne, vom Verschwinden bedrohte Reminiszenz sind. Ob Bilder dieser Art nur etwas für erbauliche Stunden, für eine vorübergehende Entspannung, für ein bisschen religiöse Nostalgie sind, etwas für Sonntagsreden und Kirchentage, aber keine Lehre für unser Dasein.

Ich hoffe, dass ich Ihnen verständlich machen konnte, dass ich diese etwas herablassende, etwas versöhnliche, etwas opportunistische Einschätzung nicht teile. Die Worte Jesu bleiben, ich wiederhole mich, eine Provokation, eine Kampfansage – heute erst recht. Sie kommen unbestreitbar aus einer anderen Welt. Nicht aus der Welt des Realismus, der Sorge, der Vorsorge, der Versorgung und Entsorgung. Wenn sich unsere Welt nicht verfinstern soll, müssen wir unser Herz, unsere Sinne und unsere Vernunft für eine andere Welt offenhalten.

Wir können dabei auf die Stimme der Kunst hören, auf Literatur, Musik, Bilder und Filme, die uns für andere Welten empfänglich machen. Sie, die Künste, sind ein beredtes Plädoyer für die Möglichkeit, das Hier und Jetzt zu überschreiten und die Welt zu verwandeln. Und hören wir dann auf Jesus, der verspricht, uns selbst zu verwandeln. Jesus sagt: es kommt alles darauf an, was euch wichtig ist. Trachtet am ersten nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit. Denn dort, wo dein Schatz ist, wird auch dein Herz sein.

Amen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/114/kv12.htm
© Karsten Visarius, 2018