Religiöse Missverständnisse

Eine Rezension

Wolfgang Vögele

Stephan Thome, Gott der Barbaren, Berlin 2018

Zu viel Werbung macht ja auch verdächtig, und gerade der Roman dieses Schriftstellers war für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 nominiert. Aber dann gab doch das Thema christlicher Missionsgeschichte in China den Ausschlag. Der Roman versprach, theologisch interessant zu sein. Stephan Thome, der Schriftsteller und Sinologe ist, beschäftigt sich mit dem China des 19. Jahrhunderts, das zwischen kaiserlicher Dynastie, einem korrupten Hofstaat, einer aufständischen christlichen Sekte und den Opiumkrieg führenden Engländern zerrissen wird.

Aufgebaut ist der Roman in Form einer Collage. Thome erzählt ganz verschiedene Geschichten aus chinesischer, englischer, europäischer Perspektive, am wichtigsten diejenige von Philipp Johann Neukamp, genannt Fei Lipu, dem christlichen Missionar, der nach der Revolution von 1848 aus Deutschland fliehen musste, dann von Lord Elgin, dem Chef-Diplomaten der Engländer, und von dem chinesischen General Zeng Guofan, der eigentlich ein Intellektueller ist und nur durch Zufall, das heißt auf Befehl des Kaisers, zum Militär kommt, um die aufständischen christlichen Rebellen, die zeitweise ein Drittel des Landes besetzt halten, zu besiegen.

Der General, der unter einer Schuppenflechte am Rücken leidet, orientiert sein Denken und Handeln an einem konservativen chinesischen Philosophen, dessen Schriften er herausgeben möchte, wenn endlich die ungeliebten militärischen Aufgaben hinter ihm liegen. Er sucht den Rat eines hohen kaiserlichen Funktionärs im Ruhestand, eines alten Freundes. Umgekehrt erteilt er Rat: Er fühlt sich zum pädagogischen Berater seines Bruders berufen, der ebenfalls zum General ernannt worden ist. Und er berät einen Schüler, seinen Adjutanten, der sich zu Anfang eher von Kühnheit und Übermut leiten lässt. Später wird dieser Adjutant zum Konkurrenten, weil er durch Gespräche und Verhandlungen mit den Engländern den Chinesen in ihrem Kampf gegen die Rebellen zu Erfolgen verhilft.

Die chinesische Seite ist dadurch bestimmt, dass der Hof, der Kaiser, Konkubinen, Prinzen und ein Heer weiterer Höflinge völlig isoliert von alltäglicher Wirklichkeit leben. Trotzdem bestimmt die feudale Hierarchie durch eine Überfülle von Macht und noch mehr durch drakonische Strafen politische und militärische Entscheidungen. So entsteht eine ausgeklügelte Deutungskultur: Militärs und Provinzbeamten sind von der Willkür des Hofes abhängig, und deswegen üben sich alle darin, die kleinsten Botschaften und Signale der obersten kaiserlichen Autorität zu deuten.

Die christlich beeinflussten Rebellen erlangen deshalb berechtigte große Erfolge, weil sie das verkrustete, hierarchische System von Autorität und Gehorsam aufbrechen. Das wird zunächst als Befreiung erlebt. Auf der anderen Seite steht eine merkwürdige Ideologie mit religiösen Zügen, die sich aus einer missverstandenen und offensichtlich fehlerhaften chinesischen Übersetzung der Bibel ableiten. Der Anführer der Rebellen versteht sich in Analogie zu Jesus als „Sohn“ Gottes und schöpft daraus seine (interne) Macht. Die Rebellen sind daran zu erkennen, dass sich die Männer die Stirn nicht mehr rasieren wie es bei den kaiserlichen Chinesen üblich ist.

Der deutschstämmige Missionar Neukamp schlägt sich von Hongkong aus zu den Rebellen durch, er verletzt sich bei einem Kampf auf einem Fluss eine Hand, die später amputiert werden muss. Als er die Rebellenhauptstadt erreicht hat, wird er in den Hofstaat eingegliedert. Er muss jeden Morgen die Träume der letzten Nacht erzählen, die dann vom „König“ gedeutet werden. Als die Rebellen vor der Niederlage stehen, gelingt Fei Lipu gerade so eben die Flucht, wenn auch um den Preis, dass er einen seiner ehemaligen Gefährten ermorden muss. Er verlässt China und baut sich in den Vereinigten Staaten, die selbst einen Bürgerkrieg hinter sich gebracht haben, eine neue Existenz auf. Eine chinesische Freundin hat er mitgenommen über den Pazifik.

Der englische Lord Elgin gibt sich ähnlich reflektiert wie der chinesische General Zeng Guofan, was vor allem bedeutet, dass er Distanz gewinnt zu denjenigen, die ihn beauftragt haben: zur britischen Regierung, zum Parlament, aber auch zur Presse, die diese diplomatisch-militärische Mission begleitet. Elgin leidet unter dem Klima und sehnt sich nach seiner nasskalten englischen Heimat, nach seiner Frau und den kleinen Kindern zurück. Sein Sekretär Maddox spricht chinesisch und weiß darum besser als alle anderen Engländer über die chinesische Mentalität Bescheid. Maddox hat allerdings das Pech, von den Chinesen als Geisel genommen zu werden. Er kommt wegen der unzumutbaren Haftbedingungen ums Leben.

Das ist überhaupt ein Merkmal von Thomes Roman: Er schreckt vor der Darstellung von Gewalt und Brutalität nicht zurück, teilweise bis an die Grenzen des Erträglichen. Elgin weiß, was sein Auftraggeber, der Premierminister von ihm erwartet. Er seufzt, weil die Erwartungen in London eher auf Rache als auf Diplomatie und Kooperation zielen. Elgins Phantasien und Gedankenspiele kreisen darum, den Chinesen entgegenzukommen, um nach dem Ende des bewaffneten Konflikts eine neue, ökonomisch sinnvolle Kooperation auf den Weg zu bringen. Zugleich damit verliert er sich in Tagträumen, Visionen, Rauschzuständen. Und er verliert sich ebenso in erotischen Phantasien über die verkrüppelten Füße traditionell lebender Chinesinnen. Letzteres haben die rebellierenden Chinesen verboten, denn eine Frau, deren Füße von Jugend an abgeschnürt wurden, kann kaum stehen, geschweige denn laufen.

Die Missionare in Hongkong versuchen, die Engländer zur Unterstützung der Rebellen zu bewegen, weil sie die ‚heidnische‘ Religion des kaiserlichen Hofstaats beseitigen wollen. Sie sehen in diesem chinesischen, aber missverstandenen Christentum einen potentiellen Bündnispartner. Das ist ein weiteres Charakteristikum des Buches: Religion ist allgegenwärtig und erzeugt dauerhaft interkulturelle Missverständnisse. Die Chinesen begreifen die Engländer nicht und umgekehrt. Beide verachten sich gegenseitig als Barbaren. Und beiden bezeichnen die Götter der jeweils anderen als barbarisch. Thome gelingt es, die kulturellen und religiösen Voraussetzungen dieser Missverständnisse herauszuarbeiten. Deswegen bleibt bewusst offen, wer denn nun – so der Titel des Buches – der „Gott der Barbaren“ ist.

Manchmal hat der Leser Mühe, den Wegen des Romanpersonals zu folgen und dabei mit den vielen Zeitsprüngen zurechtzukommen. Vielleicht wäre es besser gewesen, sich noch mehr auf die drei Protagonisten zu konzentrieren. Der chinesische General versteht nichts von der europäischen Kultur und der christlichen Religion. Der deutsche Missionar gibt sich Mühe, Mandarin zu lernen, aber er scheitert an den vielen regionalen Dialekten. Der englische Lord denkt ausschließlich strategisch, aber immerhin würde er eine diplomatische einer militärischen Lösung vorziehen. Er zerstört einen kaiserlichen Palast samt Park, um den chinesischen Hof für seine Zögerlichkeit abzustrafen. Die Chinesen reden alle Niederlagen schön, meint er. Der General wiederum denkt nur militärisch, die Diplomaten diplomatisch, die Journalisten haben nur ihre Leser in der Heimat im Sinn, sowie der Missionar ständig seinem Superintendenten im europäischen Ursprungsland brieflich Bericht erstattet. Der Abenteurer schließlich denkt nur an das schnelle Geld, ansonsten will er nur überleben. Alle leben in den kulturellen Blasen ihrer Lebenswelt, mit denen sie aufgewachsen sind. Die wenigsten bemühen sich, die fremde Sprache zu erlernen und so mit den anderen zu kommunizieren, dass die Konturen der anderen Kultur sichtbar werden.

Auf zwei Beispiele kultureller Missverständnisse will ich kurz eingehen. Das erste betrifft den Unterschied zwischen Militär und Philosophie, das zweite den Unterschied zwischen christlicher und chinesischer Religion.

Zeng Guofan, der chinesische General fühlt sich ebenso sehr als Philosoph und Pädagoge wie als Militär. Thome legt diesem General, einer historischen Figur, Worte in den Mund, mit denen er sich in einem Brief an seinen Sohn wandte. Er denkt nach über Lesen, Schreiben, über das Malen mit dem Tuschepinsel. Wenn das Herz voll ist von Gedanken, Emotionen und Grübeleien, schreibt er, dann kann ein Mensch seine Wahrnehmungen nicht auf die objektive Wirklichkeit richten. Er muss stattdessen abwarten, bis sich sein Herz geleert hat. Dann erst kann er wieder Neues aufnehmen: „Was die Lektüre betrifft, möchte ich Dich noch einmal an Zhu Xis Ausspruch erinnern: Xu xin han yong, das leere Herz wird eingeweicht und schwimmt. Darin liegt die Essenz seiner Anleitung zum Lesen. (…) Einen Text verstehen heißt, sich von seinem Sinn tränken zu lassen, so wie ein trockenes Feld vom Regen getränkt wird.“ (276)[1] Diesen auf einen weisheitlichen Ton gestimmten Brief schreibt der General in seiner wenigen freien Zeit. Der Leser weiß, dass derselbe Philosoph als General seinen Soldaten eine Reihe von Grausamkeiten im Kampf befohlen hat und dass ihm das Menschenleben eines Soldaten oder eines Feindes sehr wenig bedeutet.

Das zweite Beispiel betrifft die Art und Weise, wie sich chinesische Leser das Christentum und die Bibel aneignen. Der Anführer der Rebellen, der „himmlische König Hong Xiuquan“ (162) schreibt an die „Barbaren-Brüder des westlichen Ozeans“ (164) und stellt eine Reihe von Fragen zu Bibel und Christentum, obwohl er selbst seine Weltanschauung als christlich bezeichnen würde: „1. Wie groß ist Gott? 2. Trägt er einen Bart? Wenn ja, welche Farbe hat er und wie lang ist er? 3. Kommt es vor, dass Gott weint? (…) 6. Ist Gott in der Lage, Gedichte zu schreiben, und wie lange braucht er dafür?“ (164). Genau solche Stellen machen das Faszinosum von Thomes Buch aus. Solche Fragen ergeben sich für einen chinesischen Rebellen, der offensichtlich mit großer Konzentration in der Bibel gelesen hat. Und diese Mischung aus Faszination und Missverständnis ergibt sich, ob die Chinesen versuchen, die Bibel zu lesen, oder ob die Engländer chinesische Philosophen studieren. Thomes Buch ist voll von solchen Missverständnissen.

Thome beschreibt eine widersprüchliche, chaotische, grausame, brutale Welt mit Millionen von Toten. Am Ende seiner Collage hat Thome einen Zeitungsbericht eingesetzt, nach der die heutige chinesische Regierung immer noch religiösen Sekten verfolgt, weil man auf Seiten des offiziellen China Angst vor Aufständen und Rebellionen wie denjenigen in der Mitte des 19.Jahrhunderts hat, der mehrere Millionen Menschen das Leben kostete.

Man hat Thomes Roman deshalb gelobt, weil die historische Darstellung interkultureller und interreligiöser Missverständnisse auch einen Beitrag zum Verständnis heutiger interreligiöser Konflikte liefere. Gleichzeitig ist sein Roman eine philosophische Meditation über die Grenzen des Verstehens von anderen. Verständigung, Friedensschluss, Versöhnung sind nichts als kleine Inseln in einem Meer von Missverständnissen.



[1]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf das im Untertitel genannte Buch.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/116/wv048.htm
© Wolfgang Vögele, 2018