Eingedenken

Konsensverschiebungen in einer globalisierten Welt I

Andreas Mertin

Eingedenken bezeichnet ein geschichtliches Bewusstsein und eine Form des Erinnerns,
in der die Vergangenheit nicht als etwas Abgeschlossenes begriffen und verklärt,
sondern im Gegenteil ihre Gegenwärtigkeit betont wird.


„Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“

Wie kann man Deutschen, wie kann man der Welt begreiflich machen, was in den Konzentrationslagern der Deutschen und ihrer Verbündeten 1939 bis 1945 geschah? Wie kann man eigentlich Unbegreifliches doch irgendwie ins Bewusstsein bringen? Das ist eine Herausforderung, vor der die Welt nach 1945 stand und die bis heute fortdauert.[1] Denn das Bewusstsein weigert sich als Realität anzuerkennen, was doch nationalsozialistischer Alltag war.[2] Das Gehirn sagt einem: das kann einfach nicht wahr sein, kein Mensch kann anderen Menschen so etwas antun. Und man beginnt – nicht nur als Täter, sondern auch als Beobachter – Abwehrmechanismen zu entwickeln. Darauf basiert die fortdauernde Möglichkeit der Revisionisten, Auschwitz zu bestreiten oder den Nationalsozialismus zum Vogelschiss der Geschichte[3] zu erklären. Nicht weil sie es nicht verstehen, sondern weil sie es nicht verstehen wollen und deshalb bestreiten, dass es überhaupt etwas mit unserer Identität zu tun hat.[4]

Im Zuge der sich weiter entwickelnden Geschichte Deutschlands möchten einige aus ideologischen Gründen und andere aus oberflächlichen Motiven heraus, die Erinnerung an das Geschehene verdrängen. Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung, schrieb Theodor W. Adorno einmal.[5] Einige Impulse der Erinnerungsarbeit sollen im Gegenzug im Folgenden noch einmal direkt benannt werden.


„Nacht und Nebel“ (1955)

Einer der frühen Versuche, jenseits der unmittelbaren Konfrontation mit den unfassbar schrecklichen Bildern der Konzentrationslager aufklärerisch zu arbeiten, ist der 1955 entstandene französische Dokumentarfilm „Nacht und Nebel“.[6] Für die deutsche Fassung wurden die Texte von Paul Celan geschrieben. Bis heute halte ich diesen Film für einen der eindringlichsten Versuche mit dem Thema der Vernichtungslager aufklärerisch umzugehen. 2015 ist er noch einmal als DVD erschienen, es gibt ihn auch in einer pädagogisch kommentierten Fassung der Durchblick-Filme des Bundesverbandes Jugend und Film.[7]

Zum Inhalt des 31minütigen Films:

„Alain Resnais’ `Nuit et brouillard´ (Nacht und Nebel), entstanden 1955, verknüpft Filmaufnahmen der Alliierten aus den 1945 befreiten Lagern und dokumentarisches Bildmaterial aus den Museen von Majdanek und Auschwitz mit Sequenzen, die den aktuellen Zustand der Vernichtungsstätten zeigen. Den Kommentar schrieb Jean Cayrol, ein Überlebender des Konzentrationslagers Mauthausen. Die Musik komponierte Hanns Eisler. Der Film analysiert das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager aus Sicht der Opfer: die Entstehung der Lager, der Terror der SS und die Überlebensstrategien der Häftlinge, die Befreiung durch die Alliierten und die Folgen für die Nachkriegsgesellschaft.

Formal gliedert sich der Film in sieben Kapitel: Er eröffnet mit einer geradezu beunruhigend sanften Annäherung an die Orte des Geschehens, der Zuschauer / die Zuschauerin wird eingefangen in Landschaftsaufnahmen und Blicken auf zerfallene Gebäude. Nur die Musik von Hans Eisler schiebt eine Ebene der Irritation ein. Drei Minuten dauert dieser „Prolog“ und wird dann abgelöst von der vierminütigen Sequenz, die den Weg ins Lager dokumentiert: „Die Maschine setzt sich in Bewegung“. Es ist vor allem dokumentarisches Material aus der Zeit nach 1933, die verbrecherischen Protagonisten des Systems, die sich entwickelnde Lagerarchitektur. „Ein Konzentrationslager, das wird gebaut wie ein Stadion oder ein großes Hotel, dazu gehören Unternehmer, Kostenanschläge, sicher auch Bestechungsgelder.“ Wenn dann die Zusammengetriebenen auf die Züge verladen werden, schweigt der Kommentator, die Bilder sprechen für sich. Das Kapitel endet mit dem Einzug ins Lager. Der dritte Abschnitt, sieben Minuten lang, widmet sich dem Lagerkosmos. Der Schriftzug „Arbeit macht frei“ erscheint am Tor des Lagers Auschwitz: „Ein erster Blick auf das Lager – ein anderer Planet.“ – „Kein Bild, keine Beschreibung gibt ihnen ihre wahre Dimension wieder“. Und doch: man merkt der Beschreibung des Kommentators an, dass sie von jemandem geschrieben wurde, der selbst im Lager saß. An manchen Stellen im Film fasst man nicht, was da knapp in Worte gefasst wird: „Ein Ein-Tags-Waisenhaus, das ununterbrochen Nachschub erhält.“

Der sechs Minuten dauernde vierte Abschnitt dreht sich um ebenso um den Alltag wie den Terror im Lager, denn beides ist kaum zu unterscheiden. Der Mensch wird zum Material, zu einer Nummer auf unendlichen Listen.  Der fünfte Abschnitt führt uns die Gaskammern vor Augen: „Vernichten gewiss – aber produktiv. Die Produktivität wird den Sachverständigen überlassen. Das Problem des Vernichtens verdient eigenes Nachdenken.“ Die Kamera schwenkt auf die Krematorien und die Kommentatoren-Stimme sagt (geradezu prophetisch 1956): „Ein Krematorium, das nimmt sich gelegentlich ganz nett aus – später, heute lassen Touristen sich davor fotografieren.“ Und: „Nichts unterscheidet eine Gaskammer von einem gewöhnlichen Block.“ Und dann kommen die Bilder, von den Volker Schlöndorff später schreibt: „Die Bilder der Leichenberge hatten die Zuschauer sprach- und fassungslos gemacht, die Bilder der Berge von Brillengestellen dagegen berührten sie.“ Es ist der Blick in die „Vorratskammern, die Speicher der ‚Kriegsführenden‘“. Die Kamera fährt in nervenaufreibender Länge ein einzelnes Bild aus Auschwitz ab und die Stimme des Kommentators hält fest: „All das ist Frauenhaar“. Dann wieder langes Schweigen und dann sagt die Stimme: „15 Pfennig das Kilo – man macht Stoff daraus.“  Der sechste Abschnitt dokumentiert die Befreiung der Lager und die Reaktionen der der Menschen: „Ich bin nicht schuld – sagt der Kapo; Ich bin nicht schuld – sagt der Offizier; Ich bin nicht schuld – …; Wer also ist schuld?“ Der siebte und letzte Abschnitt zeigt, „wie wir vorbeisehen und nicht hören, dass der Schrei nicht verstummt“. Er beschreibt noch einmal die Landschaft der neun Millionen Toten: „Wer von uns wacht hier und warnt uns, wenn die neuen Henker kommen?“ 

Volker Schlöndorff schrieb einmal über Nacht und Nebel:

„Sie filmten das Gras, das nun zwischen den Gleisen wuchs, den verrosteten Stacheldraht der Elektrozäune, die Risse in den Betonmauern der Gaskammern und vor allem die zu regelrechten Bergen aufgehäuften Schuhe und Brillen der Ermordeten – darunter auch die Berge der Haare, die man ihnen abgeschnitten hatte, um Filzdecken daraus zu fertigen. Diese Bilder machten möglich, was keiner Einbildungskraft vorher gelungen war: sich den Tod von Millionen Menschen vorzustellen. Die Bilder der Leichenberge hatten die Zuschauer sprach- und fassungslos gemacht, die Bilder der Berge von Brillengestellen dagegen berührten sie.“

Inzwischen ist auch das fraglich geworden.

Die Frage, wie man der Opfer der Verbrechen der Nationalsozialisten in einer künftigen bundesrepublikanischen Gesellschaft gedenken könnte, war mit dem Film „Nacht und Nebel“ natürlich nicht beantwortet. Es war zunächst nur ein Aufschrei, ein Dokumentationsfilm für die Welt, noch kein Mahnmal. Die bundesrepublikanische Gesellschaft hat davor und danach verschiedene Phasen der Erinnerungsarbeit erlebt. Das „Tagebuch der Anne Frank“[8], das erstmalig 1950 auf Deutsch erschien, war so ein Meilenstein, die Auschwitzprozesse nach 1963 ein anderer. Aber es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis sich die Bundesrepublik zu einem symbolischen Erinnerungsmahnmal entschied.


Das Holocaust-Mahnmal im Zentrum Berlins (2005)

Erst 60 Jahre nach dem Ende des „Tausendjährigen Reiches“ wurde in Berlin, unmittelbar in der Nähe des Brandenburger Tors ein Denkmal für die ermordeten Juden Europas errichtet. Bereits 1988 hatte die Journalistin Lea Rosh nach einem Besuch in Yad Vashem angeregt, ein derartiges Denkmal in Berlin zu errichten. Die erste Ausschreibung 1994/95 scheiterte, weil Helmut Kohl den favorisierten Entwurf von Jackob-Marcks ablehnte. 1997 kam es zu einer Neuausschreibung, bei der u.a. folgendes festgehalten wurde:

„Das Denkmal kann und soll nicht die Aufgabe einer Gedenkstätte wahrnehmen, sondern soll die vorhandenen Gedenkstätten an historischen Orten der NS-Verbrechen ergänzen und ihnen zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen. Gegenüber der Informations- und Dokumentationsaufgabe einer Gedenkstätte richten sich das Denkmal und der Ort der Erinnerung an die kontemplative und emotionale Empfänglichkeit des Besuchers“.

Schon damals gab es scharfe Kontroversen, nicht nur mit Revisionisten, sondern auch mit jüdischen Kritikern des Vorhabens. Vom seinerzeitigen Tonfall gibt ein Zitat von Lea Rosh Zeugnis:

„Natürlich ist es wichtig, daß die Juden zustimmen können, aber die Auslober sind der Bund, das Land und wir. Ich habe dem damaligen Vorsitzenden des Zentralrats, Heinz Galinski, gesagt: 'Halten Sie sich da raus, die Nachkommen der Täter bauen das Mahnmal, nicht die Juden. Aber es wäre schön, wenn Sie nicken könnten.' Galinski sagte, er werde nicken.“

1999 debattierte der Bundestag intensiv über das Vorhaben. Beschlossen wurde der Bau des Denkmals, ergänzt durch einen unterirdischen Ort der Information nach dem modifizierten Eisenman-Entwurf, mit einer Mehrheit von 312 gegen 207 ablehnende Stimmen. Im Mai 2005 konnte das Denkmal für die ermordeten Juden Europas der Öffentlichkeit vorgestellt und freigegeben werden. Im Entwurf wird die Intention so beschrieben:

„Das Ausmaß und der Maßstab des Holocaust machen jeden Versuch, ihn mit traditionellen Mitteln zu repräsentieren, unweigerlich zu einem aussichtslosen Unterfangen. […] Unser Denkmal versucht, eine neue Idee der Erinnerung zu entwickeln“.


Foto: Quid pro quo - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, Wikimedia Commons

Mit der Geschichte des Denkmahls beginnt aber fast zeitgleich die Geschichte seiner Schändungen durch Vandalismus und Missbrauch. So wurden 2008 mehrere Säulen mit Hakenkreuzen beschmiert.


Dee Ex (2013)

Es war klar, dass das Mahnmal als solches eine willkommene Provokation für Revisionisten und Faschisten in Europa war, um sich dort mit ihren kruden Ideologien und Auftritten zu inszenieren. Das Mahnmal „erleichtert“ das insofern, als es anders als konkrete Orte des Verbrechens eine Form der Abstraktheit wahrt, die es ermöglicht, einerseits seiner Klientel symbolisch deutlich zu machen, dass man die Opfer verhöhnt und mit Füßen tritt, andererseits aber für naive Betrachter den Eindruck des Harmlosen zu erzeugen. Man tanzt ja „nur“ auf ein paar Steinblöcken und braucht nicht den Opfern des Faschismus selbst gegenüberzutreten. Man betreibt Symbolismus gegen Symbolismus. Die symbolische Grenzüberschreitung ist insofern feige, weil sie nur spielt, statt in die Auseinandersetzung und Aufarbeitung einzutreten. Aber sie ist nicht so harmlos, wie sie sich gibt. Sie funktioniert ja nur dann und genau deshalb, wenn und weil das Publikum weiß, dass hier Ungeheuerliches geschieht. Dass also die Verbrechen der Nationalsozialisten zum „Vogelschiss der Geschichte“ erklärt werden sollen, dass das „Denkmal der Schande“ in einer Zeichenhandlung herabgewürdigt werden soll.

Man geht ja nicht durch Berlin, sieht ein paar Stelen und denkt, ach, hier mache ich mal ein Foto oder ein Musik-Video. Sondern man weiß, wenige Schritte neben dem Brandenburger Tor gibt es eine Platz, der den sechs Millionen jüdischen Opfern des nationalsozialistischen Terrors gewidmet ist. Und gebaut wurde er von den „Nachfahren der Täter“, damit sich Derartiges nicht wiederholt. Wem das aber ein Dorn im Auge ist, weil er konstitutiv antisemitisch denkt, weil er trotz Auschwitz gerne ein stolzer Deutscher, eine stolze Deutsche sein will, der bekämpft dieses Denkmal, indem er es verbal herabsetzt oder ganz konkret mit Füssen tritt. 

Und so sieht man die antisemitische Faschistin Dee Ex auf den Stelen des Mahnmals in Berlin tanzen, während sie ihre Faust für den Kampf gegen die „EU-Zionisten“ reckt. Das ist der wahre Vogelschiss deutscher Geschichte, das sind die treuen Erben der Verbrecher, die ihren nationalsozialistischen Alten geschworen haben, eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ anzustreben: „Ich möchte 150 Jahre alt werden und sehen, ob nicht einmal auch mal eine Generation kommt, die Widerruf macht“ (einer der Täter von Auschwitz in einer späteren Befragung). Man will den „Mythos des bösen Deutschen zerstören“. Man mag das für lachhaft halten, aber es ist ein Teil deutscher Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts und wird zunehmend durch Vertreter einer Partei kommuniziert, die ein Sechstel der Deutschen in den Bundestag gewählt haben.


Björn Höcke und das „Denkmal der Schande“ (2017)

2017 fokussieren sich angesichts diverser sprachlicher „Fehlleistungen“ von AfD-Vertretern noch einmal die bundesrepublikanischen Diskussionen auf das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, das damit zu einem Katalysator der mit der AfD aufkommenden Konsensverschiebungen in der deutschen Republik wird. Was bis dahin nur in Stammtisch- und Bierzeltreden von NPD-Funktionären thematisch wurde, wird nun von Politikern einer im Bundestag vertretenen Partei laut herausgebrüllt: Man wolle eine Wende um 180°, sozusagen heim ins Deutsche Reich. Wenn nicht das Dritte, dann doch das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Man habe ein Recht auf das Vergessen der schrecklichen deutschen Geschichte und das Hinwenden auf die großen Errungenschaften der Deutschen Nation. All das bündelt sich in einer Rede, die Björn Höcke Anfang 2017 in Dresden vor Jugendvertretern seiner Partei hält. Sie ist in ihrer Sprachwahl kalkuliert bis in den letzten Buchstaben und überschreitet alles, was bis dahin ein Grundkonsens der Republik war. Und das ist dem Redner auch bewusst. In Aufnahme von Argumentationsmustern von David Irving, der 1990 in Dresden die Angriffe auf die Stadt als Kriegsverbrechen bezeichnet und zugleich den Holocaust relativiert hatte, sagt Höcke unter dem zustimmenden Gejohle der Parteijugend: Die Gesellschaft sei durch den „Import fremder Völkerschaften und die zwangsläufigen Konflikte“ existentiell gefährdet. Das Volk sei durch Geburtenrückgang und Einwanderung bedroht. „Das ist die furchtbare Lage dieses Volkes im Jahr 2017.“ Altparteien, Gewerkschaften, Amtskirchen und die Sozialindustrie seien schuld an dieser Situation und lösten „unser liebes deutsches Vaterland“ auf. „Wir werden uns unser Deutschland Stück für Stück zurückholen“. Das Land brauche einen „vollständigen Sieg“ der AfD.[9] Dann bezeichnet er die Angriffe auf Dresden als Kriegsverbrechen, die den Angriffen von Hiroshima und Nagasaki vergleichbar seien. Und dann folgt dieser schreckliche Satz:

„Wir Deutschen – und ich rede jetzt nicht von euch Patrioten, die sich hier heute versammelt haben – wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ … „Anstatt die nachwachsende Generation mit den großen Wohltätern, den bekannten, weltbewegenden Philosophen, den Musikern, den genialen Entdeckern und Erfindern in Berührung zu bringen, von denen wir ja so viele haben,...vielleicht mehr als jedes andere Volk auf dieser Welt..., und anstatt unsere Schüler in den Schulen mit dieser Geschichte in Berührung zu bringen, wird die Geschichte, die deutsche Geschichte, mies und lächerlich gemacht“ … „Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstauflösung“

Nun sicher ist die Parteijugend nicht für das Holocaust-Mahnmal verantwortlich, weil es die Partei noch gar nicht gab. In der Zeit gingen sie noch bei Lehrern wie Höcke in die Schule. Im Gegenzug zur Abwertung des Mahnmals fordert er eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad. Letztlich artikuliert Höcke nur, was die Neonazis, die Revisionisten und Ewiggestrigen die ganzen Jahre zuvor auch gefordert hatten. Nur dass das nicht von einer parlamentarischen Gruppe geschah, außerhalb des demokratischen Konsenses. Das ist nun anders geworden.

Intermezzo

Heute, am 26. September 2018, publiziert die Redaktion der jungen Zeitschrift „Jalta“ aus aktuellem Anlass einen Text zur AfD, der exakt den gerade beleuchteten Prozess der versuchten Konsensverschiebung durch die AfD aufnimmt. Die Autoren (Micha Brumlik, Marina Chernivsky, Max Czollek, Hannah Peaceman, Anna Schapiro und Lea Wohl von Haselberg) schreiben:

… „die AfD ist eine Partei mit faschistischen Tendenzen, deren personelle und ideologische Nähe zu neonazistischen Organisationen seit langem bekannt ist und mit dem sogenannten ‚Trauermarsch‘ von Chemnitz eine neue Qualität erreicht hat.

Es ist kein Geheimnis, dass die AfD offen menschenfeindliche, rassistische und antisemitische Positionen vertritt. Das wurde wiederholt klar von verschiedenen Funktionär*innen der Partei artikuliert. Wichtige Parteifunktionär*innen wie Björn Höcke, Alexander Gauland und Alice Weidel treten darüber hinaus für eine "Kehrtwende in der Erinnerungskultur" ein. Höckes ‚Dresdener Rede‘ vom 17. Januar 2017 und Gaulands ‚Vogelschiss‘-Provokation im Juni 2018 sind dabei nur Höhepunkte einer Politik, die die Grenzen des Sagbaren Stück für Stück ausweitet, den Diskurs über den Nationalsozialismus nach rechts verschiebt und einen erinnerungskulturellen Konsens angreift. Sie betreiben Geschichtsklitterung und relativieren die Shoah.

Um es ganz klar zu sagen: In einer Gesellschaft, wie sie der AfD vorschwebt, sind alle Minderheiten und alle Demokrat*innen in Gefahr.“[10]

Der Text ist zwar zunächst als Appell an die jüdische Gemeinschaft entstanden, die Grenze gegenüber den Positionen der AfD noch deutlicher zu ziehen. Angesichts einer angekündigten Gruppierung „Juden in der AfD“ erscheint das notwendig. Das gleiche gilt ja für die analoge Gruppierung „Christen in der AfD“ und die christlichen Kirchen. Dementsprechend hat der Evangelische Kirchentag – vertreten durch seinen Präsidenten Hans Leyendecker – angekündigt, keinen Parteivertreter der AfD einzuladen. "Dass die AfD im Parlament sitzt, ändert doch nichts daran, dass sie auf dem Weg zu einem Frontalangriff auf die liberale Demokratie ist", argumentiert Leyendecker. Es geht darüber hinaus nicht nur um notwendige und nach und nach ja auch erfolgende klare Grenzziehungen der Religionen gegenüber der AfD,[11] sondern auch und vor allem um die zivilreligiöse Frage, was noch als „erinnerungskultureller Konsens“ dieser Gesellschaft angesehen werden kann. Diese Frage muss von allen beantwortet werden.


Den ersten Teil dieser Überlegungen abschließend sollen zwei kulturelle Initiativen vorgestellt werden: die eine stellte eine direkte künstlerische Reaktion auf Björn Höckes Rede dar, die andere setzt sich mit dem Verhalten der Menschen im Berliner Stelenfeld auseinander.

Das Zentrum für politische Schönheit (2017)

Das Zentrum für politische Schönheit ist eine Künstlergruppe, die seit 2009 mit zahlreichen politischen, künstlerisch durchformten Aktionen an die Öffentlichkeit getreten ist.[12] Diese waren immer Grenzüberschreitungen und knüpfen damit an alte Formen von Kunst als Erkundung gesellschaftlicher Grenzen an. Im Herbst 2017 errichteten sie 24 Betonstelen auf dem Nachbargrundstück des Hauses von Björn Höcke in Bornhagen. Zur Installation gehörte auch die Etablierung eines politischen Mythos, dass vom Nachbargrundstück aus, das Haus von Höcke überwacht werde. Das war aber nur ein künstlerisches Narrativ. In der Folge gab es zahlreiche Anzeigen, Aktionen und Gewalttaten gegen die Gruppe. Die Prozesse gewann sie allerdings ausnahmslos. In der Folge entspann sich eine Diskussion, ob zum einen die Kunstaktion als solche zu rechtfertigen wäre und zum anderen der Gebrauch des Mahnmals zu politischen Zwecken sinnvoll sei. Unter Abwägung verschiedener Gesichtspunkt kann beides bejaht werden. Tatsächlich handelt es sich um Kunst im Sinne eines fiktionalisierten politischen Narrativs. Problematisch könnte es sein, dass dieses Werk zunächst bloß auf einen Rezipienten zielt, in der Rezeptionsgeschichte vor Ort erweist es sich aber als paradigmatisch für eine größere Gruppe bzw. für einen Teil der Gesellschaft. Die scheinbare Instrumentalisierung des Denkmals für die ermordeten Juden in Europa ist deshalb begründet, weil Höcke selbst diese Instrumentalisierung vorgenommen hatte und das Zentrum für politische Schönheit diese Instrumentalisierung nun zum Thema ihrer künstlerischen Arbeit macht. Auch die Initiatorin des Berliner Denkmals, Lea Rosh, hat in diesem Sinne argumentiert. Grenzwertig ist die Aktion lediglich darin, dass sie den Fokus von der Erinnerung an die Schoah auf das populistische rechtsextreme Handeln von „Bernd“ Höcke verschiebt.


Das Projekt Yolocaust (2017)

Ebenfalls im Jahr 2017 startet der Künstler Shahak Shapira das international vielbeachtete Projekt Yolocaust, bei dem er Selfies, die Besucher des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas auf und zwischen den Stelen des Mahnmals gemacht haben, mit Fotos aus dem Konzentrationslager collagiert. Gleichzeit dokumentiert er aber auch die Ursprungskommentare auf Facebook bzw. Instagram. Wenn also jemand schreibt „Jumping on dead Jews @ Holocaust Memoria“ der „Yoga is connection with everything around us“, dann wird das mit dokumentiert und einer größeren Öffentlichkeit mitgeteilt – einschließlich der 87 oder 72 Likes, die das jeweilige Bild bekommt. Der Kontrast ist extrem, weil die wenigsten Menschen ein Denkmal zum Nach-Denken nutzen.

Innerhalb kürzester Zeit meldeten sich alle zwölf Dargestellten, baten um Entschuldigung für das, was sie da gemacht hatten, und hofften auf Rücknahme der Fotos aus dem Projekt. Dem hat der Künstler entsprochen und Ende Januar 2017 das Projekt beendet. Heute findet sich unter der Adresse www.yolocaust.de nur noch eine knappe zweisprachige Erklärung des Projekts und eine ausschnittsweise Dokumentation der Reaktionen darauf. Es ging dem Künstler um Nachdenklichkeit und nicht um Verurteilung. Natürlich – auch das gehört zur Logik des World Wide Web – werden die Bilder der Betroffenen dauerhaft im Netz greifbar und mit ihnen identifizierbar bleiben.

Dass das Projekt gelungen ist, kann man nur schreiben, wenn es etwas bewirkt hätte. Das aber ist erkennbar nicht der Fall. Das Projekt hat auf etwas aufmerksam gemacht, aber – außer bei den Abgebildeten – kaum Verhaltensänderungen bewirkt. Und Instagram spielt dieses Spiel auf verabscheuenswürdige Weise mit. Es wäre ein Leichtes für den Betreiber, die entwürdigenden Hashtag / Bildkombinationen zu unterbinden und die Nutzer auf ihr abscheuliches Vorgehen hinzuweisen. Aber Instagram macht das nicht. Und da sind sie dann: all die coolen, wohlgestylten jungen Menschen dieser Erde, die ihre Spielchen mit dem Denkmal für die ermordeten Juden in Europa spielen. Wenn Sie bei Instagram sind, fragen Sie doch mal die Poster, was sie sich dabei gedacht haben:

https://www.instagram.com/explore/locations/240190593/holocaust-mahnmal/?hl=de

Anmerkungen

[1]    Mitscherlich, Alexander; Mitscherlich, Margarete (2012): Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens. 23. Aufl. München: Piper (Piper, 168).

[2]    Vgl. Longerich, Peter (2007): "Davon haben wir nichts gewusst!". Die Deutschen und die Judenverfolgung 1933 - 1945. 2. Aufl. München: Pantheon. Dörner, Bernward (2007): Die Deutschen und der Holocaust. Was niemand wissen wollte, aber jeder wissen konnte. Berlin: Propyläen-Verl.

[3]    „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“, sagte der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland am 02.06.2018 beim Bundeskongress der AfD-Nachwuchsorganisation Junge Alternative (JA) im thüringischen Seebach.

[4]    Im September 2017 hatte Alexander Gauland bei einem „Kyffhäuser-Treffen“ der AfD in Thüringen gesagt: „Man muss uns diese zwölf Jahre nicht mehr vorhalten. Sie betreffen unsere Identität heute nicht mehr. Und das sprechen wir auch aus. Deshalb haben wir auch das Recht, uns nicht nur unser Land, sondern auch unsere Vergangenheit zurückzuholen.“

[5]    Kulturkritik und Gesellschaft I/II: Erziehung nach Auschwitz. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, GS 10.2, S. 674.

[8]    Frank, Anne; Pressler, Mirjam; Frank, Otto H. (2013): Anne-Frank-Tagebuch. 19. Aufl. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verl. (Fischer, 15277).

[11]   Die zudem in ihrer Religionskritik auch kaum zivilisiert werden kann: Steffen Reinicke aus dem Rostocker Kreisvorstand der AfD kritisierte die Kirchen wegen ihres Engagements für Flüchtlinge: „Es ist nicht das Blut von Jesus, sondern das Blut der Messeropfer, das ihr täglich sauft.“

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/115/am640a.htm
© Andreas Mertin, 2018