Theologie gilt es im Horizont der Kultur der Gegenwart und ihrer Religionsproduktivität zu betreiben. Dass das so ist und wie dabei vorzugehen, dazu hat Jörg Herrmann während der letzten 25 Jahre entscheidende Beiträge geleistet. Mit seinem Buch über die „Sinnmaschine Kino“[1], profilierte er den neuen Typ einer Theologie, die sich als Religionskulturhermeneutik begreift und am Material, vor allem des populären Films, zur Durchführung bringt. Die Brauchbarkeit auch für die kirchliche Praxis behält er dabei immer im Blick.

Ich will hier versuchen, mit wenigen Strichen die Genese dieses Konzepts einer Theologie, die als Religionskulturhermeneutik arbeitet, nachzuzeichnen. Die Anregung, die sie der religiösen Kommunikation zu geben vermag, erläutere ich anschließend mit Skizzen zur religionskulturhermeneutischen Bearbeitung von zwei Kino-Filmen.

Eine Theologie, die als Religionskulturhermeneutik arbeitet, steht in der Tradition neuprotestantischer, liberaler Theologie. Sie trägt zu jener Umformung der Theologie bei, die es macht, dass diese ihren Ausgang nicht von doktrinalen Vorgaben nimmt. Weder gilt ihr die Bibel fraglos als Gottes Wort, noch gar betrachtet sie die Lehre und das Bekenntnis der Kirche als axiomatische Größen. Sie fragt nicht, was die Theologentheologie, also die Theologie, die „Theologen“ und „Theologinnen“ kreieren, in die jeweilige Gegenwart hinein, zu Kunst und Kultur, Politik und Gesellschaft zu sagen hat.[2] Sie fragt vielmehr nach der Religion der Menschen und wie diese sich in der Kultur der Gegenwart Ausdruck verschafft.

Mit der Aufklärung, die die protestantische Theologie seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht nur mitvollzogen, sondern energisch vorangetrieben hat, beginnt dieser Typ von Theologie. Sie hat die alltagspraktische gelebte, sich in der Kultur als ihrer Lebenswelt zum Ausdruck bringende wie durch diese ebenso geformte Religion der Menschen zu ihrem Gegenstand. Die Theologie der Aufklärung sorgte für eine aufgeklärte Religion. Seither ist die Religion eine „Angelegenheit des Menschen“ (Spalding)[3] und als solche das organisierende Zentrum der Theologie.

Mit der Auffassung, dass die Religion dem Menschsein zugehörig ist, wird nicht die Behauptung verbunden, dass der Mensch gleichsam von Natur aus religiös sei. Viele, wenn nicht sogar die meisten Zeitgenossen, würden dem energisch widersprechen. Verlangt ist lediglich das Zugeständnis, dass die Fragen, die die Religion stellt, verständlich und allgemein nachvollziehbar sind. Es sind dies Fragen nach dem Sinn des Ganzen und unseres eigenen Daseins in ihm, warum wir für eine begrenzte Zeit auf der Welt sind und was unserem Tun eine unsere endliche Existenz qualifizierende Bedeutung gibt.

Ausschlaggebend für die kulturelle Präsenz der Religion sind für eine religionskulturhermeneutisch verfahrende Theologie nicht religionsinstitutionelle Zugehörigkeitsverhältnisse oder gottesdienstliche Teilnahmefrequenzen, nicht die gläubige Anerkennung kirchlicher Lehren und Bekenntnisse, nicht die Zustimmung zu theologischen Sätzen. Ob die Religion im gelebten Leben vorkommt, zeigt sich ihr daran, ob und wie Menschen in ihren lebensweltlichen Beziehungen Sinn erfahren, ob und wie sie ihr Leben in einen ihnen selbst verständlichen Zusammenhang bringen und auch noch in zerbrechenden Beziehungen auf einen letzten Halt rekurrieren.

Eine so gelebte Religion muss sich nicht in Form von „Gläubigkeit“ und auch nicht in der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ausdrücken. Sie bedeutet eine vertrauensvolle Sinneinstellung zum Leben, eine von Grundvertrauen durchstimmte Lebenshaltung, und eben keinen doktrinalen Glauben. Sollte jedoch dennoch vom Glauben die Rede sein, dann bedeutet „Glauben“ dies, darauf vertrauen zu können, dass der Welt im Ganzen sowie dem eigenen, endlichen Dasein in ihr, ein unendlicher Sinn innewohnt, obwohl dieser in seiner Unendlichkeit uns endlichen Menschen letztlich unbegreiflich bleibt. „Gott“ ist das menschliche Wort für den unbegreiflichen Sinn des Ganzen. Es kommt deshalb diesem Wort und erst recht dem religiös grundierten Vertrauen, das Menschen auf das mit ihm Gemeinte setzen, eine elementare, weil den Lebensvollzug tragende Bedeutung zu.

In der modernen, ebenso religionspluralen wie aufgrund einer dramatischen Schwächung der religiösen Institutionen als „säkular“ eingeschätzten Kultur, wird es gleichwohl zu einer soziologisch höchst kritischen Frage, wo und wie die religiösen Selbst- und Sinndeutungsvollzüge denn ihren kulturellen Ausdruck und anerkannte Formen sozialer Praxis finden. Viele zeigen sich überzeugt, dass von einer sinnkonstitutiven Präsenz der Religion in der modernen Kultur gerade nicht mehr die Rede sein könne. Die Behauptung, dass die Religion zum Menschsein gehöre, erscheint ihnen als übergriffige theologische Anmaßung. Zwar wird die Säkularisierungsthese, wo sie noch vertreten wird, inzwischen sehr viel differenzierter betrachtet, was sich auch an der Rede vom Postsäkularen zeigt.[4] Säkularisierung wird jedenfalls nicht mehr mit einem Verschwinden der Religion aus der modernen Gesellschaft gleichgesetzt.[5] Auch der Mitgliederverlust und die evident nachlassende Teilnahme am kirchlichen Leben, womit sich die Großkirchen in Deutschland wie in fast allen Ländern Europas konfrontiert sehen, werden nicht mehr unbedingt als Zeichen des Verfalls der Religion gedeutet. Statt von Säkularisierung spricht man inzwischen eher und tatsächlich auch zutreffender von der Individualisierung der gelebten Religion – gehorcht doch auch noch das kirchliche Teilnahmeverhalten selbst dort, wo es eine gewisse Stabilität zeigt, den individuellen, lebensgeschichtlich motivierten Lebenssinndeutungsinteressen der Menschen. An den Krisen- und Wendepunkten im Leben der einzelnen, der Familien, der Gesellschaft, ist das Bedürfnis, sich in den Sinndeutungshorizont der institutionalisierten Religion einbezogen zu wissen, immer noch signifikant.[6] Dennoch, das Säkularisierungsnarrativ, gegen das auch die These vom Postsäkularen letztlich keine ernsthafte Einrede darstellt, sorgt dafür, dass die Religion nicht nur auf der individuellen Ebene, sondern als konstitutive Dimension des Humanen immer wieder zur Disposition gestellt wird.

Es ist schließlich so, dass man Religion praktizieren, dies aber ebenso lassen kann, dass man einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zugehören, religiöse Zugehörigkeiten wechseln oder auch sich als religions- bzw. konfessionslos bezeichnen kann. Diese religionsempirischen Tatbestände bestreiten zu wollen, wäre töricht. Auch ist es durchaus verständlich, dass eine mit quantitativen Kriterien operierende Religionsforschung die sozio-kulturelle Präsenz der Religion vorzugsweise am Grad der Zugehörigkeit zu Kirchen, Religionen und religiösen Gemeinschaften misst. Sie misst sie an der Häufigkeit der Gottesdienstteilnahme sowie der Kenntnis von, bzw. der Zustimmung zu als orthodox geltenden Doktrinen wie der Gottessohnschaft Jesu, dessen leiblicher Auferstehung oder dem Glauben an die Trinität. Dass bei einem solchen Verfahren nichts anderes herauskommen kann als der durch empirische Daten verstärkte Hinweis auf das allmähliche Dahinschwinden jener Religion, die zuvor nach den als orthodox geltenden Doktrinen als die christliche definiert worden ist, dürfte allerdings ebenso wenig verwundern.[7]

Die Religion nicht nur in den Religionen, Kirchen und religiösen Gemeinschaften, sondern in der Kultur als Lebenswelt auffinden zu wollen, darf nun jedoch nicht in einem allzu schlichten Sinn mit der Behauptung in Verbindung gebracht werden, die Religion sei eine anthropologische Konstante und der Mensch notwendigerweise religiös. Zwar entspringt die Religion dem notwendigerweise in uns Menschen aufkommenden Selbst- und Sinndeutungsverlangen. Wir wollen wissen, warum wir auf der Welt sind und was das Ganze überhaupt soll. Aber jede Antwort auf diese Frage setzt Kommunikation und damit (mediale) Kultur schon voraus. Das soziale Vorkommen von Religion stellt einen kulturellen und keinen naturgegebenen Tatbestand dar. Als humaner Selbstdeutungsvollzug gehört die Religion zur Kultur des Sich-Verhaltens zu den uns unhintergehbaren Sinnbedingungen unseres Daseins. Wie an allen anderen Kulturleistungen auch, können wir uns jedoch auch an denen der Religion individuell beteiligen, dies in einem stärkeren oder geringeren Maß tun, oder es auch ganz lassen.

Mit der Zugehörigkeit der Religion zum Menschsein ist gemeint, dass es Lebenserfahrungen und Existenzfragen gibt, die unabdingbar nach religiöser Deutung verlangen. Die Frage, ob, wo und wie diese religiöse Deutung tatsächlich vollzogen wird, führt jedoch nicht auf anthropologische Gegebenheiten, sondern auf kulturelle Leistungen und Vollzüge, auf symbolisches Ausdrucksverhalten, rituelle und mediale Praktiken – in der Kirche, in der organisierten Religion, aber nun gerade auch in der Weite der „säkularen“, der individualisierten, politischen, ästhetischen und cineastischen Kultur, die zugleich unsere Lebenswelt ausmacht.

Es gilt, die Religion, das eigene Beteiligtsein an ihr bzw. das „Religiössein“, als einen „diskursiven Tatbestand“[8] aufzufassen. Die Religion gibt es nicht, auch nicht in den Herzen der Frommen. Sie entsteht in kommunikativen Prozessen. Die religiöse Ansprache macht es, dass Menschen religiös reagieren, sich religiösen Selbstdeutungen anschließen, sie von sich abweisen oder auch ihr Desinteresse an religiösen, aufs Ganze gehenden Lebenssinndeutungen zu erkennen geben.[9] Da sind die individuellen Freiheitsspielräume groß. Ebenso groß ist jedoch auch die kategoriale Bandbreite dessen, was als religiöse Kommunikation gelten kann und was nicht. Sie kann ja nicht mehr allein am Gebrauch tradierter religionskultureller, insbesondere kirchlicher Semantik identifiziert werden. Eine kulturhermeneutisch verfahrende Theologie, die den Vollzug religiöser Selbstdeutung in der Weite der Gegenwartskultur sichtbar macht, darf sich deshalb auch nicht auf Kirchentheorie beschränken, sondern muss sich als praktische Kulturtheologie bzw. eben Religionskulturhermeneutik zur Durchführung bringen. Diese wiederum kann ihrer Aufgabe, das soziale Vorkommen und die soziale Reichweite religiöser Kommunikation zu identifizieren, nicht nur in den religionsinstitutionellen kirchlichen Zusammenhängen nachgehen. Sie zielt darauf, die religiösen, aufs Ganze gehende Sinnfragen in den verschiedenen Ausdrucksformen und Medien der Kultur der Gegenwart, in der das die Menschen Bedrängende und unbedingt Angehende artikuliert und debattiert wird, zu sehen und zu deren Bearbeitung im Lichte der christlichen Symboltradition beizutragen.

Eine gegenwartsorientierte, die individualisierte, politische und ästhetische Gegenwartskultur in den Blick nehmende Religionskulturhermeneutik arbeitet sich selbstverständlich auch an der Auslegung und Umformung der zentralen christlichen Glaubenssymbole ab. Religiöse Deutungstraditionen in Gebrauch zu nehmen und fortschreiben zu können, wird von ihr als die zentrale Herausforderung religiöser Bildung und religiöser Rede aufgefasst und dann auch zu Konzepten kirchlicher Religionspraxis in Predigt, Unterricht und Seelsorge ausgearbeitet.[10] Die Kirchen und andere Institutionen religiöser Bildung, wie etwa den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen, versteht sie als Orte der Pflege und Fortentwicklung religiöser Deutungskultur. Sie verlangt von den Menschen aber nicht, kirchlich tradierte Glaubenssätze als geoffenbarte Glaubenswahrheit anzuerkennen. Sie erkennt vielmehr auch schon in den biblischen Texten das symbolische Material, von dem Menschen auf je ihre Weise Gebrauch machen können, um zu einer religiösen, im Unbedingtheits- bzw. Transzendenzhorizont sich bewegenden und sich ihnen als lebensdienlich erweisenden Deutung ihrer Lebenserfahrungen zu kommen.[11]

Auf dem Wege der Deutung von Lebenserfahrungen, die immer in symbolisch-rituellen Praktiken geschieht, bringt die Religion Kultur hervor, wird sie durch diese zugleich aber auch geformt. Kultur, so kann mit Ernst Cassirer gesagt werden, ist das System der symbolischen Formen, vermöge deren sich Menschen die Welt und ihr eigenes Dasein auf bedeutsame Weise erschließt.[12] In der Kultur, die die vom Menschen geschaffene wie zugleich in ihrer Bedeutung ihm zugängliche Welt ist, zeigt sich die religiöse Dimension überall dort, wo es um den Sinn des Ganzen geht. Religion ist das, wie Tillich in einer wohlbekannten Formulierung sagte, „was uns unbedingt angeht“. Tillich erkannte die moderne Kultur als eine solche, in der die Kirchen religiös kraftlos geworden sind und demnach alles und jedes mit unbedingten Bindungskräften versehen werden kann.[13] Die Aufgabe einer die Religion der Menschen zu ihrem Gegenstand machende Theologie erkannte er deshalb immer auch in der Kritik von religiösen Unbedingtheitsansprüchen, die doch nur bedingten Größen, wie etwa der Nation oder dem Kultmarketing gelten. Die Kritik der Religion in der Kultur, sollte ihre Hermeneutik jedoch keineswegs erübrigen. Wer als Theologe die gelebte Religion der Menschen kritisieren will, muss zugleich die Absicht haben, sie zu verstehen und auch zu bilden. Theologie als Religionskulturhermeneutik ist dies beides, kritische Kommunikation über Religion wie produktive Kommunikation von Religion.

Jörg Herrmann hat enorm viel für die Durchsetzung einer solchen sowohl religionskritischen wie religionsproduktiven Theologie, die als Religionskulturhermeneutik auftritt, getan – auch und gerade in der kirchlichen Praxis. Ich bin selbst bei ihm in die Schule gegangen, vor allem was die Durchführung dieser Theologie in Gestalt einer religiösen Film- und Medienhermeneutik anbetrifft. Das will ich mit der religionskulturhermeneutischen Analyse von zwei Filmen noch ein bisschen zeigen.


Veronika beschließt zu sterben – Film von Emily Young, nach dem gleichnamigen Roman von Paul Coelho (USA 2009)

Der Film beginnt unvermittelt mit dem Versuch Veronikas, sich durch Einnahme von Schlaftabletten das Leben zu nehmen. Fast nebenbei erfährt der Zuschauer, dass sie sich zu diesem Schritt entschloss, weil sie keine Lust mehr hatte, weiterzuleben, die Gründe freilich erscheinen banal. In kurzen Sentenzen lässt Veronika ihr zukünftiges Leben Revue passieren – während sie eine Pille nach der andern schluckt. Die Bilder, die vor ihr auftauchen sind die eines bürgerlichen Lebens: Beruflich einigermaßen situiert, Sich verlieben, Heiraten, Kinder kriegen, dann natürlich auch Ehekrisen, das normale Programm eben.

Am Ende des Films sehen wir dieselbe Veronika wie sie dabei ist, beglückt in genau dieses Leben aufzubrechen, bis über beide Ohren in einen jungen Mann verliebt. Sie wird ihn heiraten. Sie wird in ihrem Beruf einigermaßen erfolgreich sein. Sie wird Kinder kriegen. Ihre Ehe wird in Krisen geraten. Sie wird ein ziemlich unspektakuläres bürgerliches Leben führen, aber es wird ein erfülltes Leben sein.

Es ist am Ende alles so wie es am Anfang war und doch ist zugleich alles anders. Warum? Veronika ist eine andere geworden. Was ist mit ihr passiert?

Davon erzählt der Film, von der Wandlung, die mit Veronika geschieht. Es ist eine Wandlung, die nicht die äußeren Umstände ihres Lebens betrifft, sondern ihre innere Einstellung zum Leben, ihre Vorstellungen vom und ihre Erwartungen ans Leben.

Wie beschreibt der Film die Wandlung Veronikas, von der Sinnleere, hin zur Sinnerfahrung? Auf diese Frage gibt der Film zwei Antworten:

Die erste verbindet sich mit dem psychologischen Trick des Arztes in der Heilanstalt Villette. Dieser täuscht der Veronika einen Herzschaden vor, verursacht durch das Koma nach der Überdosis Schlaftabletten. Er sagt ihr, sie habe nur noch kurze Zeit zu leben. Das Wissen um den nahen Tod soll in Veronika ein Bewusstsein für den Wert des Lebens wecken. Doch das funktioniert zunächst überhaupt nicht. Denn Veronika will ja sterben. So versucht sie erneut, an Schlaftabletten zu kommen, um ihren Tod noch schneller und aus eigener Kraft herbeizuführen.

Die zweite, subtilere Erklärung für die Wandlung der Veronika gibt der Film mit seinen Bildern. Sie zeigen Veronika am Flügel, dem sie nach ersten, grausigen Missklängen wieder wunderbare Töne zu entlocken vermag. Sie zeigen Veronika, wie sie sich vor dem ihr noch fremden Eduard selbst befriedigt, wie sie mit kräftigen Schwimmzügen durch den Pool gleitet, schließlich, wie sie dem Psychiater gesteht, dass sie noch viel vom Leben kennenlernen und erfahren will.

Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die Veronika nach und nach findet, ist keine gedankliche. Sie wird nicht mit Worten gegeben. Sie liegt in den Bildern des Films, mit denen sich zunehmend ein Lächeln ins Gesicht der Veronika einzeichnet. Die Bilder des Films führen in den Zirkel einer ästhetischen Erfahrung. Sie sagen: der Sinn des Lebens ist das Leben selbst. Also, lebe dein Leben, koste jeden Augenblick aus als wäre es dein letzter, und du wirst merken, wie schön es ist, zu leben!

Traditionelle Religionskultur kommt nur am Rande vor und dies in Gestalt eines Sufi-Predigers. Seine Aufgabe ist es offensichtlich, die religiöse Botschaft, die der Film mit seinen Bildern gibt, auch auszusprechen: Die Liebe zum Leben und der Glaube an das Leben gehören zusammen. Sich darüber durch einen Prediger belehren zu lassen – das ziehst der Film allerdings zugleich ins eher Lächerliche. Die schönen Worte machen nicht den Unterschied – so verstehe ich das. Es kommt auf die Erfahrung mit der Erfahrung, sich für solche Erfahrungen, wie sie der Film vor Augen stellt, offen zu halten, ist wichtig.

Der Film redet nicht von Gott, aber er zeigt, dass Veronika nach und nach eine Kraft spürt, die sie selbst transzendiert. Das ist die Kraft der Liebe, die religiöse bzw. theologische Deutungen nicht zwingend macht, aber auf plausible Weise ermöglicht.


The Brocken Circle (Originaltitel: The Brocken Circle Breakdown), Film von Felix van Groeningen, nach dem gleichnamigen Theaterstück von Johan Heldenberg (Belgien, Niederlande 2012)

Schon mit den ersten Szenen führt dieser Film mitten hinein ins schlimmste Unglück: ein kleines Mädchen, Maybell, ist an Leukämie erkrankt. Seine Eltern begleiten es ins Krankenhaus. Die beiden sind ein interessantes Paar: Er ein Künstler- und Aussteigertyp, sie mit vielen Tattoos, die aus den unbedeckten Stellen ihrer Haut hervorragen. Da haben zwei einander gefunden, die einen eigenwilligen Lebensstil praktizieren. Als Eltern einer krebskranken Tochter reagieren sie jedoch genauso wie andere auch: geschockt, betroffen und hilflos.

Die nächsten Szenen führen sieben Jahre zurück, zu ihrer ersten gemeinsam verbrachten Nacht. Didier hat Elise zu sich nach Hause mitgenommen, ein Wohnwagen auf einem verwilderten Grundstück irgendwo außerhalb. Alles zwischen ihnen verheißt Lebenslust und Ausgelassenheit. Beide spüren, dass dies der Beginn von etwas Ernstem ist. Als Elise im Morgengrauen grußlos davonfährt, versucht Didier ihr nachzulaufen und merkt dann, wie nackt und bloß er in der Landschaft steht – schutzlos der Liebe ausgeliefert, aber glücklich wie nie.

Das ist das Erzählprinzip von „The Broken Circle“: Der Film springt hin und her in der Chronologie der Ereignisse, zeigt eine lose Assoziationsfolge zwischen der Zeit vor der Krankheit der Tochter und der danach. Früh sieht man das Ende des Films, merkt es aber erst, als zahlreiche Zwischenpunkte gefüllt sind. Das erscheint verwirrend und ist es doch nie.

Den großen emotionalen Bogen, der die zeitversetzten Teile der Filmhandlung zusammenhält, stiftet die Musik, die von Didier so geliebte und mit seiner Band praktizierte Country-Musik. Die Musik mit ihren Songs, ihren eingängigen, unter die Haut gehenden Melodien und wehmütigen Texten ist immer da. Die Musik führt durch den Film hindurch. Sie setzt den Kontrapunkt zum wirklichen Leben, das so grausam ist.

Die Musik sagt mehr als Worte sagen können. Sie gibt der Liebe Ausdruck, die bleibt, auch dann noch, wenn der Glaube verblasst und die Hoffnung schwindet. Die Musik nimmt aber auch den Zuschauer an die Hand. Am Anfang und am Ende des Films singt die Bluegrass-Band den wehmütigen Country-Song, der recht eigentlich ein Beerdigungslied ist: “Will the circle be unbroken, By and by, Lord, by and by, There's a better home a-waiting, In the sky, Lord, in the sky.”

Dieses Lied singt auch Didier, der jeden Jenseitsglauben leugnet und Gott verflucht, voll Inbrunst mit. Sein Gefühl sagt auch ihm, dass daran nichts falsch ist. Obwohl sein Verstand widerspricht, gibt er der todkranken Maybell Recht, als diese wissen will, ob das tote Vögelchen, das sie in ihren Händen hält, bald ein leuchtender Stern am Himmel sein wird.

Die Musik schafft die emotionale Verbindung zwischen Didier und Elise. Diese emotionale Verbindung hält auch dann noch, als der Gottesglaube zerbricht und die esoterischen Wiedergeburtsvorstellungen die ganze Hoffnungslosigkeit nur noch steigern. Die Musik, so möchte ich fast sagen, ist in diesem Film die Sprache der Religion des Gefühls, eines unaussprechlichen Glaubens an das Leben. Doch der Religion des Gefühls tritt die Theologie mit ihrer kritischen Reflexion entgegen.

Sobald die Musik verstummt und Didier zusammen mit Elise ein letztes Mal das Lied voll Wehmut singen: „If I needed you“, bricht Didier in einen heiligen Gotteszorn aus, einem modernen Hiob gleich. Er bringt den Glauben an Gott nicht zusammen mit dem Unglück das ihn und Elise getroffen hat. Gegen den alles bestimmen Schöpfer-Gott revoltiert er, aber mehr noch gegen den bornierten, die eigene Tatkraft und den menschlichen Erfindungsreichtum ausbremsenden Glauben an diesen Gott.

Es ist dies ein tief religiöser und ebenso theologisch diskutierender Film. Er zeigt direkt auf die Unterscheidung von Theologie und Religion. Die Religion des Gefühls, die ihren Ausdruck in der Musik und der Sprache der Poesie, einer ästhetischen Erfahrung somit, findet, hält Didier und Elise auch noch in der Katastrophe, die über ihr gemeinsames Leben hereinbricht, zusammen. Sie spricht das trotzige Dennoch, das im Schwinden des Lebenssinns am Leben erhält.

Didier ist der Theologe, ein kritischer Theologe. Er misstraut dem religiösen Glauben, sobald dieser nicht mehr dem religiösen Selbstgefühl Ausdruck gibt. Er revoltiert gegen den religiösen Glauben, wenn er nicht die Sprache des Gefühls spricht. Er resigniert angesichts dieses Glaubens, als er merkt, dass er Elise besetzt hält und doch nur ihre Flucht aus der Wirklichkeit, der Wirklichkeit ihrer Liebe ist. Da erst zerbricht die Beziehung zwischen Didier und Elise, als er gegen Gott revoltiert und Elise nicht erkennt, dass er so doch nur ihre Liebe, ihr Aufeinander-Angewiesen-Sein retten will. Statt zu den Trostgründen einer transzendenten göttlichen Wirklichkeit zu flüchten, klammert sich das religiöse Gefühl an die immanenten Geborgenheitsatmosphären der Musik und ihre poetischen Texte. Die Kunst ist die Sprache dieses religiösen Gefühls.

Die Theologie, die Reflexion auf Religion bzw. Kommunikation über Religion, die somit Religionskulturhermeneutik ist, zeigt auf die Religion des Gefühls und versucht ihr Zustandekommen aufzuklären. Es sind ästhetische Erfahrungen, so geht ihr aus diesem Film hervor, in denen sich das religiöse Gefühl Ausdruck verschafft, in denen es sich aber ebenso auch bildet. Diese doppelte Leistung charakterisiert die performative Kraft des religiösen Gefühls, die es in der Verbindung mit seinem kulturellen Selbstausdruck freisetzt.

Dennoch bleibt die Ästhetik des religiösen Gefühlsausdrucksw, die die Musik in diesem Film übernimmt und zur Ausführung bringt, darauf angewiesen, auch als religiöse explizit gedeutet und kommuniziert zu werden. Der Theologie als Religionskulturhermeneutik fällt auch dieses zu, für die Ausdrücklichkeit des Religiösen zu sorgen. Doch nicht, indem sie diese von höherer Warte, im Rekurs auf biblische oder sonstige Offenbarungsansprüche, ihre theologischen Deutungen der Kunst und der ästhetischen Erfahrung dekretiert. Die Theologie stellt weder den religiösen noch den ästhetischen Diskurs still. Sie interveniert nicht mit dem Anspruch auf höhere Wahrheit. Sie bringt sich auf der Basis ihrer fortgesetzten hermeneutischen Arbeit an der Religions- und Kulturgeschichte des Christentums in den religiösen Diskurs auf möglichst zwanglose, Plausibilitäten generierende Weise ein.

In dem Film „The Brocken Circle“ ist die Theologie sogar in der günstigen Situation, dass dieser selbst schon vom religionsästhetischen Gefühlsausdruck in den sofort in strittige Positionen führenden theologischen Religionsdiskurs übergeht. Eine an Hiobs Streit mit Gott geschulte Theologie erkennt viele ihrer Argumente in Didiers Position wieder und kann diese weiterführen, ohne zu einer Lösung finden zu müssen. Eine die esoterischen Vorstellungen von Wiedergeburt und Jenseitsglaube aufnehmende Theologie findet in den religiösen Reflexionen von Elise genügend Material, das sie in Kenntnis überlieferter theologischer Konstrukte von Transzendenz kritisch diskutieren kann. In dem allem wird es ihr jedoch primär darum gehen, zu zeigen, dass den theologischen Diskursen eine in die religiöse Deutung drängende ästhetische Erfahrung vorausliegt. Sie lässt der Film nicht nur seine Protagonisten machen, sondern er bringt sie auch bei denen zur Wirkung, die die Gelegenheit wahrnehmen, ihn zu sehen.

Anmerkungen


[1]    Vgl. Jörg Herrmann, Sinnmaschine Kino. Sinndeutung und Religion im populären Film, Gütersloh 20022; dersb. Medienerfahrung und Religion. Eine empirisch-qualitative Studie zur Medienreligion, Göttingen 2007.

[2]    Ein solches, auf einer offenbarungstheologischen Position aufruhendes Interventions-Konzept von Theologie vertritt Andreas Mertin, der andere Jubilar und Herausgeber dieser verdienstvollen Online-Zeitschrift. So sagte er im Gespräch mit Horst Schwebel, die vorangegangene Ausgabe eröffnend: „Grundsätzlich hat mich an der Theologie immer interessiert, was sie in die Gegenwart hinein an lebendigen, gegenwartsrelevanten Aussagen machen kann, wo sie also geistesgegenwärtig wird.“

[3]    Vgl. Johann Joachim Spalding, Religion eine Angelegenheit des Menschen (11797; 21798; 31799; 41806), hrg. von Tobias Jersak und Georg Friedrich Wagner (Kritische Ausgabe, hrg. Von Albrecht Beutel, Erste Abteilung: Schriften, Bd. 5), Tübingen 2001.

[4]    Vgl. Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? in: Jürgen Habermas/Joseph Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung: Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005, 15-37; dersb., Glauben und Wissen (Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001), Frankfurt am Main 2001, 9-34.

[5]    Eine postsäkulare Gesellschaft ist gerade für Habermas eine solche, „die sich auf das Fortbestehen religiöser Gemeinschaften in einer sich fortwährend säkularisierenden Gesellschaft einstellt“ (Habermas, Glauben und Wissen, a.a.O., 13) .Vor allem angesichts des Erstarkens des Islams auch in Europa sollte ein Nachdenken über die doch begrenzte Reichweite des Säkularen beginnen und zwar zuerst bei denen, die einen säkularen Standpunkt einnehmen, womit Habermas einen religionsdistanzierten meint. Die auf dem säkularen Standpunkt stehen, sollten anerkennen, dass die Religion dem „Interesse“ entgegenkommt, „im eigenen Haus (dem, in dem die Säkularen wohnen, W.G.) der schleichenden Entropie der knappen Ressource Sinn entgegenzuwirken“ (Habermas a.a.O., 29).

[6]    Vgl. Kirchenamt der EKD (Hrg.): Kirche - Horizont und Lebensrahmen. Weltsichten, Kirchenbindungen, Lebensstile. Vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Hannover 2003.

[7]    Diesem die Säkularisierungsthese immer wieder neu bestätigenden Verfahren folgen, mit erstaunlich großer Resonanz in der Praktischen Theologie, insbesondere die kirchensoziologischen Arbeiten von Detlef Pollack. Vgl. zuletzt den von ihm mit hg. Band: Detlef Pollack, Gerhard Wegner, Die soziale Reichweite von Religion und Kirche. Beiträge zu einer Debatte in Theologie und Soziologie (Religion in der Gesellschaft, Bd. 40), Würzburg 2017, darin: Detlef Pollack, Der religiös-kirchliche Traditionsabbruch seit den 1960er Jahren in Westdeutschland. Religionssoziologische Analysen und Vorschläge für das kirchliche Handeln, a.a.O. 183-216.

[8]    Vgl. Joachim Matthes, Joachim , Auf der Suche nach dem Religiösen. Reflexionen zu Theorie und Empirie religionssoziologischer Forschung, in: Sociologica Internationalis, 30, 1992, 129-142. 129. Der Soziologe Joachim Matthes hat im Zusammenhang der Auswertung der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen der EKD als erster energisch darauf hingewiesen, dass die Präsenz der christlichen Religion im Leben der Menschen nicht daran festzumachen ist, ob und wie Kirchenmitgliedschaft praktiziert wird oder theologisch bzw. kirchlich-traditionell vorgegebene Lehr- und Glaubensaussagen gekannt werden und zustimmungsfähig erscheinen. Religion wird forschungskonzeptionell vielmehr von Joachim Matthes (1992) als ein „diskursiver Tatbestand“ (ebd. 129) aufgefasst, in dem immer eine bestimmte „kulturelle Programmatik“ (ebd. 132) zum Ausdruck kommt. D. h., was lebenspraktisch als Religion erscheint und als solche soziologisch wahrgenommen wird, hängt vom Diskurs über sie ab, aus dem sie gleichwohl nicht entsteht. Sie bildet sich in der Unmittelbarkeit der Lebensvollzüge, in den Transzendenzerfahrungen, in denen immer auch die Fragen, die auf den Sinn des Ganzen gehen, aufbrechen können. Das ist zumeist allerdings nicht auf explizite Weise der Fall, sondern bleibt weithin in vorsprachlicher Unbestimmtheit.

[9]    Vgl. Armin Nassehi, Religiöse Kommunikation. Religionssoziologische Konsequenzen einer qualitativen Untersuchung, in: Bertelsmann-Stiftung (Hrg.), Woran glaubt die Welt? Analysen und Kommentare zum Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2009, 169-203.

[10]   Wie das geht, habe ich im Detail zur Predigtpraxis ausgeführt, vgl. Wilhelm Gräb, Predigtlehre. Über religiöse Rede, Göttingen 2013.

[11]   Vgl. zu diesem theologischen Verfahren meine Predigtlehre. Über religiöse Rede. Göttingen 2013.

[12]   Vgl. Wilhelm Gräb, Religion in vielen Sinnbildern. Aspekte einer Kulturhermeneutik im Anschluss an Ernst Cassirer, in: Korsch, Dietrich – Rudolph, Enno (Hrsg.), Die Prägnanz der Religion in der Kultur. Ernst Cassirer und die Theologie, Tübingen 2000, 229-248.

[13]   Vgl. Paul Tillich, Die verlorene Dimension. Übersetzung von: The Lost Dimension in Religion. In: Saturday Evening Post (Philadelphia). Jg. 230, H.50. 1958 – Erstmalige deutsche Übersetzung in: Christ und Welt. Jg. 12, Nr.33. 1959; jetzt in: GW V, 43-50.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/114/wg03.htm
© Wilhelm Gräb, 2018