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Verletzte SeeleEin Musikstück samt VideoAndreas Mertin Der LiedtextDie ukrainische Sängerin Akine soll nach eigenem Bekunden 13 Jahre alt gewesen sein, als sie den Text zu Pray for the prey schrieb (so richtig glaube ich das allerdings nicht), der nun als Debut-Song auf ihrer ersten CD erscheint. Im Internet findet man dazu folgende Informationen:
Nun sollte man mit Aussagen einer 13-Jährigen, die unversehens in einen Bürgerkrieg gerät, zurückhaltend umgehen. Aber veröffentlicht wurde der Song von einer 17-Jährigen, die zwischenzeitlich in Frankreich gelebt hat und nun mit ihrer Familie nach Kiew zurückgekehrt ist. Und die darf durchaus auf die argumentative Konsistenz ihrer Liedtexte hin befragt werden. Man muss nicht alles publizieren, was man mal mit 13 geschrieben hat.
Nun hängt es vom subjektiven Kontext ab, was man in konflikthaften Situationen wahrnimmt, aber mir war zunächst einmal gar nicht erinnerlich, dass die orthodoxe Religion im Ukraine-Konflikt eine so zentrale Rolle gespielt hat. Wenn ich dem CIA-Factbook folge, dann bezeichnen sich die Ukrainer mehrheitlich zwar als christlich-orthodox, aber immerhin 63% verweigern eine konfessionelle Zuordnung. Das spricht eher gegen eine religiöse Überladung des Konflikts. Das Lied, das Akine uns vorträgt, handelt zumindest auf den ersten Blick zunächst einmal ganz allgemein von Gott. Genauer, es beginnt mit einem vehementen Bekenntnis zum Atheismus:
Damit ist endgültig klar, dass wir uns weder im jüdischen, noch im buddhistischen, hinduistischen, taoistischen oder sonst einem Kosmos befinden, sondern explizit in dem der christlichen Religion. Gott, Engel und Jünger benennen einen ganz spezifischen Kontext. Und hier dürfte man wohl an die orthodoxe Kirche denken. Und an deren Gott, an dessen Engel und Jünger glaubt die Protagonistin des Liedtextes nicht (mehr). Und für die abweisende Haltung nennt sie Gründe:
Die Zeilen drei und vier sind eine nette Klimax, vom Fremden zum Kriminellen, vom Vater zum Führer. Das ist in einer postsowjetischen Gesellschaft plausibel, in der noch immer die Rede vom Väterchen Stalin umgeht. Die folgenden Zeilen machen aber nur Sinn, wenn es Gott gibt. Insofern steht Zeile eins des Liedes im performativen Widerspruch zu Zeile drei und vier. Wenn man an Gott nicht glaubt (weil es ihn nicht gibt), dann ist auch die Anklage, er mache das Schmutzige schmutziger und fege das Reine hinweg, gegenstandslos. Wenn es aber kein Atheismus ist, sondern nur eine Ablehnung eines bestimmten Gottesbildes, weil die, die in der Ukraine sich auf ihn berufen, das Schmutzige schmutziger machen und das Reine hinwegfegen, dann ist es eine Kritik der Institution und ihrer Vertreter. Es könnte daher sein, dass diese beiden Zeilen sich bereits auf die Beichte beziehen, die in der Orthodoxie wie im Katholizismus ein Sakrament darstellt.
Diese Zeilen machen ja dann Sinn, wenn sie sich auf eine konkrete Beichte beziehen. Ist die Zeile sieben noch allgemeiner Natur (erhebe dein Gebet zu Gott), so sind die Zeilen acht und zehn eher Spiegelungen eines Beichtgesprächs. Zeile neun wirkt dagegen wie ein Zwischenruf, ein erwachendes bewusstes Sein, dem in Zeile acht mit massiver Repression begegnet wird. Denn wer beichtet, wird mit dem Inhalt des Beichtgesprächs unter Druck gesetzt. Es folgt der Refrain:
Das wiederholte Gebet ist Zeichen einer Orientierungslosigkeit, Herzschlag einer im Grunde genommen dummen Maskerade. Dies kann sich nur auf die Vertreter der orthodoxen Kirche beziehen, es ist der alte Vorwurf des klerikalen Mummenschanzes. Zeile zwölf könnte sich durchaus auf die Konflikte innerhalb der ukrainischen Orthodoxie beziehen, auf die Frage, wessen Autorität gültig ist. Sicher ist das aber nicht, es könnte sich auch auf Gott beziehen. Jedenfalls verursacht diese Orientierungslosigkeit Schäden, wie aus den folgenden Zeilen deutlich wird.
Das ist irgendwie eine invertierte Hiobsituation. Die Protagonistin ist eine enttäuschte Assekuranz-Gläubige. Auch Hiob war ja nach der Rahmenerzählung eine Art Assekuranz-Gläubiger, aber kein enttäuschter. Denn er bleibt ja trotz der diversen Krisensituationen bei Gott und hadert mit ihm und nimmt ihn damit ernst. Die Protagonistin des Liedtextes erhofft sich jedoch von Gott Segen und Auszeichnung und empfindet einen Schaden, wenn Gott nicht liefert. Es ist die geradezu notwendige Enttäuschung einer klassischen Wohlfühltheologie.
All der von der Protagonistin erfahrene Hass ist von Menschen gemacht, aber mit antiker Farbe gestaltet so kann man es natürlich schön lyrisch sagen, aber das Lied setzt den Fokus dann doch zu sehr auf die Religion und zu wenig auf jene Menschen, die die Religion missbrauchen oder meinetwegen auch gebrauchen. Denn wenn die letzten beiden Zeilen stimmen, sollte man den Glauben an die Menschen verlieren und nicht an Gott. Auf diese Weise erreicht das Lied nicht einmal die Ebene der Marxschen Religionskritik in der Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie:
Es bleibt bei der Religion als Opium für das Volk, in der Variante, die Lenin kolportiert hat:
Nun glaube ich nicht, dass die Religion im europäischen Kontext heute noch eine derartige Bedeutung besitzt. In der globalisierten Welt laufen die Regeln anders. Für die politischen Akteure mag die Koalition mit der jeweils herrschenden Religion (vor allem bei der ja eher staatsorientierten Orthodoxie) noch ein Aperçu sein, essentiell ist es aber nicht. Die Religionskritik des Jahres 2018 kommt 100 oder gar 200 Jahre zu spät. Vor allem lenkt sie ab von den wahren Interessen und Verantwortlichkeiten. Da ist Pussy Riot auch da, wo sie die Kirche kritisierten, unmittelbarer auf die Politik und die regierende Klasse bezogen. Der LiedtitelDer Titel des Liedes von Akine ist deshalb einer näheren Betrachtung wert, weil er eigenständige Aussage darstellt und nicht im Liedtext selber vorkommt. „Pray for the prey“ ist ja nicht zufällig gewählt, sondern deshalb, weil es mehrsinnig ist, denn der Sinn hängt davon ab, wie „prey“ gedeutet bzw. ins Deutsche übersetzt wird. In einer Lesart ist es beinahe schon ein Oxymoron jedenfalls in theologischer Perspektive. Nämlich dann, wenn Prey mit Beute übersetzt wird. „Bete für die Beute“ ist die Standardübersetzung, die auch Google vorschlägt. Auch in dieser Übersetzung ist der Text noch mehrdeutig. Denn wer oder was ist die Beute? Meint es Bete um Beute oder Bete für die Beute der Kleriker? Deutlicher wird das in der anderen Lesart, wenn „Prey“ mit „Opfer“ übersetzt wird. „Bete für die Opfer“ ergibt schnell einen anderen Sinn. Im Liedtext kommt „prey“ nicht vor, jedenfalls nicht in den offiziellen Angaben zu den Lyrics. Da „pray“ und prey“ aber gleich klingt, könnte es aber durchaus sein (und muss zumindest für den Hörer mitgedacht werden), dass Akine in Zeile 11 singt:
Dann wäre das Lied wirklich geradezu explosiv. „Und wir beten und wir jagen/erbeuten und wir beten“ das ist immer noch die große Herausforderung der christlichen Kultur nach 2000 Jahren, ihre ethische Folgenlosigkeit. Alles es hängt von einem Buchstaben ab. Das MusikvideoKommen wir nun zur visuellen Gestaltung des Musikstückes im dazu publizierten Musikvideo. Nun kann man ja auch in diesem Genre die Low Budget Produktionen schätzen, aber man sollte das Dilettantische auch nicht übertreiben. Dieses Video jedenfalls wuchert mit der An-Ästhetik und möchte dem Betrachter unbedingt einsichtig machen, dass man sich keine große Mühe mit der Produktion gemacht hat. Die flimmernden Filmchen mit den Aufzeichnungsfehlern sind ja noch gerade so erträglich, aber dass selbst simple Filmmontagen widersinnig durchgeführt werden, ist kaum verzeihlich. Klar, der Weltraum ist beeindruckend, aber dann sollte man die Gestirne in der Bildschicht auch hinter die Bäume legen und nicht davor. [Und nein: Schneeflocken sind das nicht, sie bewegen sich nach oben.] Und diese merkwürdigen Spiegelungen der Bildhälften durch das gesamte Video hindurch wirken wie Elaborate aus einem Anfänger-Videokurs einer Mittelschule. Der Clip beginnt mit einem Blick aufs Titelmotiv des Plattencovers, dann kommen verstreute Hobby-Film-Sequenzen aus einer orthodoxen Kirche: Kerzen, invertierte Ikonen bzw. Fresken, eine junge Frau vor der Altarwand beim Gebet, die Kamera schwenkt in die Kirchenkuppel und das Kuppelbild wird überblendet mit einem Foto eines Weltraumteleskops, das unsere Milchstraße zeigt. Und das Ganze wiederholt sich im Verlauf des Videos ein paar Mal und mit Vorliebe in invertierten Bildern.
Aber all diese Bilder werden nicht zu Argumenten, sie sind flimmerndes Beiwerk, irgendwie hilflose Versuche, Liedtext und Musik mit irgendetwas Visuellem zu unterfüttern. Was aber nicht gelingt, weil der Status und die Bedeutung von Bildern nicht begriffen wird. Das ist schade, denn der Stand der Musikvideo-Industrie ist doch schon so viel weiter. Und wenn man gegen die ausgefeilte Technik der Musikvideo-Industrie Gegenbilder erzeugen will, dann kann das nicht heißen, wir machen gar nichts und schustern nur ein paar Bilderchen zusammen, sondern dann muss man auch das Einfache sorgfältig inszenieren. Es gibt nun auf der anderen Seite auch keinerlei Anlass, sich zurückzulehnen, nur weil diese Form der hingerotzten Religionskritik so billig und oberflächlich ist. Die Not, also die verletzte Seele der Jugendlichen, die an den stimmigen Kosmos der Welt und seiner religiösen Grundierung geglaubt hat und nun von der Wirklichkeit überholt und erschüttert wurde, muss man ja ernst nehmen, denn sie ist ein konstitutiver Teil des Erwachsenwerdens. Schlimmer als die Wendung ins Religionskritische wäre ja eine affirmative Religion, die noch das Elend der Welt als Willen Gottes verklären würde. Im Grunde zielt ja das Lied von Akine auf Propagandisten wie den evangelischen Theologen Helmut Thielicke, der in seinen Buch „Das Leben kann noch einmal beginnen. Ein Gang durch die Bergpredigt“ pathetisch und wieder alle theologische Vernunft deklamiert:
Alle Kritik, die man an der neuerdings wieder grassierenden Religionskritik äußern könnte, hat sich deshalb zunächst als Selbstkritik zu entfalten. Ja, die positivistischen Verklärungen der Gegenwart, die Segnungen der Waffen und das Erflehen der Beute und das Verfluchen des Gegners im Namen der eigenen Religion gehörte einmal und gehört weiterhin zu den Realitäten des Christentums. Heute, im Rückblick meinen wir erkennen zu können, dass dieses Denken voller Hass und mangelnder Empathie sein eigenes politisches Urteil nur religiös einfärbte und übertünchte. Und wir hoffen, dass dies nicht den Kern des Christentums betrifft. Und das Lied von Akine macht deutlich, dass das, was der liberale Theologe Peter L. Berger für einen zentralen Kern der Religion in der Kindheit hält, die beruhigende Geste …
… nur wenige Jahre später nicht mehr funktioniert, sondern notwendig zutiefst erschüttert wird. Wer in dieser Erschütterung verharrt, wird den Sinn von Religion nie mehr verstehen können. Er bleibt beim religiös-ikonoklastischen Akt, ohne freilich auf eine Alternative verweisen zu können. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/117/am652.htm |