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“Einmal so richtig Werbung machen”Notizen zum chrismon-ReformationsheftAndreas Mertin Samstags ist unsere Postbotin immer mit einer besonderen Last belegt. Sie verteilt in ihrem gesamten Bezirk ein in Plastikfolie eingeschweißtes Werbekonvolut. Massenwerbung in jeden Briefkasten ein Stück. Haushalt für Haushalt für Haushalt. Und zwischen all diesen Prospekten von B1 DISCONT BAUMARKT, NORMA, PENNY, SEATS AND SOFAS, DÄNISCHES BETTENLAGER, KODI, POCO und real findet sich obenauf auch noch ein Blatt, das nennt sich EINKAUF AKTUELL. Das ist sozusagen das Bindeglied all der anderen Werbebroschüren. Hauptkern dieses Verbindungsteils ist scheinbar das aktuelle Fernsehprogramm, das auf den Seiten 7-11 des zwölfseitigen Blättchens abgedruckt ist und das man vermutlich neben den Fernseher legen soll. Die restlichen Seiten sind mit einer Ausnahme seitenfüllende Werbung. Also besteht das Blättchen zur Hälfte aus Werbung. Das beginnt schon auf dem Titelblatt, das mich besorgt fragt, ob ich Probleme mit Durchfall, Bauchschmerzen und Blähungen habe, um mir dann ganzseitig auf Seite drei Kijimea Reizdarm-Tabletten anzupreisen. Auf Seite zwei aber finde ich eine ganzseitige Werbung von KreuzfahrtSafari.de, die mir verschiedene mehrtägige Reisen im Mittelmehr und rund um Großbritannien anbieten und satte Rabatte bis 1.300 Euro in Aussicht stellen. Seite vier des Blattes wiederholt sich das Ganze, nur ist es diesmal sonnenklar.tv, die mir ganzseitig Marsa Alam, „die Perle am Roten Meer“ andrehen wollen. Und auch hier spare ich knapp 30%. Seite fünf ist wieder Apothekenprodukten vorbehalten, ganzseitig empfiehlt mir eine gesetzte Dame gegen Falten und Schwellungen ein Augenpflegemittel. Seite sechs ist dann die einzig inhaltliche Seite, ein paar scheinbar redaktionelle Hinweise auf das Fernsehprogramm. Aber auch die sind klientenorientiert: eine Ärzteserie, ein Liebesfilm, eine Schlagersendung, ein Drama, eine Komödie und vermutlich für die Jüngeren um die 60 ein Science-Fiction-Film. Es folgt das Fernsehprogramm. Auf der letzten Seite wiederum noch einmal eine ganzseitige Werbung für eine Kreuzfahrt, dieses Mal von trendtours Touristik, die mir ein Wolga-Wunder und Zarenzauber versprechen. Und auch hier spare ich 400 Euro wenn ich sofort buche. Alles in allem besteht das Blatt aus Werbung und hat ein Zielpublikum, das man mit 60 und älter gut beschreiben kann. Warum ich das so ausführlich erwähne, fragen Sie sich? Nun, am 19. Oktober bekam die Redaktion eine Pressemeldung der Zeitschrift chrismon zugesandt, die vermeldete, es gäbe ein Sonder-Heft, bei dem vor allem junge Leute nach ihrem Glauben gefragt würden und das zum Reformationstag erscheinen würde: „Wie glauben junge Leute?“
Nun dürfen Sie drei Mal raten, was das dazu passende Coverbild von chrismon spezial ist? Bedenken Sie dabei, das die Zielgruppe von chrismon die treuen Gottesdienstbesucher ab 60 sind. Was wäre ein passendes Titelbild, dass Ihnen klarmacht: Reformation heißt Erneuerung, Aufbruch? Richtig geraten. Ein Titelbild mit Iris Berben (*1950) und Martin Schulz (*1955). Ich verkneife mir den Vergleich mit dem Titelbild meines Anzeigenblättchens, muss aber doch sagen, dafür, dass chrismon das Ganze unter dem Label „Wie glauben junge Leute“ unter das Volk bringt, ist es ziemlich daneben. Martin Schulz und Iris Berben als Inkarnation von Erneuerung und Aufbruch? Warum dann nicht Cher (*1946) oder David Bowie (*1947)? Auch die hätten - zumindest bis 2016 - beredt übers „Hinfallen und Aufstehen“ talken können. Dass als Parole dann „Wir müssen laut werden!“ ausgegeben wird, ist angesichts von 1. Könige 19, 12 zumindest bemerkenswert. Ich will hier gar keine Altersdiskriminierung [1] [2] [3] betreiben, aber weder Iris Berben noch Martin Schulz verbinde ich mit Aufbruch und Erneuerung (Cher aber schon - das ist leicht einsichtig). Aber ich gehöre auch nicht zur Zielgruppe von chrismon, das doch eher die vor 1956 Geborenen anspricht. Weshalb ich aber tatsächlich „zur Feder gegriffen“ habe, ist weniger das Titelblatt dieses chrismon spezial, als vielmehr die Seiten 2, 9, 13, 17, 19, 23, 26, 27 und 28. Die sind nämlich, Sie ahnen es schon, mit Werbung gefüllt und zwar mit solcher, die mich unmittelbar an die Werbung aus meinem Anzeigenblättchen erinnerte. Auf Seite zwei verspricht ganzseitig Berge & Meer eine Reise nach Kanada und Alaska und will dafür nur ein Entgelt von 3.299 € aufwärts pro Person in der Innenkabine. Da nehmen wir als Rentnerpaar doch gleich eine Außenkabine mit Balkon im Juli, man lässt sich ja nicht lumpen und es soll ja auch Spaß machen: und 10.800 Euro hat doch jedes deutsche Rentnerehepaar übrig. Das nenne ich zielgruppengerecht für deutsche Durchschnittsprotestanten. Für Katholiken empfehlen wir die Sonderangebote von AIDA-Reisen. Als besonders gelungen empfinde ich die Doppelseitenansicht mit der Werbung auf der einen und Heinrich Bedford-Strohm auf der anderen Seite sowie Martin Schulz und Iris Berben als Zugabe. Das wird eine nette evangelische Kaffeefahrt. Alaska? Sarah Palin? Tea Party? Blättern wir weiter über die kontrafaktischen fünf Seiten hinweg, in denen ausgewählte junge Leute über ihren Glauben und ihr Verhältnis zur Kirche erzählen und wo wir so aufregende Dinge erfahren, wie dass die Evangelien nicht von Gott, sondern von Menschen aufgeschrieben wurden. Oder auch, dass „die Bibel Gottes Wort ist, Jesus für uns gestorben ist“. Das alles sind repräsentative Aussagen heutiger Jugendlicher. Selten so gelacht. Kommen wir von der Propaganda zurück zur Werbung. Auf Seite 10 verführt mich „Lebkuchen Schmidt“ aus Nürnberg dazu, ein Begrüßungspäckchen zum Vorteilspreis und gleich mitbestellen! eine Festtags-Dose 2018 abzustauben. Als Bonus gibt es „unseren Lebkuchen des Jahres“. Hoffentlich nicht. Auch das erscheint mir für den Protestantismus nach dem Reformationsjubiläum sinnvoll und zielgruppengerecht. Hätte aber auch in meinem Anzeigenblättchen stehen können. Es folgen einige Seiten zur interreligiösen Toleranz alles brav, kaum verstörend, Mittelschicht unter sich. Abgeschlossen wird das auf Seite 13 mit der halbseitigen Einladung zur „Malerischen Donauromanze“ eine „Einmalige (sic!) Flusskreuzfahrt zum Sonderpreis für Sie als chrismon-spezial-Leser“. Einmalig ist gut, denn direkt darunter steht: viele Abfahrten von April bis August 2019. Und dann kommt’s wirklich lügendick: Was bekommen die chrismon-spezial-Leser exklusiv? Eine deutschlandweite Haustürabholung: Bequem ab/bis zu Hause! Wow! Rentnertransfer! Und das nur für 949 € pro Person in der 2-Bett-Außen-Kabine auf dem Achterdeck. Aber wie gesagt: lügendick. Denn die Haustürabholung bekommt jeder, der diese Fahrt bucht und die Sonderpreise sind keine einmaligen, sondern Standard. Wer auf der Webseite der Firma das Angebot aufruft, zahlt übrigens 100 Euro weniger. Diese Differenz ist vermutlich die Reformationszulage. Blättern wir weiter über Iris Berben und Martin Schulz hinweg, stoßen wir auf Seite 19 auf das ganzseitige Angebot von TOURVITAL (ach, was für ein zielgruppengerechter Firmenname), die „Reisen für die schönste Zeit des Lebens“ verticken. Auch hier gibt es Sonderpreise (Sparen Sie bis zu 1264 Euro p.P.) und angeboten werden Kreuzfahrten nach Norwegen, nach Kanada oder auf die Bahamas. Und alles ist inklusive. Buchbar sind die Traumreisen mit Mein Schiff unter dem Kürzel chrismon. Ach, wenn Paulus das nur gewusst hätte. Wäre ja sicherer und bequemer gewesen. Und weiter geht’s über einige Seiten, die einem irgendwie aus DB mobil vertraut vorkommen, und zur Seite 23 führen. Sie ahnen schon: wieder eine ganzseitige Reiseanzeige. Dieses Mal eine 11-tägige Rundreise nach Georgien/Armenien mit MARIS-REISEN. Und hier gibt es sogar einen protestantischen Clou: Mittagessen bei einer einheimischen Familie. Da kommt einem sofort (nein, nicht das Essen hoch, sondern) Martin Luther in den Sinn. Nur Tischreden werden nicht versprochen. Schade eigentlich. Kommen wir nun zu den letzten drei Seiten des Heftes von chrismon spezial. Sie bestehen komplett aus Werbung. Nein, werden vielleicht einige sagen, die das Heft schon durchgeblättert haben, die drittletzte Seite berichtet doch von Kirchen als Kraftorten und stellt die Stiftung KiBa vor. Das stimmt, aber das Ganze ist eine Werbeanzeige, wie unschwer aus dem eingeblendeten Wort rechts oben auf der Seite kenntlich wird. Und dieses Wort musste eingeblendet werden, weil hier redaktioneller Inhalt und Beworbenes nicht mehr unterscheidbar sind. Ja, das nenne ich reformatorischen Aufbruch und Neuanfang. So stelle ich mir den Protestantismus der nächsten 100 Jahre vor. Alle Welt lebt in Megacitys und das ganze Dorf trifft sich in der Dorfkirche von Solpke in der Altmark. Richtig zum Wohlfühlen und Abheben. Apropos Wohlfühlen: Bei der folgenden, vorletzten Anzeige bin ich mir über ein Detail im Unklaren. Was bedeutet eigentlich das Wort Kultwein? Ist das einfach nur ein kultiger Wein oder ist das wirklich ein Wein für den Kult? Da ist die Werbung von HAWESKO etwas uneindeutig. Darf ich jetzt tatsächlich darauf hoffen, dass alle Pfarrerinnen und Pfarrer, die chrismon spezial zur Reformation gelesen haben, zugreifen und ich künftig beim Abendmahl einen 2017er Gran Sasso Sangiovese in Zwiesel Qualitäts-Kristallgläsern eingeschenkt bekomme? Ist das unser neuer evangelischer Kultwein? Immerhin „ein reinrassiger Sangiovese aus der ursprünglichen Gebirgsregion Abruzzen. Sein Duft nach Kirschen und Frühlingsblüten ist sortentypisch. Am Gaumen überraschen die durch sechs Monate Barrique geschmeidig gewordenen Tannine und der harmonische Schluss.“ Na gut, das passt doch nicht so recht zum Abendmahl. Aber vielleicht zur geschmeidig gewordenen EKD, denn er verspricht wie diese, dass „wir in den nächsten Jahren noch viel Gutes hören werden“. Dann kommt die letzte Seite von chrismon special, die noch einmal die Programmatik dieser Zeitschrift, ihrer Betreiber, ihrer Klientel und des Zeitgeistes betont.
Und was alles inklusive ist: Flug, Übernachtung, Frühstücksbuffet, klimatisierter Reisebus und natürlich besonders an der Zielgruppe orientiert: 24 Stunden ärztliche Rufbereitschaft. Gut: auch ein bisschen Kaffeefahrtatmosphäre: „Kunsthandwerk in traditioneller Teppichgalerie Handwerkstradition in Schmuck- und Lederatelier Miniaturenpark.“ Da sollte man unter „Lesen und Reisen“ gleich zuschlagen. Lesen und Reisen scheint ja das Motto beider betrachteten Elaborate zu sein: egal ob Anzeigenblättchen oder chrismon spezial, im Vordergrund stehen die großformatigen Werbeanzeigen fürs Reisen. Und Lesen kann man den Rest ja auch noch. Wie sagte der Chef vom Springer-Verlag einmal über die Aufgabe des Journalismus von heute?
chrismon zeigt, wie dieses Kerngeschäft auch im Blick auf den Protestantismus funktioniert. Denn chrismon versteht sich selbst so:
Bedenkt man, dass chrismon Jahr für Jahr von der EKD mit 4 Millionen Euro bezuschusst und von der Synodenpräses Irmgard Schwaetzer, der Präses der Evangelischen Landeskirche von Westfalen Annette Kurschuss und dem EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm herausgegeben wird, dann stößt man vor zum Markenkern des Protestantismus: der Werbung (für die Kirche, aber auch für schöne Reisen und gute Weine). Man könnte auch sagen: Das ist Kulturprotestantismus - pur. Und deshalb möchte ich stellvertretend für die gesamte Redaktion und Herausgeberschaft auch einmal so richtig Werbung machen. Wenn Ihnen das Magazin für Kunst, Kultur, Theologie und Ästhetik in seiner Spritzigkeit und Bissigkeit, seinen intensivem Aromen nach reifen, roten Früchten und süßen Gewürzen, seiner starken Persönlichkeit und seiner doch auch harmonischen Struktur und seinem hoffentlich langem Nachhall gefällt, dann schicken Sie der Redaktion doch eine „Message in a bottle“ [bitte an: Magazin für Theologie und Ästhetik. Erftstr. 19. 58097 Hagen]. „Message in a bottle“ |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/116/am645.htm |