Zeichenhandlungen

Gedanken zu einem Kunstprojekt von Ruppe Koselleck

Andreas Mertin

Zeichenhandlungen in der Bibel

Die Sozial- und Kultkritik der biblischen Propheten äußert sich zunächst, aber nicht nur in Visionen und Auditionen. Die Bibel ist voll davon. Aber neben den Visionen und Auditionen gibt es auch, und oftmals besonders beeindruckend, Zeichenhandlungen. Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet gibt als bündige Zusammenfassung Folgendes an:

Eine Zeichenhandlung ist eine Aktion, die einen Bedeutungsgehalt darstellt, der nicht mit dem Ziel der Hand­lung selbst identisch ist.[1]

Exemplarisch sei etwa der Prophet Jesaja (Wirkungszeit etwa 740-701), der ganze drei Jahre lang nackt durch Jerusalem läuft, wie in Jesaja 20,2ff. überliefert wird. Und das tat er nicht, weil er das schick fand (oder weil er Exhibitionist oder FKK-An­hän­ger war), sondern um im Auftrag Gottes in einer Zeichenhandlung auf das kommende Schicksal der Bevölkerung hinzuweisen.

„Zu der Zeit redete der HERR durch Jesaja, den Sohn des Amoz, und sprach: Geh hin und tu den Sack von deinen Lenden und zieh die Schuhe von deinen Füßen. Und er tat so und ging nackt und barfuß. Da sprach der HERR: Gleich­wie mein Knecht Jesaja nackt und barfuß ging drei Jahre lang als Zeichen und Weissagung über Ägypten und Kusch, so wird der König von Assyrien wegtreiben die Gefangenen Ägyptens und die Verbannten von Kusch, jung und alt, nackt und barfuß, in schmählicher Blöße, zur Schande Ägyptens.

Die Geschichte dieser konkreten Zeichenhandlung ist so brisant, dass es bis heute Menschen gibt, die sie nicht glauben mögen, schlicht, weil Gott doch niemanden zum Nacktsein auffordere.[2] Verkannt wird dabei, dass es um eine Zeichenhandlung[3] geht, die das kommende elende Schicksal vorwegnehmen soll, und nicht um die provokative Handlung des puren Nacktseins. Das heißt:

In Zeichenhandlungen wird spielerisch inszeniert, was entweder zukünftig eintreten wird oder bereits Realität ist, aber in seiner wahren Bedeutung noch nicht erkannt wurde.[4]

Man kann das ja – insofern es auf historischen Tatsachen beruht – gut imaginieren, wie das ist, wenn ein angesehener religiöser Mensch einem plötzlich nackt vor das Angesicht tritt. Das ist schon etwas meschugge. Gerade das macht es aber so authentisch. Nur wenn man fundamentalistischer Moralist ist, mag man das nicht glauben. Von den Berichten über die Zeichenhandlungen heißt es:

Auf der Grundlage der von allen Autoren als Berichte von Zeichenhandlungen eingestuften Texte ist eine ungefähre Beschreibung der Textform möglich: Im Zentrum des Berichtes steht eine Handlung, die der Prophet durchführt und die sich nicht als sinnvolle, zweckorientierte Handlung in den situativen Kontext einfügt. Die Handlung weist vielmehr über sich hinaus und inszeniert eine Botschaft an die Zuschauer der Handlung oder an die Leser des Berichtes von der Zeichenhandlung.[5]

Es gibt besonders schwer nachzuvollziehende Zeichenhandlungen und manche paradoxe Zeichenhandlung.

In Ez 5,1-4 wird der Prophet Ezechiel aufgefordert, seine Haare zu scheren und diese Haare in drei gleiche Teile zu teilen und mit jedem dieser drei Teile auf eine ganz bestimmte Weise zu verfahren: Ein Drittel soll er verbrennen, ein Drittel mit dem Schwert zerhauen, ein Drittel in den Wind streuen, einen kleinen Rest in sein Gewand binden, aber von diesem Rest wiederum einige Haare verbrennen.[6]

Das hat ohne Zweifel Parallelen mit manchen Aktionen von Vertretern der modernen Kunst, man könnte an Marina Abramović, aber auch an Corinne Wasmuth denken.

Auch das Buch Ezechiel ist gefüllt mit symbolischen und zeichenhaften Handlungen. Insbesondere Ezechiel 4, 1-8 ist ein Konglomerat von künstlerischen Experimenten:

Und du, Menschenkind, nimm dir einen Ziegelstein; den lege vor dich hin und entwirf darauf die Stadt Jerusalem und mache eine Belagerung: Baue ein Bollwerk um sie und schütte einen Wall gegen sie auf und schlag ein Heerlager auf und stelle Sturmböcke rings um sie her. Nimm dir aber eine eiserne Platte und lass sie eine eiserne Mauer sein zwischen dir und der Stadt und richte dein Angesicht gegen sie und belagere sie.
     Das sei ein Zeichen dem Hause Israel. Du sollst dich auch auf deine linke Seite legen und die Schuld des Hauses Israel auf dich legen. So viele Tage du so daliegst, so lange sollst du auch ihre Schuld tragen. Ich will dir aber die Jahre ihrer Schuld auflegen, für jedes Jahr einen Tag, nämlich dreihundertneunzig Tage. So lange sollst du die Schuld des Hauses Israel tragen. Und wenn du dies vollbracht hast, sollst du danach dich auf deine rechte Seite legen und sollst tragen die Schuld des Hauses Juda vierzig Tage lang; denn ich gebe dir hier auch je einen Tag für ein Jahr.
   Richte aber dein Angesicht und deinen bloßen Arm gegen das belagerte Jerusalem und weissage gegen die Stadt. Und siehe, ich will dir Stricke anlegen, dass du dich nicht wenden kannst von einer Seite zur andern, bis du die Tage deiner Belagerung vollendet hast.

Wirkt die erste beschriebene Zeichenhandlung wie das Verhalten von Kindern im Spielzimmer (Bau Dir eine Burg!), so ist die zweite schon eher auf Körperbeherrschung und symbolische Gestik ausgerichtet. Damit ist die Zeichenhandlung aber noch nicht beendet, denn Gott gibt noch präzise Ernährungshinweise für die Zeit der Aktion, u.a. diese:

„Gerstenfladen sollst du essen, die du vor den Augen der Leute auf Menschenkot backen sollst.“[7]

Das geht dem Propheten Ezechiel dann doch zu weit, er protestiert gegen diese Zumutung der Aufnahme verunreinigter Speisen und bekommt deshalb von Gott eine gewisse Erleichterung zugesprochen:

„Er aber sprach zu mir: Sieh, ich will dir Kuhmist statt Menschenkot zulassen, dein Brot darauf zu bereiten.“[8]

Darauf lässt Ezechiel sich dann wohl ein und vollzieht die Zeichenhandlung (berichtet wird davon nicht mehr, nur vom Konzept). Würde ein Künstler etwas Analoges heute öffentlich als symbolischen Akt konzipieren und vorführen, wären manche unserer neuen Rechten und alten Kulturchristen, aber auch die Regenbogenpresse schnell mit der Rede von der entarteten oder aber entstellten Kunst dabei.[9]


Zeichenhandlungen in der Kunst

Derartige explizite „Zeichenhandlungen“ mit prophetischem Selbstbewusstsein findet man in der Bildenden Kunst vermehrt seit Beginn der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts. Dafür steht als Bewegung die Fluxus-Kunst, namentlich etwa Joseph Beuys, aber auch Wolf Vostell oder Bazon Brock. Am Berühmtesten ist vielleicht die Einschmelzung der Kopie der Zarenkrone Iwans des Schrecklichen durch Joseph Beuys zur Eröffnung der documenta 7 im Jahr 1982.[10]

Bereits 1971 hatte Joseph Beuys mit der zweimal aufgeführten Aktion Celtic das Motiv der Zeichenhandlung aufgegriffen.[11] Bei der zweiten Aufführung Celtic+~~~ im April 1971 in einem Luftschutzbunker in Basel stellte Beuys der eigentlichen Performance eine rituelle Fußwaschung voran, die er an sieben Personen vollzog, u.a. an dem Künstler Klaus Staeck.

Das ist natürlich nur verständlich, wenn man den Bezug auf die Fußwaschung der Jünger durch Jesus Christus erkennt. Im Interview mit Horst Schwebel deutet Joseph Beuys das so:

Schwebel: Nun kommt es bei Ihnen ja ebenfalls zu einer Christus-Künstler-Identifikation. Das zeigt sich vor allem in "Zeichenhandlungen". Ich denke an die "Fußwaschung", die "Fahrt über den Rhein" oder an eine Situation in Aachen, wo man Ihnen einen Fausthieb versetzt und Sie ein Kreuz ergreifen und es in der Hand hochhalten. Ich sage "Zeichenhandlung", weil ich an Handlungen der Propheten im Alten Testament denke oder an Jesus selbst. Verstehen Sie das, was Sie tun, ebenfalls in diesem Sinne als Zeichenhandlung?

Beuys: Ich bleibe lieber bei dem Begriff "Handlung". Handlung enthält verschiedenartige Dimensionen der Auseinandersetzung. Die Auseinandersetzung um die Begriffe muss heutzutage geführt werden, denn die aus der Materialismuslinie herausfallenden Begriffe leben ja faktisch in Randgebieten oder gar im Untergrund. Aus diesem Grund meine ich, mich des Begriffs Handlung bedienen zu müssen. Ich komme mit dem Begriff Handlung oder Aktion weiter.

Schwebel: Ist Ihnen "Zeichenhandlung" zu metaphysisch?

Beuys: Ja, auf jeden Fall. Wenn man sagt: Es gab zu allen Zeiten solche Zeichenhandlungen - im christlichen Bereich wie auch im vorchristlichen Bereich -, dann bedürfte dieser Begriff einer Transformation oder gar einer völligen Metamorphose. Denn sonst würde man einfach immer in den alten Vorstellungen von Symbolen und Zeichen, die nach dem Schema laufen: das bedeutet dies, das bedeutet das, hängen bleiben. - Es geht doch um das Moment der Öffnung.[12]

Wogegen sich Beuys im Interview wehrt, ist die religiöse Vereinnahmung, die in dem Begriff Zeichenhandlung stecken könnte, und gegen den Gedanken, Zeichenhandlungen seien „nur“ Symbole für Drittes. Diesen Protest kann man gut verstehen. In der Kunst geht es immer um das Kunstwerk, die Kunstaktion selbst, sie ist nicht – auch wenn es so scheint – bloß Mittel zum (guten) Zweck. Die Transformation, um die es Beuys geht, muss also im Werk selbst kenntlich werden. Die Fußwaschung ist keine Re-Aktualisierung der jesuanischen Fußwaschung, sondern sie nimmt diese als außerästhetisches Material, um eine künstlerische Aussage im 20. Jahrhundert zu formulieren. Beuys holt nicht den jesuanischen Impuls wieder hervor, er wiederholt nicht, sondern er schafft mit dem gegebenen Material Neues. Das ist wichtig und sollte auch im Blick auf die folgenden Überlegungen im Gedächtnis behalten werden. Analoges lässt sich ohne große Schwierigkeiten auch bei zahlreichen Arbeiten von Wolf Vostell, insbesondere aber bei den ästhetischen Impulsen und Interventionen von Bazon Brock zeigen.[13]

Nun gibt es derartige, mit Zeichenhandlungen arbeitende Künstler auch in der Kunst der Gegenwart. Einen möchte ich im Folgenden anhand einiger seiner Werke vorstellen.


Ruppe Koselleck: Biographische Daten …

Der Einfachheit halber beschränke ich mich bei der Biographie auf die Angaben der Wikipedia.

Ruppe Koselleck (* 18. Juli 1967 in Dossenheim bei Heidelberg) ist ein deutscher Konzeptkünstler. 1990 nahm Koselleck sein Studium der Philosophie und Soziologie in Köln und Münster auf. 1994 wechselte er an die Kunstakademie Münster, in die Klasse von Lutz Mommartz, 1999 an die Fylmklasse bei Andreas Köpnick. Im Jahr 2000 heiratete er die Künstlerin Susanne von Bülow, mit der er mittlerweile zwei Töchter hat. Es folgten Aufenthalte in Japan und Korea. Im Jahr 2001 endete Kosellecks reguläre Studienzeit, sein Meisterschülerjahr begann. Von 2005 bis 2007 übernahm er die künstlerische Leitung des Kulturbüros der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Seit 2009 leitet er das Pilotprojekt Satellit-Kunstverein zur außerschulischen künstlerischen Weiterbildung von Jugendlichen. 2010 erhielt Koselleck einen Lehrauftrag für Künstlerische Interventionen in den Öffentlichen Raum an der Universität Kassel; seit 2012 ist er Lehrbeauftragter der Universität Osnabrück für Experimentelle Kunstvermittlungsstrategien.
     Die Kunst von Ruppe Koselleck ist an Dada, Fluxus und Concept Art angelehnt, lässt sich aber im Gegensatz zu diesen Richtungen konkret gesellschaftspolitisch verorten. Immer enthält sie konzeptuelle und kommunikative Anteile, sie will stets gesellschaftlich relevant, kritisch und komisch zugleich sein. Das hat zur Folge, dass Koselleck selten greifbare Werke wie Bilder oder Skulpturen produziert und eher Ideen anstößt und Prozesse generiert. Diese werden oft über sehr lange Zeiträume hinweg verfolgt, an vielen verschiedenen Orten und in den verschiedensten Medien. So gründete er bereits zu Beginn seiner Künstlerausbildung mit „Der Meisterschüler“ eine eigene Publikationsreihe, die bis heute im Netz und als Newsletter Bestand hat.[14]

Ehrlich gesagt, bin ich etwas im Zweifel, ob Ruppe Koselleck wirklich passend unter der Kategorie der Konzeptkünstler eingeordnet ist.[15] Ich würde das persönlich nicht so sehen, für mich ist er weit mehr als das. Wäre er ein Konzeptkünstler, dann könnte man sich – wie eine Freundin es einmal ironisch sagte – die genauere Betrachtung seiner Werke schenken, weil die zur Kenntnisnahme des Konzepts ja im Prinzip ausreichen würde. So ist das aber bei Ruppe Koselleck ganz und gar nicht, wie im Folgenden deutlich werden wird. Sicher, er hat unbestritten ein Konzept für seine Projekte, aber er gestaltet diese so, dass sie in der Art ihrer Performance eine eigene, eine eigenständige und durch und durch individuelle Narrativität entfalten. Das ist bei einem Konzeptkunstwerk sagen wir von Joseph Kosuth anders. Für ihn gilt:

Die Ausführung des Kunstwerks ist von untergeordneter Bedeutung und muss nicht durch den Künstler selbst erfolgen. Im Vordergrund stehen Konzept und Idee, die für die künstlerische Arbeit als gleichwertig erachtet werden. An Stelle fertiger Bilder und Skulpturen treten in diesem Sinne Skizzen, Schriftstücke, Anleitungstexte oder unter Umständen Künstlerbücher, die eigene ästhetische Qualitäten entfalten, auf. Eines der Ziele ist die „Entmaterialisierung“ des Kunstwerks und die Einbeziehung des Betrachters. Gewohnte Sichtweisen, Begriffe und Zusammenhänge der Welt werden hinterfragt, neue Regeln erfunden. Es wird mit Kontexten, Bedeutungen und Assoziationen gearbeitet.[16]

Ruppe Kosellecks Objekte, seine Projekte und Artefakte sind derartig an narrative Strukturen gebunden, dass mir die Einordnung als „Konzeptkunst“ zu wenig und daher irreführend erscheint. Natürlich könnte man auch die biblischen Zeichenhandlungen als Konzeptkunst beschreiben, aber sie sind ja ebenfalls erkennbar mehr, Interventionen, die mit erzählerischen Überlieferungen verbunden sind. Und genau darum geht es auch in der Kunst von Ruppe Koselleck. Das möchte ich anhand einiger Arbeiten aus seiner Reihe takeoverbp zeigen.


Zeichenhandlungen in der Kunst von Ruppe Koselleck

Ruppe Koselleck ist empört und zwar über die Verschmutzung der Weltmeere durch die Ölkonzerne und die von ihnen fahrlässig verursachten Umweltkatastrophen. Wir nehmen diese Katastrophen immer als quasi singuläre Ereignisse wahr, aber in Wirklichkeit ist es eine einzige fortgesetzte Katastrophe.[17] Das erinnert an Walter Benjamins Deutung des Engels der Geschichte:

Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“[18]

Bei Ruppe Koselleck sind es nicht Trümmer, die unablässig vor seine Füße geschleudert werden, sondern Klumpen von Öl, die an den Stränden dieser Erde angespült werden und die man zwar dokumentieren, aber nicht mehr reparieren kann. Und auch hier gilt: Das, was wir den Fortschritt nennen, produziert diese Trümmer.

Wie aber geht man damit um? Ruppe Koselleck möchte in einer künstlerisch-prophetischen Zeichenhandlung den britischen Konzern BP aufkaufen und ihn anschließend zerschlagen. Das Geld dazu organisiert er durch den Verkauf von Kunstwerken, die die Umweltverschmutzung durch BP zum Thema haben. Aktuell hat er bereits fast viereinhalbtausend der 18 Milliarden BP-Aktien erworben und wird daher vielleicht noch etwa 220 Jahre brauchen, um die angestrebte Aktienmehrheit zu bekommen. Das mag mancher für verrückt (meschugge) halten, aber auch die Zeichenhandlungen der biblischen Propheten sind ja in diesem Sinne ver-rückt, aus den Fugen geraten und neue Perspektiven eröffnend. Denn Ruppe Koselleck macht durch seine Zeichenhandlung sehr viele Aspekte zugleich deutlich. Zum einen natürlich, wie übermächtig die weltweiten Konzerne heute sind und wie wenig selbst eine konzertierte Aktion von engagierten Menschen dagegen ausrichten kann. Wenn alle 761.000 Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland für je 140.000 Euro Kunstwerke aus der entsprechenden Serie von Ruppe Koselleck kaufen würden, wäre BP bald zerschlagen. Denn das ist das zweite, was Koselleck mit seiner Aktion macht: er bindet die BürgerInnen als TeilnehmerInnen des Kunstmarktes potentiell in die Aktion ein. Jeder kann zum Erfolg der Zeichenhandlung beitragen, indem er Artefakte des Künstlers erwirbt, d.h. auf Ebay ersteigert. Sie werden werthälftig zum Kauf von Aktien eingesetzt.

Was ich an diesem Beispiel interessant finde, ist, dass die Aktion überhaupt nur als prophetische Zeichenhandlung Sinn macht. Weder zur Bereicherung des Künstlers, noch zur Veränderung der Kunstgeschichte eignet sie sich [Insofern man davon ausgeht, dass der Erwerb von BP notwendig scheitern muss]. Mit dem Kauf eines seiner Werke wird jedem deutlich, wie viel geschehen muss, um die Welt zu ändern. Dass aber theoretisch, wenn nur genügend Menschen mitmachen würden, dennoch Veränderungen möglich sind. Um diese zu erreichen, muss man nur am Veränderungsprozess teilnehmen. In diesem Falle, wenn man nicht selbst BP kauft, bei der Versteigerung der Artefakte auf Ebay mit zu steigern und so nicht nur ein Kunstwerk erwerben, sondern zugleich symbolisch Teil einer (fast biblischen) Zeichenhandlung werden [www.take-over-bp.com].

Was das konkret heißt und als wie interessant sich das erweisen kann, möchte ich an zwei der von mir erworbenen Artefakte zeigen. Es sind jeweils Rohölmalereien® über einer alten Aktie im Format DIN A 4.


(M)Ein Beispiel 1: Patino Mines & Enterprises Consolidated [F4/4782]

Die obige Abbildung ist eine Aktie, die optisch in etwa der entspricht, die Ruppe Koselleck als außerästhetisches Ausgangsmaterial für seine Bearbeitung verwendet hat. Sie ist nicht das Kunstwerk, sondern dessen Grundlage. Aber schon dieses außerästhetische Material, das mit dem Artefakt geliefert wird, ist sehr interessant. Denn natürlich fragt man sich sofort, auf welcher (symbolischen) Grundlage (mit welchem Material) das spätere Artefakt angefertigt wurde.

Im konkreten Fall lesen wir, dass es sich um 100 Aktien der Patiño Mines & Enterprises Consolidated handelt, registriert von der gerade frisch gegründeten bzw. fusionierten Chase Manhattan Bank (die ihrerseits im Jahr 2000 zur J.P. Morgan Chase & Co fusionierte, welche ein Viertel der BP-Aktien hält). Im Fall des Fotos oben wurde sie ausgegeben im Jahr 1955 an Dominick & Dominick, in dem von mir erworbenen Kunstwerk ausgegeben am 6. September 1956 an Bishop & Co. Schon allein das kann einen den ganzen Tag beschäftigen, wenn man einfach den so gelegten Spuren nachgeht. Wer ist eigentlich Dominick & Dominick? Das wäre, wie eine schnelle Recherche zeigt, eine New Yorker Beteiligungsgesellschaft, die seit 1870 existiert und auch europäische Niederlassungen hat. Der Eigner auf dem von mir erworbenen Blatt ist Bishop & Co und dürfte das erste hawaiianische Bankhaus sein, das 1858 von Charles R. Bishop gegründet wurde. Bei meinem Blatt hat Bishop & Co die Aktie, wie auf der Rückseite zu lesen ist, offenkundig im November 1957 an die Brokerfirma Loeb, Rhoades & Co. weiterverkauft. Der letzte Eintrag auf der Rückseite meines Blattes ist dann von der Bank of America im November 1985. Schon allein das gibt – ohne dass wir zum Kunstwerk selbst vorgedrungen wären -, interessante Einblicke in die Kapitalströme auf der Welt.

Wer aber hat die Aktie ausgegeben? Ich persönlich kannte den Namen Patiño bis dahin nicht und war dann doch ziemlich überrascht, was bzw. wer sich dahinter verbirgt:

The Patiño Mines & Enterprises Consolidated was registered in 1924 by Simón Ituri Patiño as a holding company in Delaware, USA, to bring together his interests in the Compañía Estañífera Llallagua, La Salvadora and the railroad of Machacamarca Uncía. His fortune began with the discovery of a very rich tin vein in 1900, at the La Salvadora mine, on the Llallagua hill (Department of Potosí). In the following years he acquired other mines and its fortune grew vertiginously. Around 1910 it had formed a powerful mining complex with the Llallagua, Catavi, Siglo XX, Uncía and Huanuni mines, among others. In addition, to transport minerals from its mines, he built the Machacamarca Uncía Railroad in 1911. Patiño was acquiring interests of Chilean miners in Bolivian mines through secret purchases in the stock exchange of Santiago (Chile). Once he managed to acquire the majority of the shares of the Compañía Estañífera de Llallagua, until then in the hands of Chilean capitalists. Patiño was known as The King of Tin and in the 1940s he was among the richest men in the world.[19]

Als ‚meine‘ nun bearbeitete Aktie 1956 ausgegeben wurde, war der berühmte Firmengründer Simón Ituri Patiño schon verstorben und seine bolivianischen Minen und sein bolivianisches Vermögen waren im Rahmen der bolivianischen Revolution verstaatlich worden. Da die Aktie aber in New York ausgegeben wurde, hat sie mit den bolivianischen Verhältnissen wohl nichts mehr zu tun. Dem könnte man nun weiter nachgehen, das soll an dieser Stelle unterbleiben.

Feindliche Übernahme von BP
"Stock With Red Dot / TAKEOVER BP 2018"
Originalaktienfrottage mit rohem Öl, ca. DIN A 4 Papier
Nr.: F04 / 4782
Ruppe Koselleck 2018

Die 1978 entwertete Originalaktie des amerikanischen Minenunternehmens -  PATINO MINES & ENTERPRISES CONSOLIDATED - erstgezeichnet am 6. September 1956 - wurde am 9. Dezember 2018 mittels rohem Öl aus Mississippi und Alabama in eine TAKEOVER BP Aktie umgewertet.

Die Teerklumpen, mit denen das BP Logo eines in die Jahre gekommenen Benzinkanister übertragen wurde, sind Fundschmutz vom Strand aus Long Beach Mississippi und Gulfshores Alabama - einem wunderschönen Naturschutzgebiet an der Golfküste.

Alle Arbeiten aus dieser Serie, dienen dem Zweck der Feindlichen Übernahme von BP.*

Das hier verwendete Rohöl kann der Deepwater Horizon Katastrophe von BP im Golf von Mexiko zugewiesen werden. Nach BP folgt Shell, gazprom u.w.s.a.h.

Ruppe Koselleck hat die alte, inzwischen natürlich eingelöste Aktie nun in seinem Sinne bearbeitet. Sie wurde mit Hilfe eines alten Benzinkanisters mit zwei BP-Stempeln versehen, deren „Druckfarbe“ aus Rohöl und Teer aus Fundstücken an bestimmten Küsten besteht, in meinem Fall „Crude Oil of Mississippi 2010“ und „Crude Oil of Alabama 2010“. Beide Angaben verweisen uns auf eine der größten Umweltkatastrophen der jüngeren Geschichte, die Deepwater Horizon Katastrophe im Jahr 2010. In der Folge kam es zu einer Ölpest im Golf von Mexico, deren Folgen bis heute an den Stränden auffindbar sind.[20] Die vom 20. April bis zum 16. Juli 2010 aus dem Bohrloch im Macondo-Ölfeld in den Golf von Mexiko ausgetretene Ölmenge wird auf 800 Millionen Liter geschätzt. Ursache der Katastrophe ist fahrlässiges Verhalten: Aus internen Dokumenten des BP-Konzerns geht hervor, dass zur Abdichtung des Bohrlochs trotz Warnungen von Fachleuten bewusst eine kostengünstige Methode mit größerem Risiko von Gasaustritt gewählt wurde.  So verweisen uns die Eintragungen von Koselleck auf seinem Kunstwerk auf all die Umweltverbrechen der Ölkonzerne überall auf diesem Planeten, sie sind nicht nur auf das Kunstwerk, sondern buchstäblich in die Welt eingeschrieben.


 (M)Ein Beispiel 2: John Blair & Company [F03 / 4782]

Die obige Aktie ist wieder eine Aktie, die optisch in etwa der entspricht, die Ruppe Koselleck als außerästhetisches Ausgangsmaterial für seine künstlerische Bearbeitung meines zweiten Kunstwerks verwendet hat. Ich gehe wieder so vor wie beim ersten Blatt und suche zunächst Informationen über die ausgebende John Blair & Company. Dabei finde ich Folgendes:

Die Gesellschaft wurde 1935 gegründet und in Delaware eingetragen. John Blair & Company war ein landesweiter Verkaufsrepräsentant für viele Radio und Fernsehgesellschaften der ganzen USA (primär Verkauf von Werbezeit bei den Sendern). Man wuchs zur größten Firma dieser Art mit 12 Verkaufsagenturen und Offices in allen großen Städten des Landes. Die Gesellschaft besaß ebenfalls eigene Fernsehstationen, Druck- und Verlagshäuser und die größte Firma für Direktmarketing und Direktwerbung des Landes. Alle derzeit am Sammlermarkt bekannten Aktienversionen von John Blair fallen durch besonders attraktive Vignetten auf.

In der New Yorck Times von 1983 finde ich einen Nachruf auf den Firmengründer, der damals 83jährig starb.[21] Zu diesem Zeitpunkt war seine Firma, wie die NYT schreibt, „$322 million“ wert. Mein Zertifikat, das der Arbeit von Koselleck zugrunde liegt, wurde am 15. September 1969 ausgegeben und umfasst wiederum 100 Aktien. Ausgegeben wurde es laut Eintrag auf dem Zertifikat an eine Mrs. Jeannette Mereski, Cust. Und in diesem Augenblick entwickelt das Kunstwerk von Ruppe Koselleck eine Dynamik, die ich vorab so nicht für möglich gehalten hätte.

Denn nach Eingabe ihres Namens stoße ich zunächst in der Google Buchsuche auf ein Buch, in dem über die Kontroversen über den Bau einer Avenue in Savannah, im US-Staat Georgia berichtet wird. Mit dokumentiert sind Protestschreiben, die Betroffene eingereicht haben. Und eine der Betroffenen heißt Jeannette Mereski. Das könnte nun simpel ein Zufall sein, denn es gibt sicher einige Menschen dieses Namens auf unserem Planeten und auch in Amerika. Aber am Ende ihres Briefes steht eine originale Unterschrift und sie ist, das hat mich wirklich umgehauen, mit der Unterschrift auf meinem Zertifikat identisch. Bei der Unterschrift steht ihre Adresse, so dass ich – bei dem weiten Konzept von Informationsfreiheit, das es in Amerika gibt – in Minutenschnelle auf das Baujahr und des Erwerbsjahres ihres Hauses und dessen Kosten und weitere aktuelle ökonomische Werte stoße. Ich werde über ihren Mann (Korea-Veteran), ihren Glauben (Unitarier), ihre politischen Aktivitäten (Anti-Rassismus, Denkmalkultur, Anti-Dronenkrieg) usw. informiert. Es ist eine Glaskastenwelt in der wir leben. Selbst ein aktuelles Foto der früheren Zertifikatseignerin aus dem Jahr 2017 finde ich. Es füllt sich sozusagen mit Leben. Insgesamt passt die Biographie durchaus zur öko-politischen künstlerischen Zeichenhandlung von Ruppe Koselleck.

Ansonsten ist das Zertifikat natürlich mit vielen weiteren Bankbeurkundungen und Firmenstempeln ausgestattet. Der am häufigsten sich wiederholende Stempel ist der von „Merrill Lynch, Pierce, Fenner & Smith Incorporated“. Das ist eine Tochtergesellschaft von Merrill Lynch, die sich auf die Beratung von vermögenden Privatkunden spezialisiert hat. 2006 fusionierte Merrill Lynch mit BlackRock (einem weiteren größeren Anteilseigner von BP), wodurch sie zum weltgrößten Asset Management-Unternehmen mit verwalteten Vermögenswerten wurden.[22] 2008 fusionierten Merrill Lynch und Bank of America. Ich lerne also so etwas über Wirtschaftsgeschichte (samt ihren Beziehungen zu deutschen Politikern, die Parteivorsitzende werden wollten).

Feindliche Übernahme von BP
"John Blair & Comp. 1969/ TAKEOVER BP 2018"
Rohölcollage auf DIN A4 Papier
Nr.: F03 / 4782
Ruppe Koselleck 2018

Eine mit rohem Öl überarbeitete Aktie der John Blair & Comp. 1969.  - das Papier entspricht dem Wert von 100 Aktien / a ONE Dollar - wird am 27. November 2018 - 49 Jahre nach seiner Entwertung am 15. September 1969 - in ein Kunstwerk transformiert und neu verkauft. Die Originalaktie trägt einen roten rohölverschmierten Punkt am Rande des pittoresken Wasserturmes nahe der Meeresbrandung. Rückseitig ist das schmierige Wertpapier von Ruppe Koselleck sowie einigen Bänkern signiert, u.a. von Jurhodan / N.Y.S.E. - New York Stock Exchange, Merry Lynch, ...

Alle Arbeiten aus dieser Serie, dienen dem Zweck der Feindlichen Übernahme von BP.

Das hier verwendete Rohöl kann der Deepwater Horizon Katastrophe von BP im Golf von Mexiko zugewiesen werden. Nach BP folgt Shell, gazprom u.w.s.a.h.

Ruppe Koselleck hat diese historische und inzwischen natürlich entwertete Aktie wieder künstlerisch überarbeitet, sie mit den Folgen der Umweltkatastrophe kontaminiert und zu einem Kunstwerk seiner take-over-bp-Serie gemacht.

Im konkreten Fall enthält sie neben den uns nun schon bekannten Öl-Stempeln von BP auch eine der Firma Esso. Zugeordnet werden die drei Stempel durch ihre Druckfarbe „Crude Oil of Alabama 2010“, „Crude Oil of Florida 2010“ und handschriftlich einer weiteren Ölkatastrophe. Esso gehört zum amerikanischen Konzern ExxonMobile, der fast die dreifache Marktkapitalisierung wie BP hat und zu den toxischsten Firmen dieses Planeten gehört.[23] Ökologisch ist vor allem die Havarie der Exxon Valdez in Erinnerung, ein Öltanker, der am 24. März 1989 vor Alaska auf Grund lief und bei dem 2000 Kilometer Küste durch 37.000 Tonnen auslaufendes Rohöl verseucht wurde.

Ich glaube, anhand der beiden vorstehend aufgeführten Beispiele (denen man ohne Probleme noch viele andere aus der Serie takeoverbp beigesellen könnte), ist der Charakter dessen, was ich als eine künstlerisch-prophetische Zeichenhandlung bezeichnen würde, deutlich geworden. Jedes Mal geht es um eine künstlerische Überschreibung, die sich nicht im Akt der Überschreibung erschöpft, sondern über das Kunstwerk hinaus auf größere gesellschaftliche Zusammenhänge verweist.


„Über den künstlerisch-religiösen Dialog im Zeitalter der Postironie“

Ich will nun, bevor ich abschließend auf eine weitere Zeichenhandlung des Künstlers eingehe, noch kurz Notizen zur pastoraltheologischen und religionspädagogischen Relevanz schreiben. Wir leben in einer Zeit, in der spezifisch religiöse Zeichenhandlungen im biblischen Sinn eher selten geworden sind. Wenn aktuell von religiösen Zeichenhandlungen gesprochen wird, dann sind sie von naiv unbekümmerter Simplizität, etwa die Schwerter-zu-Pflugscharen-Aktionen (die eher eine politische als eine prophetische Aktion war) oder die Kerzenprozessionen bei irgendwelchen Protestaktionen. Richtig prophetisch im zuvor beschriebenen Sinne (eine Zeichenhandlung ist eine Aktion, die einen Bedeutungsgehalt darstellt, der nicht mit dem Ziel der Hand­lung selbst identisch ist) ist daran wenig. Es muss daher durchaus im pastoraltheologischen und religionspädagogischen Interesse sein, sich dort umzuschauen, wo die Spezialisten für vorausblickende Geistesgegenwart in der aktuellen gesellschaftlichen Rollenverteilung tätig sind. Und das sind seit der Aufklärung die Künstlerinnen und Künstler. In diesem Sinne haben Dietrich Neuhaus und Otfried Schütz vor 20 Jahren im vierten Heft des Magazins für Theologie und Ästhetik über Protestantismus und Gegenwartskunst geschrieben:

Gott ist ein Gott der Gegenwart: "Denn siehe, ich bin da!" (Jes 52,6). Was für Gott selbstverständlich ist, ist für Menschen sehr schwer: in der Gegenwart ankommen. Gegenwart ist scheinbar etwas sehr Einfaches, weil sie jetzt gerade da ist und sich ereignet.

Um aber zu verstehen, was die Menschen der Gegenwart bewegt was der gegenwärtige Stand der Dinge und was der Lauf der Zeit ist, sind Wahrnehmungen und Erfahrungen nötig, die Gegenwart noch näher qualifizieren als nur als Zeitpunkt, der sich gerade ereignet. In der Gesellschaft sind viele Institutionen damit beschäftigt, Gegenwart zu bestimmen: Medien durch ständige aktuelle Informationen, politische Einrichtungen durch Problemanalysen und Lösungsstrategien, kulturelle Einrichtungen durch Aufgreifen und Gestalten von Atmosphären und Stimmungen. Kunstwerke sind ein Versuch, qualifizierte Gegenwart herzustellen: Sie nehmen Atmosphären auf, ziehen Verbindungslinien in die Vergangenheit, reflektieren und gestalten sinnliche Wahrnehmungen und nehmen damit eine Qualifizierung von Gegenwart vor, die weit über eine bloße Orientierung an oberflächlicher Aktualität hinausgeht. Religion ist in vielfacher Weise an qualifizierter Gegenwart interessiert. Sie will von Gott angemessen in der Gegenwart sprechen. Sie will das religiöse Leben heutiger Menschen gestalten und leiten. Sie steht damit in praktischer Hinsicht unter sprachlichen und raum-zeitlichen Gestaltungszwängen, um ihrem Auftrag und ihren Aufgaben gerecht zu werden.

Besonders religiöse Institutionen wie die Kirche neigen aber zum Festhalten an einmal gefundenen, tradierten Strukturen und Einstellungen: Sie sind besonders widerständig gegen Veränderungen. Dies hat seinen guten Grund darin, daß es eben ihre Aufgabe ist, religio (Rückbindung) herzustellen. Darin liegt aber auch eine Gefahr, daß nämlich die religiöse Institution den Kontakt mit der Gegenwart verliert.

Damit Religion ihren Auftrag angemessen und gegenwartsbezogen erfüllen kann, ist sie am Dialog und der Gewinnung einer qualifizierten Gegenwart interessiert und beteiligt. Dies ist nicht zuletzt ein Dialog mit der Gegenwartskunst. Unter den Vorzeichen der Autonomie der Kunst kann es dabei nicht um Vereinnahmung und nicht um Funktionalisierung gehen. Von kirchlich-religiöser Seite aus ist etwas ganz Einfaches zu entwickeln: eine Ethik der Gastlichkeit in pragmatischer Absicht. Es geht darum, die Türen von Kirche und Gemeindehaus zu öffnen, Gegenwartskunst in ihnen zu präsentieren, bisweilen auch den Kirchenraum von Künstlern gestalten zu lassen und dabei den verschlüsselten Erkenntnissen nachzuspüren, die in den Kunstwerken eröffnet werden. Der lebendige Gott ist ein Gott der Gegenwart. Die lebendige Religion ist eine gastliche Herberge auf dem Weg in die Gegenwart.[24]

Darum geht es, wenn man die Perspektive der Gemeinde bzw. der Theologie einnimmt. Zugespitzt gesagt: die Kirche ist auf die Kunst, nicht aber die Kunst auf die Kirche angewiesen.[25] Und dieser Verweis ist einer auf die Geistesgegenwart, derer man mit Hilfe der Kunst ansichtig werden kann.

Was aber legt die Interventionen der Künstler gegenüber dem Raum der Kirche nahe, dem Ein-Bruch in den Leib Christi?[26] Im Gespräch mit Andreas Brenne hat sich Ruppe Koselleck „Über den künstlerisch-religiösen Dialog im Zeitalter der Postironie“ geäußert.[27]

Die vollkommene Unsichtbarkeit Gottes oder auch nur die Ahnung einer spekulativen Instanz oder „Ursache" hinter der Folie unserer alltäglichen Wirklichkeitsauffassung faszinierte zu allen Zeiten und stellt ein zentrales Schaffensmotiv von Künstlerinnen und Künstlern jenseits aller zeitepochalen konfessionellen, religiösen oder gesellschaftlichen Fragestellungen dar. Künstler/-innen produzieren Werke und Oberflächen, die sich auf der Ebene einer offensichtlichen Wahrnehmung bewegen, aber es ist nachgerade eine zentrale Eigenschaft von Kunstwerken, dass sie sich dort nicht erschöpfen, geschweige denn ausdeuten und „sehen" lassen. Das Gesehene und Gedachte, das Erahnte und Gefühlte, das analytisch Entdeckte und das emotiv Erlebte umschreiben den Prozess der aktiven kontextuellen Wahrnehmung von Kunstwerken.

Im besten Fall bereichern sich die religiöse und die ästhetische Erfahrung gegenseitig, im kritischen Fall fordern sie sich gegenseitig heraus. Immer geht die ästhetische Erfahrung insofern über die religiöse hinaus, als sie davon abweichende Wahrnehmungen nicht nur zulässt, sondern notwendig provoziert. Immer geht die religiöse Erfahrung über die ästhetische hinaus, insofern sie diese in einen Deutungsrahmen stellt, der eben nicht aus dem Ästhetischen selbst kommt. "Das wagt doch der Mensch in der Kunst: die gegenwärtige Wirklichkeit in ihrem schöpfungsmäßigen Das-Sein, aber auch in ihrem So-Sein als Welt des Sündenfalls und der Versöhnung nicht letztlich ernstzunehmen, sondern neben sie eine zweite, als Gegenwart nur höchst paradoxer Weise mögliche Wirklichkeit zu schaffen" (Karl Barth).


Post-Skriptum: First Last Supper

Ruppe Koselleck hat sich aber, und damit komme ich zu meinem abschließenden Beispiel, nicht nur mit sozialkritischen Fragen wie der Umweltverschmutzung durch Ölkonzerne wie BP oder ExxonMobile auseinandergesetzt, sondern in einigen Arbeiten auch mit dem, was man zumindest auf den ersten Blick eine zentrale religiöse Frage nennen könnte: dem Abendmahl.

Zum Abschluss deshalb noch ein Blick auf seinen (post) ironischen Versuch, einen ganzen Ameisen­staat durch ein Erstes Letztes Abendmahl im Vollzug der Einverleibung zum Christentum zu ‚bekehren‘. Diese auf einem pointiert und bewusst wörtlichen Missverständnis des Abendmahls basierende künstlerische Auseinandersetzung ist nicht ganz neu, insbesondere in den 70er- und 80er-Jahren haben nicht nur Künstler, sondern auch Philosophen, Religionswissenschaftler und Theologen damit experimentiert – exemplarisch sei etwa Harald Duwes Abendmahl von 1978 genannt.[28] In seiner Ironie ist die Arbeit von Koselleck vergleichbar mit künstlerischen Infragestellungen der Religionskonflikte im 17. Jahrhundert, wenn etwa auf einem anonymen Gemälde der Friede Luther, Calvin, den Papst und einen Wiedertäufer zum gemeinsamen Mahl einlädt, und keiner des anderen Speise essen will, sondern seine Eigene mitbringt, jeder sich also bloß seine eigene Theologie einverleibt.

Kommen wir nun zu Ruppe Kosellecks „First Last Supper” aus dem Jahr 2012:

Der erste Versuch einer nachhaltigen Christianisierung eines Ameisenstaates wurde am 9. Juni 2012 im Venner Moor unternommen. Mittels handelsüblicher Fischstäbchen der Firma Ja (Wer kann dazu schon nein sagen?) entwickelte Ruppe Koselleck ein eucharistisches Konzept, welches Ameisen mit kulinarischen Mitteln überredet zum christlichen Glauben überzutreten und sich die frohe Botschaft zur totalen Gänze einzuverleiben. Das Abendmahl für Ameisen entstand im Rahmen der Entwicklung von PKWs - unter einem PKW versteht Koselleck seit 1996 das Pädagogische KunstWerk, in dem Absicht, Wirken und Wollen zu einer ästhetisch hochwertigen Mischung geraten, die den Rezipienten wahrnehmend korrumpieren. Hier werden Mission und Auftrag im religiösen Sinne verstanden ...[29]

Das hat natürlich seinen eigenen ironischen Reiz und es ist höchst interessant, die Einverleibung und Anverwandlung visuell in dem kleinen Film zu verfolgen.

Dazu platziert Koselleck Fischstäbchen (quasi als Ersatzsymbol für das frühchristliche Ichtys) kreuzförmig auf einem Ameisenhügel und beobachtet mit der Kamera, was passiert. Ameisen sind ihrer Umwelt bewusste Tiere, sie können ihr Nest von Fremdkörpern reinigen, aber sich auch Nahrungsmittel aneignen. Was in diesem Falle nach und nach auch geschieht. Am Ende sind die Fischstäbchen vollständig durch die Ameisen einverleibt worden. Die post-ironische Anspielung ist klar, nur die theologische Deutung des Vorgangs dürfte kontrovers sein.

Als Theologe würde ich nachfragen, ob die Ameisen eines Missionswerk des künstlerischen Frohsinns[30] überhaupt nötig haben, werden sie doch in der hebräischen Bibel den Gläubigen bereits als Vorbild hingestellt, dem es nachzueifern(!) gilt. So fordert Sprüche 6, 6-9 die Saumseligen unter den Gläubigen unmissverständlich auf: „Geh hin zur Ameise, du Fauler, sieh ihre Wege und werde weise. Sie, die keinen Richter, Vorsteher und Gebieter hat, sie bereitet im Sommer ihr Brot, sammelt in der Ernte ihre Nahrung ein. Bis wann willst du liegen, du Fauler? Wann willst du von deinem Schlaf aufstehen?“ Und in Sprüche 30, 24f. (als sozusagen literarischer Vorform des Physiologus[31]) lesen wir: „Vier sind die Kleinen der Erde, und doch sind sie mit Weisheit wohl versehen: die Ameisen, ein nicht starkes Volk, und doch bereiten sie im Sommer ihre Speise.“ Mit etwas theologischer Ironie könnte man sagen, man kann allenfalls versuchen, die Ameisen mittels der Eucharistie katholisch zu machen, denn gut religiös und fast protestantisch sind sie bereits: fleißig, gebildet und keine Kleriker.[32] Ob sie durch das ihnen angebotene Abendmahl wirklich katholisch werden können, ist immerhin implizit ein fester Bestandteil des theologischen Diskurses seit der Frühscholastik, der unter der Überschrift „Quid sumit mus“ geführt wurde (weil Mäuse immer wieder in Tabernakel einbrachen und sich dort bedienten). Da ihnen nach katholischer Lehre aber die „intentio“ fehlt, werden auch die künstlerischen Versuche nicht fruchten. Aber versuchen kann man es ja, denn mit Paulus gilt ja: „Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt.“ Auch diese künstlerische Arbeit von Ruppe Koselleck bringt uns also als Zeichenhandlung auf einige theo-ästhetische Spuren, denen man nachgehen kann. Oder wie Koselleck es formuliert:

Das Fischstäbchenkreuz wird in seiner doppelten Symbolhaftigkeit (Fisch und Kreuz) auf seine auratische Kraft hin befragt und bleibt für mich insofern christlichen Interpretationsmustern offen, als es mir weniger um die Blasphemie als vielmehr um die Kräfte geht, die aus religiöser Zuweisung erwachsen bzw. ihr zugewiesen werden. Als Künstler befrage ich Auren in ihren Rezeptionszusammenhängen, ohne dabei Antworten zu geben. Der „Witz" des Fischstäbchenkreuzes wandelt seine Wirkung auf dem Weg vom Wald ins Video, vom Video ins Web zum zufälligen User, der auf das Ameisenabendmahl stoßen wird. Die subversive Kraft religiöser Konnotationen stellt sich durch die flüchtigen Konsumgewohnheiten der User in Frage. Kann das, was den Ameisen nicht egal, weil lecker ist, den Menschen berühren? Ist das Ritual des Abendmahls eine glaubhafte Wandlung des Leib Christi in eine Oblate? Was unterscheidet die Annahmen? Gibt es eine virale Auratik im Web?

Anmerkungen

[2]    Vgl. etwa Ahmed Hussein Deedat, der sich über den nackten Jesaja lustig macht, anscheinend ohne die muslimische Literatur über Jesaja zu kennen. https://www.youtube.com/watch?v=zoSK_wAALZM

[3]    Ich bin kein Experte, aber unter der Stichwortkombination von Zeichenhandlung und Koran bin ich nicht fündig geworden, es sei den im Rückbezug auf die jüdischen Propheten. Vielleicht liegt es daran, dass für Muslime diese Zeichenhandlung so merkwürdig ist.

[5]    Ebd.

[6]    Ebd.

[7]    Vgl. dazu die modernen Überlegungen in https://www.wissenschaft.de/umwelt-natur/energie-aus-dem-klo/

[18]   Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX

[20]   Vgl. dazu Liu, Yonggang; MacFadyen, Amy; Ji, Zhen-Gang; Weisberg, Robert H. (2013): Monitoring and Modeling the Deepwater Horizon Oil Spill. A Record Breaking Enterprise. Hoboken: Wiley (Geophysical Monograph Series).

[24]   Schütz, Otfried; Neuhaus, Dietrich (1999): Vor dem Kunstwerk. Protestantismus und Gegenwartskunst. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 1, H. 4. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/04/dnos1.htm.

[25]   Pragmatisch sieht es natürlich andersherum aus wie der Künstler Georg Meistermann vor dreißig Jahren sarkastisch anmerkte. De facto verzichten die Kirchenvertreter im 20. Jahrhundert auf die Wahrnehmung der Künste. Mertin, Andreas; Meistermann, Georg (1988): Erfüllt von allen Sinnen. Georg Meistermann: Ein Künstler im Gespräch. In: Andreas Mertin und Horst Schwebel (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, S. 124–134.

[26]   Mertin, Andreas (2006): Ein-Bruch im Leib Christi. Künstlerische Rauminterventionen und ihre religionspädagogischen Konsequenzen. In: Thomas Klie und Silke Leonhard (Hg.): Schauplatz Religion. Grundzüge einer performativen Religionspädagogik. 2. Aufl. Leipzig: Evang. Verl.-Anst., S. 234–251.

[27]   Brenne, Andreas; Koselleck, Ruppe (2015): Von Cola Kreuzen und Ameisenstaaten. Über den künstlerisch-religiösen Dialog im Zeitalter der Postironie. In: Claudia Gärtner, Andreas Brenne, Maike Aden, Rita Burrichter, Reinhard Hoeps, Guido Hunze et al. (Hg.): Kunst im Religionsunterricht - Funktion und Wirkung. Entwicklung und Erprobung empirischer Verfahren. 1. Auflage. Stuttgart: Kohlhammer, 297-308.

[28]   Vgl. dazu die Beiträge in Schwebel, Horst; Schmidt-Ropertz, Heinz Ulrich (Hg.) (1982): Abendmahl. Zeitgenössische Abendmahlsdarstellungen; Marburg: Institut für Kirchenbau u. Kirchliche Kunst der Gegenwart.

[31]   Treu, Ursula (1998): Physiologus. Frühchristl. Tiersymbolik. 3. Aufl. Hanau: Artia-Verl.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/117/am655.htm
© Andreas Mertin, 2019