Jacopo da Pontormo

Eine Collage zu einem Tagebuch

Andreas Mertin

Jacopo da Pontormo

Jacopo da Pontormo ist sicher eine der faszinierend­sten Ge­stal­ten der europäischen Kunst­ge­schich­­te, auch wenn er lange Zeit abgewertet und erst 1912 wiederentdeckt wurde. Der am 24. Mai 1494 in Pontormo (Empoli) geborene Künstler ist der Hauptvertreter des Manierismus, der zwar noch mit der Renaissance verbunden ist, aber die ersten Schritte über sie hinaus unternahm. 1508 kam Pontormo nach Florenz, wo er nacheinander Schüler von Leonardo da Vinci, Mariotto Albertinelli, Piero di Cosimo und Andrea del Sarto war. Kindlers Malereilexikon charakterisiert ihn so:

Jacopo Carrucci, der nach seinem Heimatort Pontormo genannt wird, war ein charakteristischer Repräsentant des toskanischen Manierismus. Die kompositorische und farbliche Kühnheit seiner Monumentalmalerei, die Feinheit seiner Porträts und die einfühlsame Strichführung seiner Körperstudien stehen gleichwertig nebeneinander. Pontormo verschmolz in ihnen verschiedenartige Einflüsse seiner Lehrer Leonardo da Vinci und Andrea del Sarto mit Anregungen durch Raffaels Spätwerk, Dürers Graphik und vor allem Michelangelos Malerei zu einer Eigenart, die den gleichaltrigen und jüngeren Florentiner Manieristen als Vorbild diente.

In seinem Spätwerk steigerte er diese Eigenart jedoch zu einer Manier, der niemand mehr folgte. Er war seit frühester Jugend ein Einzelgänger und blieb auch später ein weltabgekehrter Sonderling. Seine Junggesellengewohnheiten trug er in ein Tagebuch ein, das sich in der Nationalbibliothek zu Florenz befindet.[1]

Und das Seemanns Lexikon der Kunst vermeldet:

Sein Menschenbild ist … gebrochen, ekstatisch erregt, von tiefer Unruhe erfüllt, darin Widerspiegelung der Krise der Zeit, die Pontormo in Florenz im Kampf zwischen der Republik (für die Signoria malte er den Annen-Altar, Paris, Louvre, als Symbol der Republik!) und den Medici (von denen er seit seiner Jugend Aufträge erhielt) erlebte. … Er selbst wird als menschenscheu und vereinsamt geschildert. Spätwerke sind vor allem die Villendekoration in Careggi für Alessandro de'Medici, 1536 und die 1558 von Agnolo Bronzino vollendeten, von Pontormo 1546-57 geschaffenen Fresken im Chor von San Lorenzo, deren Christusbild (als Gnadengott, nicht als Richtenden!) Pontormo in die Nähe der valdesianische Strömung des Reformkatholizismus rückt.[2]

Das ist überaus bemerkenswert und macht neugierig auf sein Tagebuch.

Gustav René Hocke: Europäische Tagebücher

Gustav René Hocke (1908-1985) hat 1963 ein mehr als 1100 Seiten umfassendes Buchkonvolut zum europäischen Tagebuch vorgelegt[3]. Der Sender RIAS Berlin sagte damals über das Werk:

Es lassen sich wiederkehrende Züge feststellen, die Hocke als Grundmotive der europäischen Tagebücher bezeichnet. Selbst- und Weltbeobachtung, Steigerung und Auflösung der Person, Liebe, Erotik und Sexualität, Angst vor dem Nächsten und Kritik an der Umwelt, Zeugenberichte und Zeitkritik, diaristische Menschenkunde, schöpferische Probleme, philosophische Selbsterfahrung und Chronik des Absoluten – das sind einige Kapitelüberschriften, aus deren Reihenfolge schon entsprechend dem Bauplan des Werkes die zunehmende Freisetzung des innengeleiteten Menschentypus seit der Renaissance, die Verschärfung der Analyse des Selbst und der Umgebung, wachsende intellektuelle Schöpferkraft sowie die Rolle der transzendent bestimmten Selbstorientierung im Tagebuch erkennbar werden.

Beim Lesen der Anthologie nimmt man an Abenteuern des menschlichen Geistes teil in einer Intensität, wie sie literarische Kunstwerke weder vermitteln können noch sollen. Das Miterleben von Daseinsabläufen, von Entscheidungsqual, Glück und Verzweiflung, von Planung, Gefühlseruptionen, wägendem Urteilen und unreflektiertem Erzählen, die Lesefahrt quer durch eine bunte Folge autobiographischer Wetterberichte und Momentaufnahmen vermittelt Spannung, man sinkt tiefer in den Sessel und bemerkt den grauenden Morgen vorm Fenster nicht. Man ist dabei: Zauberformel einer in der mo­dernen öffentlichen Kommunikation zu­sammenschrumpfenden Welt.

Dabei zu sein im London der Samuel Pepys und James Boswell, ihr Vergnü­gen und ihren Kummer mitzuerleben im Spiegel ihres berichtenden Talents; chiffrierte Stürme der Emotion E. T. A. Hoffmanns, die rasende Ich-Genialität des Spätromantikers Waiblinger, die kühle Erörterung nagender Skrupel bei August von Platen zu verfolgen, und weiter: die ironische Hildegard von Spitzemberg vom Hof Wilhelms II. oder die Malerin Marie Bashkirtseff von sich selbst, von sich selbst und nur von sich selbst erzählen zu hören, die Verzweif­lung Klaus Manns, die tiefe Resigna­tion Gottfried Benns, die kühle Selbst­analytik Max Frischs lesend zu verfol­gen, mit Dietrich Bonhoeffer, Jochen Klepper, Tolstoi, Katherine Mansfield für Minuten zusammenzusein - hier schon liegt der unüberschätzbare Wert dieses Buches.

Und mitten in dieser Sammlung findet der Leser dann die Notizen aus den Tagebüchern von Pontormo, gekürzt nur um jene Passagen, in denen Pontormo seitenlang nur über Mahlzeiten berichtet, die er zusammen mit seinem Assistenten Bronzino einnimmt.

Der Kontext

Zur Zeit der Abfassung des Tagebuchs, also in den Jahren 1554 bis 1556, arbeitete Jacopo da Pontormo an der unteren Reihe der Fresken im Chor der Basilika San Lorenzo in Florenz. Die Komposition beschäftigte sich mit der Geschichte des Erlösers der Menschen, und man sagt, der Künstler habe eigentlich seinen Lehrmeister Michelangelo und dessen Jüngstes Gericht in der Sixtinischen Kapelle übertreffen wollen. Vasari, der die Komposition in seiner Biographie Pontormos beschreibt, erwähnt melancholische Szenen mit Leichen, die in Haufen aufgeschichtet sind.[4]

Pontormo erhielt den Auftrag von Herzog Cosimo I. um 1546, aber das Fresko war noch nicht fertig, als der Künstler am 31. Dezember 1556 (oder am 1. Januar 1557) starb, weshalb das Werk von Agnolo Bronzino, seinem Assistenten, fertiggestellt wurde. Die gesamte Komposition wurde jedoch um 1740 zerstört, als der Chor in San Lorenzo verändert wurde.

Wenn man das Werk heute imaginieren will, muss man sich neben dem Tagebuch und der Beschreibung durch Vasari auf eine Radierung in der Wiener Albertina und zahlreiche vorbereitende Zeichnungen in den Uffizien-Sammlungen beziehen.

Das in den letzten drei Lebensjahren von Jacopo da Pontormo geschriebene Tagebuch enthält neben Notizen zur subjektiven Befindlichkeit Anmerkungen zum Fortschritt seines großen Bildwerks, die von einigen schnellen Skizzen begleitet sind.

Diese kleinen Zeichnungen geben eine klare Beschreibung seiner Ideen für die Figuren oder Figurengruppen, an denen er zu dieser Zeit arbeitete, und verweisen zusammen mit den Anmerkungen zum Gemälde auf die großen Szenen für die untere Ordnung des Chors in San Lorenzo: die Flut, die Auferstehung von den Toten, das Martyrium von St. Laurence und die Himmelfahrt der Seelen.

Das Tagebuch

Der erste, im Buch von Hocke dokumentierte Satz lautet:

Heute, am 7. Januar 1554 fiel ich hin und verrenkte mir die Schulter und den Arm. Es ging mir schlecht, und ich blieb sechs Tage bei Bronzino; dann kehrte ich nach Hause zurück; bis Karneval fühlte ich mich nicht wohl, d.h. bis zum 6. Februar 1554.

Und das gibt ein wenig den Ton vor, denn im Folgenden geht es vor allem um Befindlichkeiten, die tägliche Nahrungsaufnahme und Körperbeobachtungen.

Wenn Pontormo auf seine Kunst eingeht, dann nur in dem Sinne, dass er anhand kurzer Notizzeichnungen darlegt, an welchen Bildelementen er gearbeitet hat.

Dieses Verfahren ist auf der nebenstehenden Abbildung gut zu erkennen. Sein Tagebuch ist sozusagen ein Erinnerungsbuch, anhand dessen sich Pontormo an das Fortschreiten seiner Arbeit, vor allem aber an Mahlzeiten und ihre Folgen erinnert.

Hier einmal ein längeer Eintrag:

Am Sonntag, dem 22., aß ich mit Bronzino. Und vorher, am 20., Fast-Freitag, hellte sich das Wetter bei gutem Wind auf. Es klärte sich, und es dauerte ganze acht Tage. Vorher hatte es einen Monat lang fast ständig geregnet. Mit starken Güssen, und die Wände wurden viel feuchter als ich mich je erinnere. Daher entstanden schlimme, niederschmetternde Erkältungen. Daher, wenn Du Dich in Deiner gewohnten Arbeit gestört findest, mit Kleidern, mit Koitus und zu viel Essen, kannst Du Dich - bei gutem Wetter - in wenigen Tagen schwächen, ja Dir sogar sehr schaden. Deswegen muss man im Juni, Juli und August bis Mitte September vorsichtig sein; vor Schweißaus­brüchen muss man sich hüten, vor allem vor dem Wind. Und wenn Du gearbeitet hast, musst Du mit dem Essen und Trinken aufpassen, da es so heiß ist. Von Mitte September bis zum Herbst werden die Tage zwar kürzer, aber auch feuchter. Des­wegen musst Du die viele Feuchtigkeit, die Du im Sommer ge­trunken hast, durch Fasten, langes Wachen und Arbeiten aus­gleichen. So bereitest Du Dich darauf vor, dass die Kälte des Winters Dir nicht schadet. Und hüte Dich vor Fleisch, vor allem vor Schweinefleisch. Von Januarmitte ab überhaupt keins mehr essen, denn es erzeugt Fieber; es ist übel. Lebe also in jeder Weise mäßig, denn die Säfte und die Erkältungen brechen im Februar aus, im März und im April, weil im Winter die Kälte sie einfriert. Und beachte, dass - je nach dem Stande des Mondes - auf Kälte Feuchtigkeit folgen kann, die alles Erfrorene auflöst; so sind viele üble Krankheiten entstanden, wie etwa Rheuma und andere schlimme Übel. Und alles das geschieht so, wenn man bei solcher Kälte zu viel gegessen und getrunken hat; die Kälte nämlich macht alles an sich erträglich und bekömmlich, doch wird bei milderem Wetter und bei Feuchtigkeit alles wieder erhitzt, so dass es sich ausdehnt und anschwillt. Also hüte Dich, wie ich es schon vorher sagte, vor Erkältungen, die dann innerhalb weniger Tage tödlich sein können. Wenn Du also im Winter zu viel Säfte hast, so halte Dich an obenerwähnte Regel. Erinnere Dich vor allem an den Vollmond im März bis zum Ende des fünften Zehntels, denn jeder zunehmende Mond ist schädlich, wenn einer zu angefüllt ist. Man muss also vorher aufpassen.

Erinnere Dich ferner an den 5. November 1555, denn das scheint mir nötig. Denn wenn ich Magenstörungen habe, Kopfschmerzen oder Ziehen in den Seiten, in den Beinen, Armen und Zähnen, so sollte ich es nicht wie früher machen. Ich sollte mich dann sofort mit Essen einschränken, nüchtern bleiben und mich nach den Jahreszeiten richten. Also die angeordneten Fastenzeiten beachten! Ich weiß nämlich, dass ich es sonst zu bereuen haben werde.[5]

Die Beobachtung des eigenen Körpers ist aber nicht allein ein Charakteristikum eines alternden Sonderlings, wie Gustav René Hocke zu dieser Passage in seinem Buch schreibt, sondern durchaus konkret auf den Arbeitsprozess bezogen. Wenn die Arbeitskraft (und Kreativität) an der Vitalität des Körpers hängt, wenn man nach Perioden der Pest in Florenz lebt, wenn jede Feuchtigkeit die Arbeit beeinträchtigt, dann werden scheinbar banale Dinge elementar wichtig. Pontormos Tagebuch enttäuscht, wenn man sich spektakuläre Einsichten in seinen Schaffensprozess erhofft, da ist es eher eine Dekonstruktion der Genie-Ästhetik, aber es ist interessant im Blick auf den Alltag der Kunst in der Mitte des 16. Jahrhunderts.

Am Dienstag machte ich den Putten-Kopf, der sich herabbeugt, und ich aß zu Abend 10 Unzen Brot; Varchi schickte mir ein Sonett.

Anmerkungen

[1]    Kindlers Malereilexikon, KML Bd. 4, S. 798f.

[2]    Lexikon der Kunst LdK Bd. 5, S. 690f.

[3]    Hocke, Gustav René (1986): Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie. 3. Aufl., 8.-12. Tsd. Wiesbaden: Limes Verl.

[4]    Dieser Abschnitt folgt der Darstellung der Ausstellung der Tagebücher Pontormos in Empoli: https://www.mega.it/pontormo/epontt.htm

[5]    Hocke, Europäische Tagebücher, S. 585f.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/117/am656.htm
© Andreas Mertin, 2019