Tagebücher |
||
ZeichenhandlungenGedanken zu einem Kunstprojekt von Ruppe KoselleckAndreas Mertin Zeichenhandlungen in der BibelDie Sozial- und Kultkritik der biblischen Propheten äußert sich zunächst, aber nicht nur in Visionen und Auditionen. Die Bibel ist voll davon. Aber neben den Visionen und Auditionen gibt es auch, und oftmals besonders beeindruckend, Zeichenhandlungen. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet gibt als bündige Zusammenfassung Folgendes an:
Exemplarisch sei etwa der Prophet Jesaja (Wirkungszeit etwa 740-701), der ganze drei Jahre lang nackt durch Jerusalem läuft, wie in Jesaja 20,2ff. überliefert wird. Und das tat er nicht, weil er das schick fand (oder weil er Exhibitionist oder FKK-Anhänger war), sondern um im Auftrag Gottes in einer Zeichenhandlung auf das kommende Schicksal der Bevölkerung hinzuweisen.
Die Geschichte dieser konkreten Zeichenhandlung ist so brisant, dass es bis heute Menschen gibt, die sie nicht glauben mögen, schlicht, weil Gott doch niemanden zum Nacktsein auffordere.[2] Verkannt wird dabei, dass es um eine Zeichenhandlung[3] geht, die das kommende elende Schicksal vorwegnehmen soll, und nicht um die provokative Handlung des puren Nacktseins. Das heißt:
Man kann das ja insofern es auf historischen Tatsachen beruht gut imaginieren, wie das ist, wenn ein angesehener religiöser Mensch einem plötzlich nackt vor das Angesicht tritt. Das ist schon etwas meschugge. Gerade das macht es aber so authentisch. Nur wenn man fundamentalistischer Moralist ist, mag man das nicht glauben. Von den Berichten über die Zeichenhandlungen heißt es:
Es gibt besonders schwer nachzuvollziehende Zeichenhandlungen und manche paradoxe Zeichenhandlung.
Das hat ohne Zweifel Parallelen mit manchen Aktionen von Vertretern der modernen Kunst, man könnte an Marina Abramović, aber auch an Corinne Wasmuth denken. Auch das Buch Ezechiel ist gefüllt mit symbolischen und zeichenhaften Handlungen. Insbesondere Ezechiel 4, 1-8 ist ein Konglomerat von künstlerischen Experimenten:
Wirkt die erste beschriebene Zeichenhandlung wie das Verhalten von Kindern im Spielzimmer (Bau Dir eine Burg!), so ist die zweite schon eher auf Körperbeherrschung und symbolische Gestik ausgerichtet. Damit ist die Zeichenhandlung aber noch nicht beendet, denn Gott gibt noch präzise Ernährungshinweise für die Zeit der Aktion, u.a. diese:
Das geht dem Propheten Ezechiel dann doch zu weit, er protestiert gegen diese Zumutung der Aufnahme verunreinigter Speisen und bekommt deshalb von Gott eine gewisse Erleichterung zugesprochen:
Darauf lässt Ezechiel sich dann wohl ein und vollzieht die Zeichenhandlung (berichtet wird davon nicht mehr, nur vom Konzept). Würde ein Künstler etwas Analoges heute öffentlich als symbolischen Akt konzipieren und vorführen, wären manche unserer neuen Rechten und alten Kulturchristen, aber auch die Regenbogenpresse schnell mit der Rede von der entarteten oder aber entstellten Kunst dabei.[9] Zeichenhandlungen in der KunstDerartige explizite „Zeichenhandlungen“ mit prophetischem Selbstbewusstsein findet man in der Bildenden Kunst vermehrt seit Beginn der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Dafür steht als Bewegung die Fluxus-Kunst, namentlich etwa Joseph Beuys, aber auch Wolf Vostell oder Bazon Brock. Am Berühmtesten ist vielleicht die Einschmelzung der Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen durch Joseph Beuys zur Eröffnung der documenta 7 im Jahr 1982.[10] Bereits 1971 hatte Joseph Beuys mit der zweimal aufgeführten Aktion Celtic das Motiv der Zeichenhandlung aufgegriffen.[11] Bei der zweiten Aufführung Celtic+~~~ im April 1971 in einem Luftschutzbunker in Basel stellte Beuys der eigentlichen Performance eine rituelle Fußwaschung voran, die er an sieben Personen vollzog, u.a. an dem Künstler Klaus Staeck. Das ist natürlich nur verständlich, wenn man den Bezug auf die Fußwaschung der Jünger durch Jesus Christus erkennt. Im Interview mit Horst Schwebel deutet Joseph Beuys das so:
Wogegen sich Beuys im Interview wehrt, ist die religiöse Vereinnahmung, die in dem Begriff Zeichenhandlung stecken könnte, und gegen den Gedanken, Zeichenhandlungen seien „nur“ Symbole für Drittes. Diesen Protest kann man gut verstehen. In der Kunst geht es immer um das Kunstwerk, die Kunstaktion selbst, sie ist nicht auch wenn es so scheint bloß Mittel zum (guten) Zweck. Die Transformation, um die es Beuys geht, muss also im Werk selbst kenntlich werden. Die Fußwaschung ist keine Re-Aktualisierung der jesuanischen Fußwaschung, sondern sie nimmt diese als außerästhetisches Material, um eine künstlerische Aussage im 20. Jahrhundert zu formulieren. Beuys holt nicht den jesuanischen Impuls wieder hervor, er wiederholt nicht, sondern er schafft mit dem gegebenen Material Neues. Das ist wichtig und sollte auch im Blick auf die folgenden Überlegungen im Gedächtnis behalten werden. Analoges lässt sich ohne große Schwierigkeiten auch bei zahlreichen Arbeiten von Wolf Vostell, insbesondere aber bei den ästhetischen Impulsen und Interventionen von Bazon Brock zeigen.[13] Nun gibt es derartige, mit Zeichenhandlungen arbeitende Künstler auch in der Kunst der Gegenwart. Einen möchte ich im Folgenden anhand einiger seiner Werke vorstellen. Ruppe Koselleck: Biographische Daten …Der Einfachheit halber beschränke ich mich bei der Biographie auf die Angaben der Wikipedia.
Ehrlich gesagt, bin ich etwas im Zweifel, ob Ruppe Koselleck wirklich passend unter der Kategorie der Konzeptkünstler eingeordnet ist.[15] Ich würde das persönlich nicht so sehen, für mich ist er weit mehr als das. Wäre er ein Konzeptkünstler, dann könnte man sich wie eine Freundin es einmal ironisch sagte die genauere Betrachtung seiner Werke schenken, weil die zur Kenntnisnahme des Konzepts ja im Prinzip ausreichen würde. So ist das aber bei Ruppe Koselleck ganz und gar nicht, wie im Folgenden deutlich werden wird. Sicher, er hat unbestritten ein Konzept für seine Projekte, aber er gestaltet diese so, dass sie in der Art ihrer Performance eine eigene, eine eigenständige und durch und durch individuelle Narrativität entfalten. Das ist bei einem Konzeptkunstwerk sagen wir von Joseph Kosuth anders. Für ihn gilt:
Ruppe Kosellecks Objekte, seine Projekte und Artefakte sind derartig an narrative Strukturen gebunden, dass mir die Einordnung als „Konzeptkunst“ zu wenig und daher irreführend erscheint. Natürlich könnte man auch die biblischen Zeichenhandlungen als Konzeptkunst beschreiben, aber sie sind ja ebenfalls erkennbar mehr, Interventionen, die mit erzählerischen Überlieferungen verbunden sind. Und genau darum geht es auch in der Kunst von Ruppe Koselleck. Das möchte ich anhand einiger Arbeiten aus seiner Reihe takeoverbp zeigen. Zeichenhandlungen in der Kunst von Ruppe KoselleckRuppe Koselleck ist empört und zwar über die Verschmutzung der Weltmeere durch die Ölkonzerne und die von ihnen fahrlässig verursachten Umweltkatastrophen. Wir nehmen diese Katastrophen immer als quasi singuläre Ereignisse wahr, aber in Wirklichkeit ist es eine einzige fortgesetzte Katastrophe.[17] Das erinnert an Walter Benjamins Deutung des Engels der Geschichte:
Bei Ruppe Koselleck sind es nicht Trümmer, die unablässig vor seine Füße geschleudert werden, sondern Klumpen von Öl, die an den Stränden dieser Erde angespült werden und die man zwar dokumentieren, aber nicht mehr reparieren kann. Und auch hier gilt: Das, was wir den Fortschritt nennen, produziert diese Trümmer. Wie aber geht man damit um? Ruppe Koselleck möchte in einer künstlerisch-prophetischen Zeichenhandlung den britischen Konzern BP aufkaufen und ihn anschließend zerschlagen. Das Geld dazu organisiert er durch den Verkauf von Kunstwerken, die die Umweltverschmutzung durch BP zum Thema haben. Aktuell hat er bereits fast viereinhalbtausend der 18 Milliarden BP-Aktien erworben und wird daher vielleicht noch etwa 220 Jahre brauchen, um die angestrebte Aktienmehrheit zu bekommen. Das mag mancher für verrückt (meschugge) halten, aber auch die Zeichenhandlungen der biblischen Propheten sind ja in diesem Sinne ver-rückt, aus den Fugen geraten und neue Perspektiven eröffnend. Denn Ruppe Koselleck macht durch seine Zeichenhandlung sehr viele Aspekte zugleich deutlich. Zum einen natürlich, wie übermächtig die weltweiten Konzerne heute sind und wie wenig selbst eine konzertierte Aktion von engagierten Menschen dagegen ausrichten kann. Wenn alle 761.000 Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland für je 140.000 Euro Kunstwerke aus der entsprechenden Serie von Ruppe Koselleck kaufen würden, wäre BP bald zerschlagen. Denn das ist das zweite, was Koselleck mit seiner Aktion macht: er bindet die BürgerInnen als TeilnehmerInnen des Kunstmarktes potentiell in die Aktion ein. Jeder kann zum Erfolg der Zeichenhandlung beitragen, indem er Artefakte des Künstlers erwirbt, d.h. auf Ebay ersteigert. Sie werden werthälftig zum Kauf von Aktien eingesetzt. Was ich an diesem Beispiel interessant finde, ist, dass die Aktion überhaupt nur als prophetische Zeichenhandlung Sinn macht. Weder zur Bereicherung des Künstlers, noch zur Veränderung der Kunstgeschichte eignet sie sich [Insofern man davon ausgeht, dass der Erwerb von BP notwendig scheitern muss]. Mit dem Kauf eines seiner Werke wird jedem deutlich, wie viel geschehen muss, um die Welt zu ändern. Dass aber theoretisch, wenn nur genügend Menschen mitmachen würden, dennoch Veränderungen möglich sind. Um diese zu erreichen, muss man nur am Veränderungsprozess teilnehmen. In diesem Falle, wenn man nicht selbst BP kauft, bei der Versteigerung der Artefakte auf Ebay mit zu steigern und so nicht nur ein Kunstwerk erwerben, sondern zugleich symbolisch Teil einer (fast biblischen) Zeichenhandlung werden [www.take-over-bp.com]. Was das konkret heißt und als wie interessant sich das erweisen kann, möchte ich an zwei der von mir erworbenen Artefakte zeigen. Es sind jeweils Rohölmalereien® über einer alten Aktie im Format DIN A 4. (M)Ein Beispiel 1: Patino Mines & Enterprises Consolidated [F4/4782]Die obige Abbildung ist eine Aktie, die optisch in etwa der entspricht, die Ruppe Koselleck als außerästhetisches Ausgangsmaterial für seine Bearbeitung verwendet hat. Sie ist nicht das Kunstwerk, sondern dessen Grundlage. Aber schon dieses außerästhetische Material, das mit dem Artefakt geliefert wird, ist sehr interessant. Denn natürlich fragt man sich sofort, auf welcher (symbolischen) Grundlage (mit welchem Material) das spätere Artefakt angefertigt wurde. Im konkreten Fall lesen wir, dass es sich um 100 Aktien der Patiño Mines & Enterprises Consolidated handelt, registriert von der gerade frisch gegründeten bzw. fusionierten Chase Manhattan Bank (die ihrerseits im Jahr 2000 zur J.P. Morgan Chase & Co fusionierte, welche ein Viertel der BP-Aktien hält). Im Fall des Fotos oben wurde sie ausgegeben im Jahr 1955 an Dominick & Dominick, in dem von mir erworbenen Kunstwerk ausgegeben am 6. September 1956 an Bishop & Co. Schon allein das kann einen den ganzen Tag beschäftigen, wenn man einfach den so gelegten Spuren nachgeht. Wer ist eigentlich Dominick & Dominick? Das wäre, wie eine schnelle Recherche zeigt, eine New Yorker Beteiligungsgesellschaft, die seit 1870 existiert und auch europäische Niederlassungen hat. Der Eigner auf dem von mir erworbenen Blatt ist Bishop & Co und dürfte das erste hawaiianische Bankhaus sein, das 1858 von Charles R. Bishop gegründet wurde. Bei meinem Blatt hat Bishop & Co die Aktie, wie auf der Rückseite zu lesen ist, offenkundig im November 1957 an die Brokerfirma Loeb, Rhoades & Co. weiterverkauft. Der letzte Eintrag auf der Rückseite meines Blattes ist dann von der Bank of America im November 1985. Schon allein das gibt ohne dass wir zum Kunstwerk selbst vorgedrungen wären -, interessante Einblicke in die Kapitalströme auf der Welt. Wer aber hat die Aktie ausgegeben? Ich persönlich kannte den Namen Patiño bis dahin nicht und war dann doch ziemlich überrascht, was bzw. wer sich dahinter verbirgt:
Als ‚meine‘ nun bearbeitete Aktie 1956 ausgegeben wurde, war der berühmte Firmengründer Simón Ituri Patiño schon verstorben und seine bolivianischen Minen und sein bolivianisches Vermögen waren im Rahmen der bolivianischen Revolution verstaatlich worden. Da die Aktie aber in New York ausgegeben wurde, hat sie mit den bolivianischen Verhältnissen wohl nichts mehr zu tun. Dem könnte man nun weiter nachgehen, das soll an dieser Stelle unterbleiben.
Ruppe Koselleck hat die alte, inzwischen natürlich eingelöste Aktie nun in seinem Sinne bearbeitet. Sie wurde mit Hilfe eines alten Benzinkanisters mit zwei BP-Stempeln versehen, deren „Druckfarbe“ aus Rohöl und Teer aus Fundstücken an bestimmten Küsten besteht, in meinem Fall „Crude Oil of Mississippi 2010“ und „Crude Oil of Alabama 2010“. Beide Angaben verweisen uns auf eine der größten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte, die Deepwater Horizon Katastrophe im Jahr 2010. In der Folge kam es zu einer Ölpest im Golf von Mexico, deren Folgen bis heute an den Stränden auffindbar sind.[20] Die vom 20. April bis zum 16. Juli 2010 aus dem Bohrloch im Macondo-Ölfeld in den Golf von Mexiko ausgetretene Ölmenge wird auf 800 Millionen Liter geschätzt. Ursache der Katastrophe ist fahrlässiges Verhalten: Aus internen Dokumenten des BP-Konzerns geht hervor, dass zur Abdichtung des Bohrlochs trotz Warnungen von Fachleuten bewusst eine kostengünstige Methode mit größerem Risiko von Gasaustritt gewählt wurde. So verweisen uns die Eintragungen von Koselleck auf seinem Kunstwerk auf all die Umweltverbrechen der Ölkonzerne überall auf diesem Planeten, sie sind nicht nur auf das Kunstwerk, sondern buchstäblich in die Welt eingeschrieben. (M)Ein Beispiel 2: John Blair & Company [F03 / 4782]Die obige Aktie ist wieder eine Aktie, die optisch in etwa der entspricht, die Ruppe Koselleck als außerästhetisches Ausgangsmaterial für seine künstlerische Bearbeitung meines zweiten Kunstwerks verwendet hat. Ich gehe wieder so vor wie beim ersten Blatt und suche zunächst Informationen über die ausgebende John Blair & Company. Dabei finde ich Folgendes:
In der New Yorck Times von 1983 finde ich einen Nachruf auf den Firmengründer, der damals 83jährig starb.[21] Zu diesem Zeitpunkt war seine Firma, wie die NYT schreibt, „$322 million“ wert. Mein Zertifikat, das der Arbeit von Koselleck zugrunde liegt, wurde am 15. September 1969 ausgegeben und umfasst wiederum 100 Aktien. Ausgegeben wurde es laut Eintrag auf dem Zertifikat an eine Mrs. Jeannette Mereski, Cust. Und in diesem Augenblick entwickelt das Kunstwerk von Ruppe Koselleck eine Dynamik, die ich vorab so nicht für möglich gehalten hätte. Denn nach Eingabe ihres Namens stoße ich zunächst in der Google Buchsuche auf ein Buch, in dem über die Kontroversen über den Bau einer Avenue in Savannah, im US-Staat Georgia berichtet wird. Mit dokumentiert sind Protestschreiben, die Betroffene eingereicht haben. Und eine der Betroffenen heißt Jeannette Mereski. Das könnte nun simpel ein Zufall sein, denn es gibt sicher einige Menschen dieses Namens auf unserem Planeten und auch in Amerika. Aber am Ende ihres Briefes steht eine originale Unterschrift und sie ist, das hat mich wirklich umgehauen, mit der Unterschrift auf meinem Zertifikat identisch. Bei der Unterschrift steht ihre Adresse, so dass ich bei dem weiten Konzept von Informationsfreiheit, das es in Amerika gibt in Minutenschnelle auf das Baujahr und des Erwerbsjahres ihres Hauses und dessen Kosten und weitere aktuelle ökonomische Werte stoße. Ich werde über ihren Mann (Korea-Veteran), ihren Glauben (Unitarier), ihre politischen Aktivitäten (Anti-Rassismus, Denkmalkultur, Anti-Dronenkrieg) usw. informiert. Es ist eine Glaskastenwelt in der wir leben. Selbst ein aktuelles Foto der früheren Zertifikatseignerin aus dem Jahr 2017 finde ich. Es füllt sich sozusagen mit Leben. Insgesamt passt die Biographie durchaus zur öko-politischen künstlerischen Zeichenhandlung von Ruppe Koselleck. Ansonsten ist das Zertifikat natürlich mit vielen weiteren Bankbeurkundungen und Firmenstempeln ausgestattet. Der am häufigsten sich wiederholende Stempel ist der von „Merrill Lynch, Pierce, Fenner & Smith Incorporated“. Das ist eine Tochtergesellschaft von Merrill Lynch, die sich auf die Beratung von vermögenden Privatkunden spezialisiert hat. 2006 fusionierte Merrill Lynch mit BlackRock (einem weiteren größeren Anteilseigner von BP), wodurch sie zum weltgrößten Asset Management-Unternehmen mit verwalteten Vermögenswerten wurden.[22] 2008 fusionierten Merrill Lynch und Bank of America. Ich lerne also so etwas über Wirtschaftsgeschichte (samt ihren Beziehungen zu deutschen Politikern, die Parteivorsitzende werden wollten).
Ruppe Koselleck hat diese historische und inzwischen natürlich entwertete Aktie wieder künstlerisch überarbeitet, sie mit den Folgen der Umweltkatastrophe kontaminiert und zu einem Kunstwerk seiner take-over-bp-Serie gemacht. Im konkreten Fall enthält sie neben den uns nun schon bekannten Öl-Stempeln von BP auch eine der Firma Esso. Zugeordnet werden die drei Stempel durch ihre Druckfarbe „Crude Oil of Alabama 2010“, „Crude Oil of Florida 2010“ und handschriftlich einer weiteren Ölkatastrophe. Esso gehört zum amerikanischen Konzern ExxonMobile, der fast die dreifache Marktkapitalisierung wie BP hat und zu den toxischsten Firmen dieses Planeten gehört.[23] Ökologisch ist vor allem die Havarie der Exxon Valdez in Erinnerung, ein Öltanker, der am 24. März 1989 vor Alaska auf Grund lief und bei dem 2000 Kilometer Küste durch 37.000 Tonnen auslaufendes Rohöl verseucht wurde. Ich glaube, anhand der beiden vorstehend aufgeführten Beispiele (denen man ohne Probleme noch viele andere aus der Serie takeoverbp beigesellen könnte), ist der Charakter dessen, was ich als eine künstlerisch-prophetische Zeichenhandlung bezeichnen würde, deutlich geworden. Jedes Mal geht es um eine künstlerische Überschreibung, die sich nicht im Akt der Überschreibung erschöpft, sondern über das Kunstwerk hinaus auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge verweist. „Über den künstlerisch-religiösen Dialog im Zeitalter der Postironie“Ich will nun, bevor ich abschließend auf eine weitere Zeichenhandlung des Künstlers eingehe, noch kurz Notizen zur pastoraltheologischen und religionspädagogischen Relevanz schreiben. Wir leben in einer Zeit, in der spezifisch religiöse Zeichenhandlungen im biblischen Sinn eher selten geworden sind. Wenn aktuell von religiösen Zeichenhandlungen gesprochen wird, dann sind sie von naiv unbekümmerter Simplizität, etwa die Schwerter-zu-Pflugscharen-Aktionen (die eher eine politische als eine prophetische Aktion war) oder die Kerzenprozessionen bei irgendwelchen Protestaktionen. Richtig prophetisch im zuvor beschriebenen Sinne (eine Zeichenhandlung ist eine Aktion, die einen Bedeutungsgehalt darstellt, der nicht mit dem Ziel der Handlung selbst identisch ist) ist daran wenig. Es muss daher durchaus im pastoraltheologischen und religionspädagogischen Interesse sein, sich dort umzuschauen, wo die Spezialisten für vorausblickende Geistesgegenwart in der aktuellen gesellschaftlichen Rollenverteilung tätig sind. Und das sind seit der Aufklärung die Künstlerinnen und Künstler. In diesem Sinne haben Dietrich Neuhaus und Otfried Schütz vor 20 Jahren im vierten Heft des Magazins für Theologie und Ästhetik über Protestantismus und Gegenwartskunst geschrieben:
Darum geht es, wenn man die Perspektive der Gemeinde bzw. der Theologie einnimmt. Zugespitzt gesagt: die Kirche ist auf die Kunst, nicht aber die Kunst auf die Kirche angewiesen.[25] Und dieser Verweis ist einer auf die Geistesgegenwart, derer man mit Hilfe der Kunst ansichtig werden kann. Was aber legt die Interventionen der Künstler gegenüber dem Raum der Kirche nahe, dem Ein-Bruch in den Leib Christi?[26] Im Gespräch mit Andreas Brenne hat sich Ruppe Koselleck „Über den künstlerisch-religiösen Dialog im Zeitalter der Postironie“ geäußert.[27]
Im besten Fall bereichern sich die religiöse und die ästhetische Erfahrung gegenseitig, im kritischen Fall fordern sie sich gegenseitig heraus. Immer geht die ästhetische Erfahrung insofern über die religiöse hinaus, als sie davon abweichende Wahrnehmungen nicht nur zulässt, sondern notwendig provoziert. Immer geht die religiöse Erfahrung über die ästhetische hinaus, insofern sie diese in einen Deutungsrahmen stellt, der eben nicht aus dem Ästhetischen selbst kommt. "Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernstzunehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen" (Karl Barth). Post-Skriptum: First Last SupperRuppe Koselleck hat sich aber, und damit komme ich zu meinem abschließenden Beispiel, nicht nur mit sozialkritischen Fragen wie der Umweltverschmutzung durch Ölkonzerne wie BP oder ExxonMobile auseinandergesetzt, sondern in einigen Arbeiten auch mit dem, was man zumindest auf den ersten Blick eine zentrale religiöse Frage nennen könnte: dem Abendmahl. Zum Abschluss deshalb noch ein Blick auf seinen (post) ironischen Versuch, einen ganzen Ameisenstaat durch ein Erstes Letztes Abendmahl im Vollzug der Einverleibung zum Christentum zu ‚bekehren‘. Diese auf einem pointiert und bewusst wörtlichen Missverständnis des Abendmahls basierende künstlerische Auseinandersetzung ist nicht ganz neu, insbesondere in den 70er- und 80er-Jahren haben nicht nur Künstler, sondern auch Philosophen, Religionswissenschaftler und Theologen damit experimentiert exemplarisch sei etwa Harald Duwes Abendmahl von 1978 genannt.[28] In seiner Ironie ist die Arbeit von Koselleck vergleichbar mit künstlerischen Infragestellungen der Religionskonflikte im 17. Jahrhundert, wenn etwa auf einem anonymen Gemälde der Friede Luther, Calvin, den Papst und einen Wiedertäufer zum gemeinsamen Mahl einlädt, und keiner des anderen Speise essen will, sondern seine Eigene mitbringt, jeder sich also bloß seine eigene Theologie einverleibt. Kommen wir nun zu Ruppe Kosellecks „First Last Supper” aus dem Jahr 2012:
Das hat natürlich seinen eigenen ironischen Reiz und es ist höchst interessant, die Einverleibung und Anverwandlung visuell in dem kleinen Film zu verfolgen. Dazu platziert Koselleck Fischstäbchen (quasi als Ersatzsymbol für das frühchristliche Ichtys) kreuzförmig auf einem Ameisenhügel und beobachtet mit der Kamera, was passiert. Ameisen sind ihrer Umwelt bewusste Tiere, sie können ihr Nest von Fremdkörpern reinigen, aber sich auch Nahrungsmittel aneignen. Was in diesem Falle nach und nach auch geschieht. Am Ende sind die Fischstäbchen vollständig durch die Ameisen einverleibt worden. Die post-ironische Anspielung ist klar, nur die theologische Deutung des Vorgangs dürfte kontrovers sein. Als Theologe würde ich nachfragen, ob die Ameisen eines Missionswerk des künstlerischen Frohsinns[30] überhaupt nötig haben, werden sie doch in der hebräischen Bibel den Gläubigen bereits als Vorbild hingestellt, dem es nachzueifern(!) gilt. So fordert Sprüche 6, 6-9 die Saumseligen unter den Gläubigen unmissverständlich auf: „Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege und werde weise. Sie, die keinen Richter, Vorsteher und Gebieter hat, sie bereitet im Sommer ihr Brot, sammelt in der Ernte ihre Nahrung ein. Bis wann willst du liegen, du Fauler? Wann willst du von deinem Schlaf aufstehen?“ Und in Sprüche 30, 24f. (als sozusagen literarischer Vorform des Physiologus[31]) lesen wir: „Vier sind die Kleinen der Erde, und doch sind sie mit Weisheit wohl versehen: die Ameisen, ein nicht starkes Volk, und doch bereiten sie im Sommer ihre Speise.“ Mit etwas theologischer Ironie könnte man sagen, man kann allenfalls versuchen, die Ameisen mittels der Eucharistie katholisch zu machen, denn gut religiös und fast protestantisch sind sie bereits: fleißig, gebildet und keine Kleriker.[32] Ob sie durch das ihnen angebotene Abendmahl wirklich katholisch werden können, ist immerhin implizit ein fester Bestandteil des theologischen Diskurses seit der Frühscholastik, der unter der Überschrift „Quid sumit mus“ geführt wurde (weil Mäuse immer wieder in Tabernakel einbrachen und sich dort bedienten). Da ihnen nach katholischer Lehre aber die „intentio“ fehlt, werden auch die künstlerischen Versuche nicht fruchten. Aber versuchen kann man es ja, denn mit Paulus gilt ja: „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.“ Auch diese künstlerische Arbeit von Ruppe Koselleck bringt uns also als Zeichenhandlung auf einige theo-ästhetische Spuren, denen man nachgehen kann. Oder wie Koselleck es formuliert:
Anmerkungen[1] Vgl. zum Folgenden https://www.bibelwissenschaft.de/stichwort/35274/ [2] Vgl. etwa Ahmed Hussein Deedat, der sich über den nackten Jesaja lustig macht, anscheinend ohne die muslimische Literatur über Jesaja zu kennen. https://www.youtube.com/watch?v=zoSK_wAALZM [3] Ich bin kein Experte, aber unter der Stichwortkombination von Zeichenhandlung und Koran bin ich nicht fündig geworden, es sei den im Rückbezug auf die jüdischen Propheten. Vielleicht liegt es daran, dass für Muslime diese Zeichenhandlung so merkwürdig ist. [5] Ebd. [6] Ebd. [7] Vgl. dazu die modernen Überlegungen in https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/energie-aus-dem-klo/ [8] Vgl. dazu https://de.wikipedia.org/wiki/Kuhdung [18] Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX [20] Vgl. dazu Liu, Yonggang; MacFadyen, Amy; Ji, Zhen-Gang; Weisberg, Robert H. (2013): Monitoring and Modeling the Deepwater Horizon Oil Spill. A Record Breaking Enterprise. Hoboken: Wiley (Geophysical Monograph Series). [21] https://www.nytimes.com/1983/05/27/obituaries/john-p-blair-founder-of-company-with-varied-interests-dies-at-83.html [24] Schütz, Otfried; Neuhaus, Dietrich (1999): Vor dem Kunstwerk. Protestantismus und Gegenwartskunst. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 1, H. 4. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/04/dnos1.htm. [25] Pragmatisch sieht es natürlich andersherum aus wie der Künstler Georg Meistermann vor dreißig Jahren sarkastisch anmerkte. De facto verzichten die Kirchenvertreter im 20. Jahrhundert auf die Wahrnehmung der Künste. Mertin, Andreas; Meistermann, Georg (1988): Erfüllt von allen Sinnen. Georg Meistermann: Ein Künstler im Gespräch. In: Andreas Mertin und Horst Schwebel (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, S. 124134. [26] Mertin, Andreas (2006): Ein-Bruch im Leib Christi. Künstlerische Rauminterventionen und ihre religionspädagogischen Konsequenzen. In: Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer performativen Religionspädagogik. 2. Aufl. Leipzig: Evang. Verl.-Anst., S. 234251. [27] Brenne, Andreas; Koselleck, Ruppe (2015): Von Cola Kreuzen und Ameisenstaaten. Über den künstlerisch-religiösen Dialog im Zeitalter der Postironie. In: Claudia Gärtner, Andreas Brenne, Maike Aden, Rita Burrichter, Reinhard Hoeps, Guido Hunze et al. (Hg.): Kunst im Religionsunterricht - Funktion und Wirkung. Entwicklung und Erprobung empirischer Verfahren. 1. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer, 297-308. [28] Vgl. dazu die Beiträge in Schwebel, Horst; Schmidt-Ropertz, Heinz Ulrich (Hg.) (1982): Abendmahl. Zeitgenössische Abendmahlsdarstellungen; Marburg: Institut für Kirchenbau u. Kirchliche Kunst der Gegenwart. [31] Treu, Ursula (1998): Physiologus. Frühchristl. Tiersymbolik. 3. Aufl. Hanau: Artia-Verl. |
||
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/117/am655.htm |