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Passionsgeschichten zwischen Allegorie und MusicalBemerkungen zu einem Lesebuch über die filmischen Darstellungen des Leidenswegs ChristiHans J. Wulff Leid-Bilder. Die Passionsgeschichte in der Kultur. Hrsg. v. Natalie Fritz, Marie-Therese Mäder, Daria Pezzoli-Olgiati u. Baldassare Scolari. Marburg: Schüren 2018, 597 S. (Religion, Film und Medien. 1.). ISBN 978-3-89472-715-4, EUR 44,--. [PDF-Inhaltsverzeichnis] 1. Kulturelles GedächtnisDas kulturelle Gedächtnis ist (auch) eine narrative Tatsache. Ihm gehören Geschichten an, die über Generationen weitergegeben werden und die als Gründungsmythen von Gemeinschaften und Staaten und manchmal übernationalen Kollektiven fungieren, die Allegorien der verbindenden Werte von Gemeinschaften sind, die kollektive Idealfiguren verherrlichen und ähnliches mehr. Die Bibel ist für die christliche (oder: die westliche) Welt ein solcher Text gewesen, die Präsenz ihrer Geschichten ist bis heute ungebrochen. Sicherlich, ein krauses Buch mit Hunderten von Anekdoten, beispielhaften Szenen, Wunderbeschreibungen und lehrhaften Parabeln. Und ein unschätzbarer Quell von Bildern, Metaphern, Exempla und stories, die zum kulturellen Gedächtnis gehören, die ins Denken und Interpretieren eingegangen sind, die abgerufen werden können unabhängig davon, in welcher Beziehung man zu den Institutionen steht, die das Recht und die Macht beanspruchen, jenes „unordentliche Buch mit 50.000 Textvarianten“[1] auslegen zu können und es zugleich als Gründungstext jener Position reklamieren. Die Geschichten des zweiten Teils, des „Neuen Testaments“, bilden einen eigenen Kreis von Geschichten, die sich um die Figur des Jesus von Nazareth gruppieren. Das Geschehen ist gleich mehrfach kolportiert, geht zudem auf historische Verhältnisse und Ereignisse zurück. Stücke aus diesen Texten sind Allgemeingut geworden von der Speisung der Fünftausend über die Vertreibung der Händler aus dem Tempel bis zur Hinrichtung des Helden und seiner Geistwiederkehr am Ende.[2] Immer war die Bibel auch der Quell künstlerischer Aneignung in der Bildenden Kunst, in der Musik, in der Literatur wie im Theater. Aus den Traditionen der Passionsspiele[3] heraus nahm sich auch der Film dieser stofflichen Vorgaben an, von den Anfängen bis heute; die ersten Jesus-Filme stammen aus dem Jahr 1897. Es nimmt nicht wunder, dass das Ende seiner Biographie den Kernstoff der Jesus-Filme bildet[4]: die Phase des Leidensweges bzw. die Passionsgeschichte. Alle diese Adaptionen des Stoffes rechnen zu seinen Tradierungen, reaktivieren Wissen, setzen sich mit der Vorlage auseinander, reflektieren die Motivationen der Akteure, schaffen neue gedächtnis-aktive Bilder und Auslegungen, setzen das kulturelle Gedächtnis selbst wieder in Bewegung. Kulturelles Gedächtnis kann man nur als aktiven Prozess begreifen, als Folge von Visualisierungen, Theatralisierungen, Vertonungen und Narrativierungen des Stoffes, also als Gegenstand in permanenter Veränderung und Anpassung an die Erfahrungswelten der Nachkommenden. Es verwundert nicht, dass bereits eine ganze Reihe von Katalogen zur Filmgeschichte der Passionsdarstellung entstanden sind[5] und dass die vor allem von Theologen und Religionswissenschaftlern geführte Debatte um die Texttreue der Adaptionen, die Mittel der Darstellung, die Kontexte, in die die Jesusfigur und die Passion eingebettet erscheint, seit vielen Jahrzehnten geführt wird. Oft als Kritik formuliert (Unangemessenheit, Verfälschung, Verkitschung sind ästhetische und theologische Urteile, die immer wieder ausgesprochen wurden), zielt sie meist auf die Frage, welche Rolle die filmische Repräsentation der Passionsgeschichte in der Vermittlung der Heilsbotschaft spielen kann. Die Passionsfilme in toto gehören zur Popularisierung der biblischen Geschichte, sie sind Repräsentationen der für die christliche Lehre so wichtigen Implikationen, die aus Kreuzigung und Auferstehung gezogen worden sind. Popularisierung und Trivialisierung, massenmediale Aufbereitung und Zugänglichkeit, zugleich aber Abkehrungen von der Zentralität der biblischen Ursprungstexte. Leid-Bilder der Band dokumentiert die Beiträge zu einer Ringvorlesung, die im Herbstsemester 2015 an der Universität Zürich stattfand ist eine Durchmusterung der Filmgeschichte in fünfzehn Kapiteln an sechzehn Filmen entlang, von den Anfängen (1902) bis in die Gegenwart (2014). Jedem Film sind zwei Artikel zugeeignet, einer aus theologischer, der andere aus nachbarwissenschaftlicher (natur- und literaturwissenschaftlicher, kunsthistorischer, juristischer oder psychoanalytischer) Sicht. Es ist das Nebeneinander unterschiedlicher Bezugssysteme, das einen eigenen Reiz bei der Lektüre ausmacht und die Interpretationsvielfalt wie -bedürftigkeit der Filme immer neu behauptet und einfordert, zumal einige der Filme gar nicht die Passion unmittelbar inszenieren, sondern nur allegorisch auf diese Bezug nehmen (darunter Robert Bressons Au hazard Balthasar / Zum Beispiel Balthasar, 1966, Ingmar Bergmans Viskningar och rop / Schreie und Flüstern, 1972, oder Lars von Triers Breaking the Waves, 1996).[6] Die Filme des Band-Korpus sind ausnahmslos Spielfilme, dominant amerikanischer und europäischer Herkunft (mit Ausnahme des indischen Films Santi Sandesham / Friedensbotschaft, 2004, und der koreanischen Produktion Pietà, 2012). Es sind ausnahmslos Langfilme des westlichen Kunst- und des anspruchsvollen Unterhaltungskinos; die diversen mexikanischen Passionsfilme werden nicht einmal erwähnt. Auch B-Filme und Filme des exploitativen Kinos fehlen in Gänze (und werden nicht genannt) ebenso wie oft aufwendig produzierte TV-Produktionen (wie Roger Youngs Jesus / Die Bibel 1999, oder Franco Zeffirellis Gesù di Nazareth / Jesus von Nazareth, 1977). Die Beiträge des Bandes zeigen manchmal deutlich, welchen Fragen die langjährige Diskussion der Jesus- resp. Passionsdarstellungen verpflichtet war. Deutlich wird manchmal die scharfe Differenz der verschiedenen Interpretationsperspektiven der beteiligten Wissenschaftler (was man wiederum als eine Qualität des Bandes ansehen kann, öffnet er doch auch den Blick auf eine Konkurrenz von Haltungen dem Gegenstand gegenüber ebenso wie seiner massenmedialen Verbreitungen). Leider fehlt dem Band ein Index, der ein Nachschlagen nicht nur von nicht eigens thematisierten Filmen, sondern auch von inhaltlichen Akzenten ermöglicht hätte. Nur der kluge Einleitungsartikel öffnet den Blick auf das viel weitere Feld der kulturellen Präsenz der so bedeutungsschweren Bilder und Szenen, die auf die Passionsgeschichte zurückweisen und manchmal Tiefenbedeutungen präsent machen, die die Texte in einen viel weiteren ethischen und manchmal gar politischen Horizont ausgreifen lassen. Ein Beispiel ist die im Eingangstext erwähnte Schlussszene aus Gran Torino (2008, Clint Eastwood, Leid-Bilder, S. 34): erst das Bild des wie gekreuzigt daliegenden Helden bringt die christologischen Dimensionen der in der Jetztzeit spielenden Geschichte auf den ikonographischen Punkt. 2. Das Problem des analytischen ZugangsDie auf Bibel und Passionsgeschichte gründenden Bilder und Symbole sind seit den 1980ern wieder voll entfaltet. Und sie sind in Bewegung, werden manchmal schrill aktualisiert und in zeitgenössische Erzähl- und Unterhaltungsformate des Kinos übersetzt. Der bis heute bekannteste Film dieser Prägung ist Jesus Christ Superstar (1973, Norman Jewison), der auf einem populären Musical von Andrew Lloyd Webber (Musik) und Tim Rice (Texte) aus dem Jahre 1971 basierte. Er hatte die Passionsgeschichte in ein Pop-Szenario verwandelt (adressiert wohl vor allem an die der Hippie-Szene nahestehende „Jesus-People-Bewegung“). Im Zentrum: Jesus; befreundet mit der Prostituierten Maria Magdalena; im Widerstand gegen die römische Besatzung und die jüdische Hohepriesterschaft; Judas, ein desillusionierter Mitläufer der Jesus-Bewegung, Verräter; öffentliche Auspeitschung Jesus; Beweinung des Toten durch Maria Magdalena. Ein Film, der Bewegung in die Schablonen der Passionsgeschichte brachte, deren Stationen bewahrt wurden, die aber in Ausstattung, im Schauspiel und in der Musik die gewohnten Bildwelten der Hollywood-Bibelepen der vergangenen Dekaden völlig neu fasste, der in einer teilmodernisierten Handlungswelt spielte (in der die Römer sogar über Panzer verfügten), die Kleidungskonventionen und Haartrachten der Hippiebewegung übernahm, musikalisch in die Klangwelten der zeitgenössischen Popmusik eingekleidet war, deren Akteure sich gelegentlich zu Massentanzszenen zusammenfanden und die gewohnten, wie gemalt wirkenden Bildkompositionen des Historienfilm konsequent missachteten.[7] Es waren nicht die Stationen der Geschichte, die irritierend und ungewohnt waren, sondern Elemente der Inszenierung. Immer noch eine „Leid-Geschichte“? Der vorliegende Band ist von vornherein auf das „Passionsnarrativ“ konzentriert (S. 14, passim), auf die story des Leidensweges, den Jesus am Ende seiner Geschichte gehen musste. Das ist sicherlich eine Verengung des Blicks auf die Geschichte der Adaptionen, weil die Bestände des Gedächtnisses komplexer sind, sich oft zu visuellen Szenarien oder gar Bildvorstellungen verdichten. Wollte man die Vorgaben der Lektüre ausweiten, müsste sicherlich der Blickpunkt der Ikonographie ergänzt werden (etwa an den stereotyp gewordenen Bildvorstellungen des Abendmahls, der Untersicht auf die drei Kreuze auf dem Berg der Hinrichtung, die Dornenkrone auf dem Haupt, auf die Bilder, die Jesus zeigen, der sein Kreuz zur Hinrichtungsstätte schleppen muss, die Beweinung Christi [Pietà] usw.[8]). Manchmal wird die Geltung der Quellen der Ursprungsgeschichte selbst zum Thema. Die hier angelegte Variabilität der Passionsbeschreibung filmisch zu adaptieren, deutet ihrerseits auf eine tiefere Auseinandersetzung mit den Quellen der Passionsgeschichte hin. Schon Pasolinis Schwarzweißfilm Il vangelo secondo matteo / Das Evangelium nach Matthäus (1964) hatte die Perspektivität der biblischen Erzählungen ernst genommen, sich auf nur einen der Ausgangstexte konzentriert; Jesus (1979, John Krish, Peter Sykes) einer der mit geschätzt mehr als zwei (andere Quellen sprechen sogar von sieben) Milliarden Zuschauern erfolgreichsten Film aller Zeiten erzählte das Leben Jesus von Beginn an (die Passion beendet den Film), gegründet auf das Lukas-Evangelium. Ganz anders verfahren andere Filme. Mel Gibsons The Passion of the Christ (2004) beruft sich selbst darauf, die vier Evangelien als primäre Quellen benutzt zu haben, darüber hinaus die „Hebräische Bibel“ sowie apokryphe Darstellungen der Passion Christi, als solle beteuert werden, dass der Film an der Fülle der Belegtexte besondere Authentizität beanspruchen könnte. Trotz der Einschränkung des Blicks auf das Passionsnarrativ, dem Leid-Bilder untergeordnet ist, erzwingen die Filme ein Ausgreifen auf die Strategien der Darstellung. Manche der verwendeten Szenarien haben lange Traditionen in den verschiedenen Passionsspielen, die nicht nur das Material der frühesten Filme bildeten, sondern sich als Bild- und Bühnenschablonenwissen in das kulturelle Wissen über die Passion eingemeindeten. Passionsspiele sind Theatralisierungen des Passionsgeschehens, die auf die Macht von Bühnentableaus vertrauten, in der Rezeption der Filme idealerweise: Stützpfeiler der Erinnerung und Ausgangspunkt für die gedankliche szenische Ausarbeitung. Manchmal aber eben nicht immer gelingt es, Exegese und Filmanalyse miteinander zu verschmelzen oder sie zumindest einander anzunähern. Leid-Bilder fasziniert auch deshalb, weil in mehreren Artikeln ein eigener theologischer Standpunkt der Annäherung greifbar wird, der die filmische Darstellung rückbindet an den theologischen Diskurs, an die Frage der Schrifttreue der Adaption und ähnliches. Und natürlich sind Filme Teil der Welt der sozialen Sinn- und Symbolwerte, weshalb sie ihrerseits zum Gegenstand von Auseinandersetzung, Kritik oder sogar der Forderung nach Verbot werden können.[9] Schmerzlich bemerkbar macht sich die Zentrierung auf die narrativen und visuellen Elemente der Darstellung. Nahezu unbedacht bleibt in Leid-Bilder die Musik zu den Filmen. Immerhin werden immer wieder Stücke der Kirchenmusik verwendet oder Motive der religiös motivierten Musik wie das „Dies Irae“ (vgl. S. 104f) eingesetzt. Selbst die Musik des Passions-Musicals Jesus Christ Superstar (1973) wird in Susanne Heines Artikel „Denkst du, du bist, was sie sagen, dass du seist?“ (S. 186-213, v.a. S. 194) nur anhand der Texte untersucht, nicht der Musikstile und Vortragsarten. Noch enttäuschender ist Therese Bruggisser-Lankers „Die Leidensgeschichte zwischen Kunst und Kitsch“ (S. 214-234) erweist sich schnell als Popularmusik abwehrende und weitestgehend abschätzig vorgetragene Herabwertung des Musicals. Fast alle anderen Artikel berücksichtigen das Musikalische nicht, was bedauerlich ist und eine ganze signifikative Ebene der filmischen Artikulation von Bedeutung und Modus unterschlägt.[10] Immerhin sollte man in Erinnerung rufen, dass die Musik zu Scorseses The Last Temptation of Christ [1988] von Peter Gabriel komponiert und eingespielt wurde,[11] der dabei mit damals unbekannten Künstlern aus Afrika und dem Nahen Osten zusammenarbeitete unter ihnen Nusrat Fateh Ali Khan, Youssou N’Dour und Baaba Maal , damit einen internationalen Klangraum mit dem Film vermählend, der auch politisch interpretiert werden kann, also ihrerseits einen allegorischen Impuls trägt. Auch viele der anderen Filme setzen Musik ein, um den Bedeutungsraum ihrer Erzählung zu öffnen, ihn vor allem um Qualitäten zu erweitern, die nicht unmittelbar aus narrativen und dramatischen Strukturen abgeleitet werden können.[12] Zurück zur Auswahl der Filme, die Leid-Bilder versammelt: Das Spektrum der Leitlinien der Adaption, das die Filme verfolgen, ist denkbar groß. Da sind manche, die die Passionsgeschichte als Re-Inszenierung des historischen Geschehens erzählen;[13] andere lösen sich dagegen von der Vorlage und greifen nur indirekt auf die Bibeltexte zurück, verweisen manchmal nur im Titel auf diese. Bruno Dumonts La vie de Jésus / Das Leben Jesu (1997) etwa hat mit der historischen Jesus-Figur nichts zu tun; er spielt in dem nordfranzösischen Provinzstädtchen Bailleul und erzählt die Geschichte eines Jugendlichen, der zum Mörder an einem arabischen Jungen wird angefeuert durch das eigene Leben am Rande sozialer Anerkennung, ohne Lebensperspektive, durch das rassistische Umfeld dazu. Der Film mag gleichzeitig als Hinweis auf eine tiefensemantische Tendenz der Filme gelten, die Passionsgeschichte in der es um Schuld, Vergebung und Erlösung geht mit der Kritik an sozialer und ökonomischer Realität zu verbinden, durch den Bezug auf die biblischen Texte an die Tiefenwerte gemahnend, die für ein Innenverständnis der Kultur so wichtig sind. Als Allegorie auf die Passionsgeschichte ist auch Lars von Triers Breaking the Waves (1996) gelesen worden. Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Schottin aus einer streng religiösen schottischen Gemeinde, die gegen deren Widerstand einen Dänen heiratet, der auf einer Bohrinsel arbeitet und nach einem Unfall querschnittsgelähmt ist. Die Schottin nimmt die Behinderung ihres Mannes als Strafe Gottes für ihren Egoismus auf, lässt sich aber, um Buße zu tun, auf seinen Wunsch darauf ein, sich auf wahllose sexuelle Begegnungen einzulassen. Nach den Misshandlungen eines Matrosen stirbt sie schwerverletzt im Krankenhaus und wie durch ein Wunder wird ihr Mann geheilt. Obwohl seine Frau exkommuniziert worden war, sorgt der Mann für eine Seebestattung. Schon von Beginn der Rezeption an wurde der Heldin „Christusförmigkeit“ zugeschrieben, ihre Leidensgeschichte als säkularisierte Variante der Passion interpretiert und als Auseinandersetzung mit ihrer Weiblichkeit gesehen, die eben nicht auf Naivität, Hysterie, unbeschränktes Gottvertrauen oder radikale Hingabe reduziert werden dürfe. Es ist die Freiwilligkeit der Unterwerfung unter das Diktat des Mannes (der Inkarnation einer höheren Macht in der Sicht der Heldin) und die Passivität, mit der sie alle Demütigungen und sozialen und religiösen Demütigungen erträgt, die an die Jesusfigur der Passion erinnern.[14] Breaking the Waves mag auch gelesen werden als scharfe Kritik an der Radikalität der sozialen Kontrolle durch die Gemeinde, die Unfähigkeit des Priesters zu verzeihen und die Bereitschaft des Glaubenskollektivs, Abweichler auszugrenzen. Schon Pier Paolo Pasolinis La ricotta / Der Weichkäse (1962)[15] war als soziale Anklage vorgetragen als Geschichte eines Statisten, der in einer manieristischen Inszenierung der Passion als einer der Mitgekreuzigten auftreten soll; er ist auf Grund ausstehenden Lohnes halbverhungert, schlingt einen ihm eher zufällig in die Hand gefallenen Weichkäse; er wird an den Set zurückgerufen, noch bevor er zu Ende gegessen hat, nimmt seinen Platz am Kreuz ein und stirbt unter Krämpfen, sozusagen anstelle der eigentlichen Hauptfigur. Hier geht es um das Leben des italienischen Subproletariats, um Armut und Verzweiflung; die transzendentalen Dimensionen der Passion werden rückübersetzt in Sozialpolitik, als sei es nötig, die Exegese der biblischen Texte in die Erkenntnis des Realen und seiner von allen Werten verlassenen Bewohner zu erweitern. Die Parallelität der beiden Bedeutungsebenen wird durch die tableauartigen (an die Bühneninszenierungen der Passionsspiele erinnernden) Kompositionen (vgl. 114f), in denen Pasolini die Erzählung vorträgt, auch visuell artikuliert. Zwei Bedeutungsebenen also, die die Filme zusammenbringen (sofern sie sich nicht auf die blanke Re-Inszenierung des Quellentextes beschränken wie der in Leid-Bilder nicht erwähnte Film Il Messiah / Der Messias, 1975, Roberto Rossellini). Kritik an sozialer Verelendung als ein zweites Interpretament, das die Filme dem Passionsnarrativ beimischen. Immer ist es Aufgabe des Zuschauers, das Gewusste und Bekannte mit dem Neuen zusammenzubringen, das der Film ihm vorschlägt. Andere Filme nutzen andere Narrative. Eines davon könnte man das Résistance-Narrativ nennen. Judäa, ein besetztes Gebiet, unter römischer Zwangsherrschaft. Nationaler Widerstand. Das wohl bekannteste Beispiel für eine solche Amalgamierung zweier Narrative ist Monty Python‘s Life of Brian / Das Leben des Brian (1979, Terry Jones), über eine Figur, die eher versehentlich zum charismatischen Führer der Widerstandsgruppe wird, die sich aber, als er verhaftet und zum Tode verurteilt wird, nicht mit ihm solidarisiert es ist allerdings ein falscher Jesus, dem die Volksmassen die Identität als Messias nur unterstellt hatten, obwohl er sie immer abgestritten hatte. Symbolisierung der Figur zum Gesicht des Widerstandes, die Hinrichtung der Figur als demonstrative Ausübung der Macht der Besatzung das alles für einen Zuschauer, der das Spiel mit uneigentlicher Identität immer weiß. Andere Filme treiben die Politisierung der Figur weiter. Der in Leid-Bilder nicht erwähnte Film Judas and Jesus / Judas (2004, Charles Robert Carner) erklärt den „Judaskuss“ aus der inneren Dynamik der judäischen Résistance, in der Judas, der für aktive Gegenwehr gegen die Besatzer steht, und Jesus, der sich auf spirituelle Kräfte verlassen will und für eine Politik des Vergebens plädiert, zur Spaltung der Bewegung zu führen droht; der Tod Jesus wird so lesbar als Versuch, die Widerstandsbewegung zu einen.[16] Formal begründet ist die Adaption der Passionsgeschichte in Jésus de Montréal / Jesus von Montreal (1989, Denys Arcand) hier wird das Passionsspiel selbst zum Thema: Die Schauspieler werden von ihrem Spiel wahrhaft ergriffen, als sie eine neue Theaterdarstellung der Passion erarbeiten. Aus dem Spiel wird immer mehr Leben, die Distanz zwischen Schauspieler und Rolle bricht immer stärker zusammen. Das Stück wird von der kirchlichen Obrigkeit verboten, doch ist der Darsteller der Jesusfigur inzwischen mit seiner Rolle verschmolzen, hat sie übernommen. Im Delirium predigt er in der U-Bahn, bevor er im Krankenhaus stirbt; sein Herz und seine Augen werden auf andere transplantiert (wenn man so will: das Wiederleben Jesus wird also als Weiterverwendung von Körperorganen radikal profanisiert).[17] 3. TiefenthemenSchon Jesus Christ Superstar (1973) hatte von einer Jesusfigur erzählt, die in einer sexuellen Beziehung stand, ein Thema, das seitdem immer wieder angesprochen wurde. Die Sexualisierung der Jesusfigur blieb ein Skandalon; noch in den 1980ern weckte Martin Scorseses The Last Temptation of Christ / Die letzte Versuchung Christi (1988) heftige Gegenwehr. Nach der Kreuzigung erscheint Jesus ein junges Mädchen, das sich ihm als Schutzengel zu erkennen gibt und ihm die Flucht anbietet. Es rettet ihn tatsächlich, bringt ihn zu Maria Magdalena, mit der er eine Familie gründet; sie stirbt bei der Geburt des ersten Kindes. Jesus heiratet zweimal wieder, zeugt drei Kinder. Am Ende seines Lebens trifft er Judas wieder, der ihn darüber aufklärt, dass sein Schutzengel Satan gewesen ist und Jesus entscheidet sich, sein Martyrium zu vollenden. Sein Leben als Familienvater war nur ein (allerdings fast 30-minütiger) Traum, seine letzte Versuchung eben.[18] Tatsächlich ist der Eingriff in die Konzeption der Jesusfigur tiefer, die Scorsese vornimmt (ähnlich wie schon Nikos Kazantsakis in seinem Scorseses Film zugrundeliegenden Roman O telefteos pirasmos aus dem Jahr 1951 [dt. 1952]), weil er mit der Verbürgerlichung der Figur in der Traumsequenz der Figur die Passivität entzieht, die sie gerade in der Passionsphase ihrer Biographie kennzeichnet.[19] Dem widerspruchslosen Sich-Finden in die göttliche Bestimmung des Folgenden steht das narrative Muster des Hollywood-Erzählens strikt entgegen, den Protagonisten zunächst zu entmächtigen, im Fortgang der Handlung ihn aber als handlungsmächtiges Subjekt neu zu installieren. Die Unfähigkeit, sich zur Wehr zu setzen, ist auch dann verborgenes Thema, wenn der Held ein Tier ist (in Au hazard Balthazar, 1966, ist der Titelheld ein für seine Geduld und Anspruchslosigkeit bekannter Esel und nicht etwa ein Kampfhund), wenn er dem geächteten Subproletariat angehört (wie in La ricotta, 1962, oder in La vie de Jésus, 1997) oder wenn die leidende Figur sterbenskrank ist und stirbt (wie in Ingmar Bergmans Viskningar och rop / Schreie und Flüstern, 1972). Dieser Passivität tritt das Leiden der Figur an die Seite. Wohl am stärksten hat Mel Gibsons The Passion of the Christ / Die Passion Christi (2004) die an der Jesusfigur ausgeübte Gewalt in den Fokus der Erzählung gestellt. Mit Mitteln des Splatterfilms rückt der Körper der Figur ganz ins Zentrum der Inszenierung, er wird zum Objekt einer ungeklärten Blutrünstigkeit und Gewalttätigkeit seiner Folterer, deren psychische oder biographische Motivation vollkommen im Dunklen bleibt. Auch darin ähnelt Gibsons Film den Strategien neuer Präsentationen eines nur noch tautologisch begründeten Bösen. Dem Helden ist jede Gegenwehr versagt, er wird zum reinen Objekt. Eine Bereitschaft zum Leiden, wie in den Jesusmythen behauptet, die aus dem Verstehen der göttlichen Bestimmung und dem Ziel, im eigenen Tod Gnade für alle anderen zu erwirken, ist in Gibsons Darstellung kaum mehr zu entdecken. Eine nochmals andere Wendung im Umgang mit der Ausgangsgeschichte unternimmt Mlyn i krzyz / Die Mühle und das Kreuz (2011, Lech Majewski), der das Bild Die Kreuzigung Christi von Pieter Bruegel aus dem Jahr 1564 in zwölf Einzelgeschichten elaboriert und sie mittels eines Kunstsammlers in den historischen Kontext der Unterdrückung Hollands durch die Spanier, des Malers Bruegel, der die Entstehung des Bildes und die ihm grundgelegte Dramaturgie erläutert, und Marias, die ihre Ohnmacht angesichts des Todes ihres Sohnes schildert. Ein Bild als Ausgangspunkt für drei verschiedene Kontextualisierungen des Passionsgeschehens. Es ist nicht mehr die Passion selbst und ihre narrative Umsetzung, sondern eine bildgewordene Repräsentation derselben, die Mlyn i kryz fortschreibt und narrativ auffächert. Es entsteht eine Art „Repräsentation zweiter Stufe“, in der die Transformation eines Geschehens in eine ganze Myriade künstlerischer Darstellungen fortgesetzt wird (basierend auf drei verschiedenen Kontexten, die das Bruegel‘sche Bild seinerseits eröffnet). Der lesenswerte Doppelartikel in Leid-Bilder nähert sich dem repräsentationshistorisch reflexiven Verfahren des Films ikonographisch-analytisch und kritisch, spricht die Frage der kommunikativen und semantischen Macht derjenigen an, die sich des Topos der Passion insgesamt annehmen. 4. Die popkulturelle Adaption der GrundgeschichteSo vielfältig schon das Bild der filmischen Adaption der Passionsgeschichte ist, so zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass die Rezeption der Kerngeschichte viel weiter ausgreift und die Jesusfigur selbst moduliert, sie in neue Kontexte gesellschaftlichen Diskurses integriert. Man könnte angesichts ihrer Trash-Adaptionen sogar so weit gehen, dass sie ganz im Sinne der Postmoderne-Kritik zu einem im Grunde leeren, seiner symbolischen und theologischen Potenz entkleideten Material geworden ist, mit dem in allen Genres gespielt werden kann. In der erweiterten Filmographie finden sich sogar Sexfilme wie Him (USA 1974) oder der 40-Minüter Gay Jesus (2015, Paul M. McAlarney) über die Passion eines schwulen Erlösers. Im neueren Trashfilm-Kino finden sich auch Beispiele wie Jesus Christ Vampire Hunter (2001, Lee Gordon Demarbre) über einen wiederauferstandenen Jesus, der mit Unterstützung des mexikanischen mythischen Ringers „El Santo“ ganze Horden von Vampiren bekämpfen muss, die sich über die Lesbierinnen von Ottawa herzumachen versuchen. In Jesus vender tilbage (1992, Jens Jørgen Thorsen) kehrt Jesus auf die Erde zurück und wird Mitglied einer Terroristengruppe, verliert aber nicht seine Unbescholtenheit. Die Liste der Beispiele ließe sich verlängern, die alle darauf hindeuten, dass, wie oben schon erwähnt, die Jesusfigur in den Verarbeitungen der populären Trashkultur zum reinen Material wird und seine kulturell-symbolischen Bedeutungen verliert, die nur noch zur Provokation der Zuschauer dienen. Aber auch seriösere, den Protagonisten ernst nehmende Adaptionen greifen in die Charakteristik der Figur ein, aktualisieren ihre Bestimmungselemente meist dadurch, dass sie moduliert werden. Im Einzelnen:
Andere Filme lösen sich von der so selbstverständlich scheinenden Rolle Jesus als Protagonist der Passionsgeschichte und setzen ihr Konterperspektiven zur Seite oder entgegen:
Alle diese Eingriffe in die kanonisierte Ursprungsgeschichte werden in Leid-Bilder nicht erwähnt, was bedauerlich ist und kaum ein weiteres Verständnis der kulturellen Präsenz der Passionsgeschichte und ihrer Versatzstücke ermöglicht. Offenbar steht das Passionsnarrativ in einem Übergang und wird aus der Kanonisierung der Gründungsgeschichte gelöst; es wird als „Geschichte“ greifbarer und zugänglicher, kann darum variiert, moduliert werden, auf ihr innewohnende stillschweigend gesetzte Bestimmungen befragt werden. Wollte man es radikalisiert ausdrücken: Ideengeschichtlich wird sie aus dem Kontext der Begründungsgeschichte herausgelöst. Allerdings bleibt die Prägnanz der Szenen und Bilder, die dem Passionsnarrativ entspringen, erhalten. Die kluge und umsichtige Einleitung des Bandes kommt gerade auf diese Tatsache zu sprechen (etwa S. 33ff), ohne definitive Erklärungen liefern zu können allerdings ist der Hinweis darauf, dass auch viele neuere Filme auf eine in der Passion versprochene „Erlösung“ hinzielen, auf eine narrative Gegenmacht, die allen realen Leidensszenarien Kriegen, Hungersnöten, politischem Terror usw. zumindest in den imaginären Realitäten der Erzählung entgegenwirkt. Die Fähigkeit der Elemente der Passion behält symbolische Kraft, würde das heißen, und ihre Präsenz in den neueren Geschichten des Kinos wird lesbar als Teil eines Glücksversprechens, das dem Geschichtenerzählen selbst innewohnt. Damit verlagert sich die Untersuchung der Passion im Kino auf eine rezeptionsästhetische und -ethische Frage, weit entfernt von den Fragen der Angemessenheit oder Unangemessenheit der Darstellung der biblischen Ursprungsgeschichte. Filme
Im Artikel erwähnte Filme:* Die in Leid-Bilder vorgestellten Filme sind durch vorangestelltes „A:“ gekennzeichnet.
Anmerkungen[1] Arno Schmidt: Rosen & Porree. Karlsruhe: Stahlberg 1959, S. 10. [2] Manches ist abgesunken, hat seine Beziehung zu dem in der Bibel Berichteten eingebüßt. Der „heilige Gral“ etwa wird eher der Artus-Runde assoziiert als dem Kreuzigungsszenario. [3] Vgl. Von Oberammergau nach Hollywood. Wege der Darstellung Jesu im Film. Hrsg. v. Reinhold Zwick u. Otto Huber. Köln: Katholisches Institut für Medieninformation 1999, bes. S. 29-79. [4] Natürlich stellt sich die Frage vor allem angesichts der Filme, die nur indirekt auf die Jesusfigur verweisen, woran man den Bezug festmachen kann. Vgl. dazu Anton Karl Kozlovic: „The Structural Characteristics of the Cinematic Christ-figure“ (in: Journal of Religion and Poplar Culture 8, Fall 2004, URL: https://archive.li/h5HrF#selection-198.0-198.1), einen der wenigen Versuche, sich dieser Problematik anzunehmen; Kozlovic isoliert 25 Bestimmungselemente, die er als Assimilation der christologischen Figur an die Populärkultur ansieht und die Filme als Lernfeld einer postmodernen religiösen Erziehung in einen weiteren kultursozialisatorischen Horizont einrückt. [5] Vgl. Leid-Bilder, S. 14, Anm. 7, S. 18, Anm. 8. [6] Hervorgehoben sei Peter Joseph Fraser: Images of the passion: The sacramental mode in film (Westport, Conn.: Praeger 1998), der das Thema an 14 Beispielen von 1932 bis 1985 auffächert, mit ähnlichen Strategien der Auswahl wie sie auch die Herausgeber von Leid-Bilder beherzigten. Ein ähnliches Konzept unterliegt auch einigen anderen Bänden wie Aaron V. Burton: A narrative rhetorical analysis of six Hollywood films about Christ, 1912-2004. The romanticization of sacrificial death (Lewiston, N.Y. [...]: Mellen 2014), Stephenson Humphries-Brooks: Cinematic savior: Hollywood's making of the American Christ (Westport, Conn. [...]: Praeger 2006) und W. Barnes Tatum: Jesus at the movies. A guide to the first hundred years (rev. & exp., Santa Rosa, Cal. [...]: Polebridge Press 2004). [7] Vgl. die Analysen von James R. Huffman: „Jesus Christ Superstar. Popular art and unpopular criticism“ (in: The Journal of Popular Culture 6,2, 1972, S. 259-269) sowie von Mark Goodacre: „Do You Think You're What They Say You Are? Reflections on Jesus Christ Superstar“ (in: Journal of Religion & Film 3,2, 2016, Article 2, URL: https://digitalcommons.unomaha.edu/jrf/vol3/iss2/2); vor allem letzterer bettet den Film in die kulturellen Bezüge der frühen 1970er ein. Im Zusammenhang mit den Darstellungsstrategien von Jesus Christ Superstar muss auch Godspell (1973, David Greene) erwähnt werden, der ähnlich auf ein Bühnenmusical zurückgeht und von einer Gruppe junger Menschen erzählt, die in den Straßen New Yorks verschiedene Episoden aus dem Matthäus-Evangelium spielt, singt und tanzt. Auch Hair (1979, Milos Forman) ist musicalbasiert, instrumentiert dabei Motive der Passionsgeschichte. Vgl. dazu Peter Hasenberg: „Clown und Superstar: Die Jesus-Musicals der 70er Jahre“ (in: Jesus in der Hauptrolle: Zur Geschichte und Ästhetik der Jesus-Filme. Köln: Katholisches Institut für Medieninformation 1992, S. 36-41). [8] Einzig das zum Emblem gewordene Bild der Pietà wird in Leid-Bilder gezielt in dem Artikel von Daria Pezzoli-Olgiati angesprochen (S. 504-525); vgl. daneben einige meist äußerst kurze Bemerkungen zur Pietà in diversen Beiträgen des Bandes. Vgl. darüber hinaus Fabienne Liptay: „Filmische Andachtsbilder. Die Pietà - eine Figur des Mitgefühls“ (in: film-dienst, 11, 2006, S. 13-15). [9] Andreas Thier thematisiert den auch juristisch wirksamen Vorwurf der ‚Blasphemie‘ am Beispiel von Martin Scorseses The Last Temptation of Christ / Die letzte Versuchung Christi, 1988 (s. 287-308) in großer Klarheit. Andere Filme, die trotz oder gerade wegen ihres ökonomischen Erfolgs heftige Auseinandersetzungen provoziert haben (wie Jesus Christ Superstar, 1973, oder The Passion of the Christ / Die Passion Christi, 2004), werden aber nur oberflächlich in die Tiefen der Vorwürfe verfolgt, die gegen sie erhoben wurden. [10] Das ist bedauerlich auch deshalb, weil ein ganzes Feld medialer Praxis der Repräsentation der Passionsgeschichte gar nicht erst in den Blick gerät. Erinnert sei an dieser Stelle auch an Songs wie „Worthy of Your Name“ des Sängers Sean Curran (veröffentlicht auf seinem Album „Passion - Worthy of Your Name“), das von einem hymnisch sich mit geschlossenen Augen wiegenden Publikum in einem aus Live-Aufnahmen kompilierten Auftrittsvideo (2017) als Videoclip gefeiert wird, basierend auf einem Bekenntnistext aus Jesaja (26,8). Der Song gehört zu einer ganzen Flut von Liedern, die oft der Pop-Erweiterung des christlichen Liedguts zugerechnet werden; vgl. dazu neben einer ganzen Reihe anderer Clips auch das süßliche Video „Via dolorasa“ der Sängerin Sandy Patti, das einer Kompilation von Gibsons Passions of the Christ (2004) unterlegt ist, ähnlich wie das im Stil des Broadway-Musicals vorgetragene Video „We Are the Reason“ der Contemporary-Christian-Music-Band Avalon. Zur Geschichte des „Christian Rock“ vgl. etwa David Ware Stowe: No Sympathy for the Devil. Christian Pop Music and the Transformation of American Evangelicalism (Chapel Hill: University of North Carolina Press 2011) oder Shawn David Young: Gray Sabbath. Jesus People USA, Evangelical Left, and the Evolution of Christian Rock (La Vergne: Columbia University Press 2015). Zur Bedeutung der Musik in gegenwärtigen religiösen Praktiken vgl. Kutter Callaway: Scoring transcendence: Film music as contemporary religious experience (Waco, Texas: Baylor University Press 2013), der den Filmmusiken sogar das Potential zuschreibt, die spirituellen Implikationen der Filme überhaupt erst zu öffnen. Zur Musik der Jesus-Filme vgl. Kyle Renick: „For Christ’s sake“ (in: Film Score Monthly 9,3, March 2004, S. 18-48). Verwiesen sei auf die Ritualisierung des Umgangs mit „Verzückung durch Musik“, wie man sie beispielhaft in Currans oben erwähntem Video sehen kann es werden die Augen geschlossen, so dass die Musik wie die Folie einer (allerdings nur für die Dauer des Songs bestehenden) meditativen Entrückung, vielleicht einer subjektiv empfundenen Einheit von äußerer Realität und innerem Ich wirkt, ähnlich wie die Musiken in den Trance-Ritualen diverser Religionen. Soll sagen, dass auch wenn der Text auf die Passion referiert man es nicht mit einer Repräsentation zu tun hat, sondern vielmehr mit einem rituellen Handeln, für das die Referenz nur von sekundärer Bedeutung ist. [11] Gabriel veröffentlichte die Filmmusik 1989 unter dem Titel „Passion“ bei der Firma Real World Records; es gewann einen Grammy als „Best New Age Album“ (1990). [12] Vgl. etwa Michael Bird: „Secret arithmetic of the soul: Music as spiritual metaphor in the cinema of Ingmar Bergman“ (in: Kinema, 5, Spring 1996, S. 13-39). [13] Ob Gibsons Film alte Religionskonflikte wiederaufleben lässt, ist mehrfach diskutiert wurden; vgl. dazu etwa Martin Ebner: „Antijüdische Tendenzen in den neutestamentlichen Passionsgeschichten?“ (In: „Die Passion Christi“. Der Film von Mel Gibson und seine theologischen und kunstgeschichtlichen Kontexte. Hrsg. v. Reinhold Zwick u. Thomas Lentes. Münster: Aschendorff 2004, S. 139-163) sowie das Themenheft des Journal of Religion and Film (8, 2004). Vgl. zu diesem Problemkreis auch Filme wie den von Johnny Cash geschriebenen, produzierten und kommentierten Pseudo-Dokumentarfilm Gospel Road: A Story of Jesus (1973, Robert Elfstrom), der sich um die Darstellung eines „historisch getreuen“ Jesus bemüht, oder die 60-minütige TV-Produktion The Case for Christ's Resurrection (2007, David Priest), der gestützt auf historische Quellen, medizinische Expertise u.ä. die Passionsgeschichte zu ergründen sucht. [14] Vgl. Andreas Jacke: „Christliche Passion, Wunder, Gabe oder Tausch: Breaking the Waves (1996)“ (in seinem: Krisen-Rezeption oder was Sie schon immer über Lars von Trier wissen wollten, aber bisher Jacques Derrida nicht zu fragen wagten. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 159-173), James L. MacLeod: „Breaking the stereotypes: A critique of the portrayal of Scottish Highland Calvinism in Lars von Trier’s Breaking the Waves“ (in: Fides et historia 34,2, 2002, S. 75-86) sowie Arnfríður Guðmundsdóttir: „Female Christ-figures in films: A feminist critical analysis of Breaking the Waves and Dead Man Walking“ (in: Studia Theologica 56,1, 2002, S. 27-43). Vgl. zum gleichen Film Alyda Faber: „Redeeming Sexual Violence? A Feminist Reading of Breaking the Waves“ (in: Literature and Theology 17,1, 2003, S. 59-75), die gerade gegen eine solche Interpretation der Sexualität der Heldin als transgressive und befreiende Kraft entgegenhält, dass es vielmehr um eine Stabilisierung patriarchalischer Herrschaftsverhältnisse ginge. [15] Gleichwohl La ricotta nur 35 Minuten lang ist es ist die dritte Episode des gesellschaftskritischen Episodenfilms RoGoPaG , hat er einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen; vgl. etwa zur ikonographischen Gestaltung Elisabeth Oy-Marra: „Alte und neue Medien im Dialog: Malerei und Film in Pier Paolo Pasolinis La ricotta“ (in: Koebner, Thomas / Schenk, Irmbert (Hrsg.): Das goldene Zeitalter des italienischen Films. Die 1960er Jahre. München: Text und Kritik 2008, S. 268-278), sowie Birgit Wagner: „La ricotta. Körper, Medien, Intermedialität“ (in: Kuon, Peter (Hrsg.): Corpi/Körper. Körperlichkeit und Medialität im Werk Pier Paolo Pasolinis. Frankfurt: Peter Lang 2001, S. 81-92) zur Bedeutung der Darstellungen des Körpers und der leiblichen Ausdrucksformen, die wie eine Gegenwehr sozusagen „gegen“ die statuarische Inszenierung gerichtet sind. Zur ästhetischen Analyse des Films vgl. Veronika Ralls sensible Ausführungen in Leid-Bilder (S. 108-118). [16] Just dieser strategische Konflikt bildete schon das Zentrum von Nicholas Rays Bibel-Epos King of Kings / König der Könige (1961); auch hier küsst Judas, der zunächst den aufständischen Zeloten und deren Anführer Barrabas angehört hatte, dann aber zu der Jesus-Gruppe wechselte, die Führer-Figur, um seine Bereitschaft zu wecken, in den aktiven Kampf einzutreten. Zur Politisierung der Jesus-Figur ist auch zu nennen die israelische Produktion The Passover Plot / Jesus von Nazareth (1975, Michael Campus), in dem sich Jesus sich im Umfeld jüdischer Machtkämpfe gegen die römischen Unterdrücker als Messias proklamiert, die seine Jünger als Revolutionäre bekämpfen. [17] Vgl. Reinhartz, Adele: „History and pseudo-history in the Jesus film genre“ (in: Biblical Interpretation 14,1-2, 2006, S. 1-17). Celui qui doit mourir / Der Mann, der sterben muss (1957, Jules Dassin) nach einem Roman von Nikos Kazantzakis erzählte bereits eine ähnliche Geschichte: 1921, im asiatischen Teil der Türkei; alle sieben Jahre führt ein Dorf das Passionsspiel auf; die Überlebenden eines türkischen Massakers bitten um Hilfe, der Pope verweigert sie, weil sie angeblich Cholera mitbringen; es entsteht eine der Passion ähnliche Konstellation, die Schauspieler des Passionsspiels werden ihren Rollenfiguren immer ähnlicher. Verwiesen sei auch auf Abel Ferraras Film Mary (2005), in dem die Hauptdarstellerin eines Films über die Passion sich immer mehr angesichts der Maria-Magdalena-Figur ihrer selbst bewusst wird; vgl. dazu Virgilio Fantuzzi: Mary di Abel Ferrara“ (in: La Civiltà cattolica 157,3733, 2006, S. 69-74). [18] Natürlich betreibt die Episode auch ein hinterhältiges Spiel mit Zuschauerwissen die tot gewusste Figur lebt, die fatale Geschichte hat ein happy ending , sogar die Modalität des ganzen Films und seiner Geschichte gerät in Frage ist es eine fake history? , schließlich stellt sich die Frage, ob es sich um ein Zugeständnis an die Konventionen des Hollywood-Unterhaltungs-Erzählens handelt. Und natürlich wird angesichts der theologischen Implikationen der Passionsgeschichte die eigene Position des Gläubigen thematisch. Vgl. hierzu Robin Riley: Film, faith, and cultural conflict. The case of Martin Scorsese's „The Last Temptation of Christ“ (Westport, Conn. [...]: Praeger 2003, hier S. 4), der diese reflexive Dimension der Episode allerdings nur beiläufig erwähnt. Langkau, Thomas: Filmstar Jesus Christus. Die neuesten Jesus-Filme als Herausforderung für Theologie und Religionspädagogik (Berlin/ Münster: Lit 2007 [Literatur, Medien, Religion. 19.], hier S. 193) reduziert das Problem auf eine allgemeine Tendenz, die Menschlichkeit der Jesus-Figur in neueren Produktionen herauszustellen auch dieses lenkt vom textsemiotischen und rezeptionsästhetischen Problem ab. Zu den sexualitätspolitischen Aspekten der Jesusfilme vgl. Ina Rae Hark: „Tortured Masculinity: Gendering Jesus in The Robe [1953]“ (in: Quarterly Review of Film and Video 18,2, 2001, S. 117-128). [19] So auch Scorsese in einem Interview mit der taz v. 19.1.2005. [20] Vgl. Lloyd Baugh: „The African Face of Jesus in Film. Part Two: Mark Dornford-May's Son of Man“ (in: Gregorianum, 2011, S. 317-345), Reinhold Zwick: „Between Chester and Capetown: Transformations of the Gospel in Son of Man by Mark Dornford-May“ (in: Journal of Religion and Film 15,1, April 2011, S. 1-10) sowie Anton Karl Kozlovic: „Son of Man: An African Jesus Film“ (in: Journal of the Bible and Its Reception 1,1, 2014, S. 181-185). [21] Beispiele sind die TV-Produktion Maria Maddalena / Maria Magdalena (2000, Raffaele Mertes) und vor allem der starbesetzte Film Mary Magdalene / Maria Magdalena (2018, Garth Davis). Vgl. dazu Jane Schaberg: „Fast forwarding to the Magdalene“ (in: Semeia, 74, 1996, S. 33-45) sowie Jane Schaberg: „Gibson’s Mary Magdalene“ (in: Mel Gibson’s Bible: Religion, popular culture, and „The Passion of the Christ“. Ed. by Timothy K. Beal & Tod Linafelt. Chicago, Ill./London: University of Chicago Press 2006, S. 69-80); zur Figur in Scorseses Film vgl. Josef Dirnbeck: „Des Meisters Herz-Dame zwischen Kitsch und Kirchenkritik: Maria Magdalena in neuer Literatur und im Film“ (in: Bibel und Kirche 55,4, 2000, S. 200-204); vgl. allgemein Anja Wißkirchen: Identität gewinnen an Maria Magdalena: Eine Untersuchung der mythologischen Erzählstrukturen in den biblischen Texten und deren Rezeption in „Jesus Christ Superstar“ und „Die letzte Versuchung Christi“ (Münster/Hamburg/London: Lit 2000 [Pontes. 6.]). [22] Es liegen mehrere Versuche vor, das Leben Jesus aus der Mutterperspektive zu erzählen darunter Marie de Nazareth /Maria von Nazareth (1994, Jean Delannoy), Mary, Mother of Jesus / Maria - Die heilige Mutter Gottes (1999, Kevin Connor), Maria, figlia del suo figlio / Maria, Tochter ihres Sohnes (2002, Fabrizio Costa) oder Maria di Nazaret / Ihr Name war Maria (2012, Giacomo Campiotti). [23] Tatsächlich liegen wenige Filme vor, die dieser Idee folgen: Eine den üblichen Lesarten und Motivationszuschreibungen Judas‘ entgegen stehende Judas-Geschichte erzählt Giuda / Judas (2001, Raffaele Mertes), derzufolge Judas zum Verrat bereit war, weil Pilatus nach einem Anschlag die Verhaftung einer ganzen Reihe jüdischer Bürger veranlasst hatte, zu denen auch Judas‘ Eltern gehörten, der damit erpressbar geworden war. Zur traditionellen Judas-Figur im Film vgl. Anton Karl Kozlovic: „The deep focus typecasting of Joseph Schildkraut as Judas figure in four DeMille films“ (in: Journal of Religion and Popular Culture 6,1, Spring 2004, S. 1-34) sowie Carol A. Hebron: Judas Iscariot - damned or redeemed? A critical examination of the portrayal of Judas in Jesus films (1902-2014) ( London [...]: Bloomsbury International Clark 2016 [Scriptural Traces.]). Vgl. auch Richard G. Walsh: „The gospel according to Judas: Myth and parable“ (in: Biblical Interpretation 14,1-2, 2006, S. 37-53). [24] Den schon genannten Filmen könnte man noch Ponzio Pilato / Pontius Pilatus [aka: Pontius Pilatus - Statthalter des Grauens] (1962, Gian Paolo Callegari, Irving Rapper), den holländischen TV-Film Heeft geleden onder Pontius Pilatus (1967, Johan De Meester) und Secondo Pontio Pilato / Die wundersamen Erlebnisse des Pontius Pilatus (1987, Luigi Magni) zugesellen, die die Passionsgeschichte aus der Perspektive des römischen Statthalters erzählen. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/115/hjw16.htm |