Erzählgemeinschaften

Eine Buchvorstellung

Hans-Jürgen Benedict

Michael Kleeberg, Der Idiot des 21. Jahrhunderts. Ein Divan, 458 S., Berlin 2018

Wie kann man die aufgeregte Diskussion um die Einwanderung der Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten, aus Afghanistan und Afrika in eine romanhafte Erzählung bringen? Oder anders gefragt: Wie kann in Zeiten politischer Turbulenz mit dem Erstarken des Rechtspopulismus die Begegnung zwischen Orient und Okzident poetisch und Mut machend human umschrieben werden? Nun, es gibt einen gut 200 Jahre alten Versuch dazu, den West-Östlichen Divan Goethes, der mit den Versen beginnt: „Nord und West und Süd zersplittern / Throne bersten / Reiche zittern / Flüchte du, im reinen Osten / Patriarchenluft zu kosten.“ Goethe greift auf den persischen Dichter Hafis zurück und schreibt seine Verse neu, Liebesgedichte vor allem, aber auch viel Religiöses und Weisheitliches. Indem er aufbricht, in den Osten flieht (Hegire wie Mohammeds berühmte Flucht von Mekka nach Medina heißt, genannt). An Goethes poetischem Aufbruch in den Osten orientiert sich Michael Kleeberg in seinem Divan genannten Romanprojekt Der Idiot des 21.Jahrhunderts das erzählerisch ausschweifend die Begegnung von Ost und West in der Gegenwart der sog. Flüchtlingskrise schildert. Idiot meint hier im ursprünglichen Sinn die Privatperson. Von Goethes Divan übernimmt Kleeberg die Kapitelüberschriften, Buch des Sängers, Buch des Schenkens, Buch der drei Lieben usw., Goethe-Zitate tauchen immer wieder auf, desgleichen natürlich Hafis-Anspielungen und Nezamis berühmte Liebesgeschichte von Leilah und Madschnun. Der Ort, an dem erzählt wird, ist Mühlheim, ein Ort bei Frankfurt, wo sich in einer Art alternativer Gemeinschaft ein Kreis von Freunden trifft und Lebensgeschichten austauscht. Zum Teil sind es die eigenen Lebensgeschichten, zum Teil Geschichten, die sie gehört haben. Geschichten, die von Liebe, Flucht, Gewalt und den Fügungen des Schicksals handeln. Dazwischen gibt es essayistische und historische Exkurse, zum Beispiel über die archaische syrische Götterwelt mit ihren blutigen Opferanfängen, ein Blog von jungen Frauen, die in den Dschihad des IS gezogen sind, fünf bewegende Grabsteine für die Opfer der Terroranschläge, darunter Charlie Hebdo, eine Geheimdienstgeschichte, ein Gespräch zwischen einem syrischen Flüchtling der Gegenwart und einem deutschen Auswanderer der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ua. Das wirkt abwechslungsreich, informiert und gelehrt, ist aber doch oft zufällig und gewollt. Kleeberg hat viel zu erzählen, aber es gelingt ihm nicht so richtig, sein Wissen erzählerisch zu transformieren und der Romanhandlung einzugliedern, wie das etwa Thomas Mann mit seinen theologischen Kapiteln in Joseph und seine Brüder vorgeführt hat. Manches ist auch grenzwertig, etwa wenn ein aus Syrien vertriebener Christ, der als Hausmeister an einer Schule arbeitet, seine Befürchtung à la Sarrazin kundgibt, in einem halben Jahrhundert werde es in Europa eine muslimische Mehrheit geben.

Drei Paare stehen im Zentrum dieses nicht linear erzählten Romans und ihre Schicksale nehmen den Leser dann doch gefangen. Besonders die Geschichte von der iranischen Musikerin Maryam, emigriert nach der Revolution von 1979, und dem Deutschen Hermann, der an einer Dissertation über die mystische Spiritualität Hugo Balls arbeitet. Sie verlieben sich ineinander, und als es zu glücken scheint, wird Maryam wegen der Krebserkrankung ihrer Mutter zurück in den Iran gerufen, was zu ihrer Trennung führt. Maryam flieht ein zweites Mal nach Deutschland. Und sie treffen sich erst 20 Jahre später wieder, als Hermann, inzwischen Lehrer, ihrem halbwüchsigen Sohn philosophische Nachhilfe gibt. Das mit Goethes gleichnamigen großem Gedicht umschriebene „Wiedersehen“, „und ein zweites Wort Es werde trennt uns nicht zum zweiten mal“, gehört zu den beglückenden Momenten dieses Divans. Das zweite Paar, der aus dem Libanon stammende Pfarrer und Dichter Younes und seine Frau Karoline, die Orientalistin, die sich gefunden haben und die ein gütiges Schicksal nach dem Libanonkrieg in das Dorf verschlägt, wo Younes Wortopern komponiert und viele Dorfbewohner an ihrer Aufführung zu beteiligen weiß. Schließlich noch Ulla und Bernhard, beide sozial engagiert und in der Jugendarbeit tätig, mit ihrem geselligen Haus als Treffpunkt der Freunde. Der Roman endet mit den Erzählungen der Frauen, „erst wenn die Frauen aufbrechen, kommt die Menschlichkeit ins Exil“ heißt es ein wenig übertrieben. Martha, eine alte Dame, erzählt von der Deportation einer Jüdin aus Mühlheim, der Oma ihres Spielkameraden Erwin im Jahr 1939. Ulla von einem Fluchttunnel an der deutsch-deutschen Grenze, den ihr Onkel buddelte. Die Männer kommen dazu, ein syrischer Flüchtling mit seiner Tochter, Meriam die mit den Dorfjungens Fußball spielt und Manga-Geschichten erfindet, auch eine Fluchtgeschichte mit Hudhud, dem Wiedehopf und zwei Dschinnen, die ihr helfen, sodass sie ihr Schiff an den gefährlichen Inseln von Gog und Magog vorbeisteuern kann. Ganz zum Schluss wird die utopische Geschichte von drei Prinzessinnen von Serendip erzählt, die eine App erfinden, mit der ihre Nutzer einen Verschwundenen finden oder ihm wenigstens nachtrauern können. Im Mondlicht geht man nach Hause, in einer „überseligen Nacht“ (noch mal ein verstecktes Goethe-Zitat). Kleeberg umreißt in seinem Diwan eine Utopie des Fliehens, Ankommens, Sich-Trennens und Sich-Findens. Er wirbt für die mystische Dimension der monotheistischen Religionen und verurteilt ihre Funktionalisierung für Gewalt. Doch insgesamt packt er zu viel in seinen Roman, weniger wäre mehr gewesen. Wenn man den Roman wie ich gelesen hat während der Tage der rechtsextremen Demos in Chemnitz, weiß man, wieviel noch zu tun ist, um auch nur einige dieser verhetzten Menschen in diese humane west-östliche Erzähl- und Lebensgemeinschaft hinein zu holen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/116/hjb60.htm
© Hans-Jürgen Benedict, 2018