Kognitive Dissonanzen

Polemische Notizen zur Umwertung der Werte durch „Trollgeschädigte“

Andreas Mertin

Mein Text über die Digitalisierung der Kirche (Was „Digitalisierung“ in der Kirche nicht heißen kann. Kursorische Notizen) ist – unerwarteterweise – auf ein reges Interesse gestoßen. Sowohl die badischen, die hessischen, die westfälischen, die nordkirchlichen als auch die bayrischen Pfarrerblätter haben ihn nachgedruckt. Das ist für einen Autor, der das kirchliche Geschehen eher von außen beobachtet, natürlich erfreulich. Ich erkläre mir das so, dass bei einigen Pfarrerinnen und Pfarrern doch ein Unbehagen an einer allzu aufdringlichen Digitalisierung der Kirche vorherrscht und natürlich auch ein Wissen darum, dass der Kern der christlichen Existenz sich nicht im Digitalen, sondern im Realen spiegelt. Und das Wort ward Fleisch.

Bei den internetaffinen Vertretern der Kirche ist der Text dagegen auf wenig Gegenliebe gestoßen. Das ist nachvollziehbar, denn ich bin sie ja im Text ziemlich polemisch angegangen (und halte auch nicht wirklich viel von ihnen und dem, was sie bisher geleistet haben). Da fühlte sich mancher Internet- und Social-Media-Beauftragte auf den Schlips getreten. Was ich nun erwartet hätte, wäre, dass man in der Sache geantwortet und Gegenargumente vorgetragen hätte. Davon habe ich freilich nichts gesehen. Man bleibt schlicht im Twitter-Modus. So war ein gewichtiger Einwand, dass ich statt #digitalekirche im Artikel # Digitale Kirche geschrieben hätte. Das mache ja deutlich, wie wenig Kompetenz ich hätte. Auf die Idee, dass diese Schreibung Absicht war, um bestimmten Automatismen zu begegnen, kam man nicht. Ich fühlte mich ein bisschen an den besserwisserischen Paul aus Woody Allens „Midnight in Paris“ erinnert, der andere Menschen immer an die richtige Aussprache erinnert, ansonsten aber ein ziemlicher Vollidiot ist (und in der Szene mit Carla Bruni auch noch das Falsche behauptet). Aber sei’s drum, jeder macht sich auf seine Weise lächerlich.

Dennoch hat etwas anderes an der losgetretenen Diskussion ein extremes Unbehagen bei mir erzeugt. Wolfgang Huber hatte sich vor kurzem kritisch zu Twitter geäußert und damit einen kleinen Shitstorm unter den „Digital-Klerikern“ ausgelöst.

Man polemisierte gegen den ‚alten Mann‘, der von Twitter nichts versteht (‚Troll emeritus‘). Und frau jubilierte, dass Twitter nun endlich die Hierarchien auf den Kopf stellt und ein Wissenschaftler wie Huber nichts mehr zu sagen habe: „Hier (wird) noch mal so deutlich, wie sehr Digitalisierung bisherige Hierarchien ad absurdum führt“. - „Ohja … das wird alles radikal auf den Kopf gestellt und dass ist herrlich. Es werden nicht mehr nur diejenigen Stimmen bekommen, die aufgrund ihres Amtes eine (laute) haben, sondern alle, die guten Willens sind.“ – „#socialmedia bricht Hierarchien! Wichtiger als ein Doktortitel o. eine Position sind am Ende eines Tages bei #Twitter die Inhalte!“

Selten so gelacht. Wo kämen wir auch hin, wenn Wissenschaftler und Doktoren etwas zu sagen hätten. So geht Stammtisch digital und es lässt Finsteres für die Zukunft der digitalen Kirche erwarten. Aber warum sollte es auch in der kirchlichen Diskussion humaner zugehen als in der außerkirchlichen?

Nun ist im Eulemagazin dazu ein Artikel erschienen, der wirklich menschenverachtend und herabsetzend ist. Das scheint derart die Sprache der digitalen Avantgarde zu sein, dass sie es selbst gar nicht mehr merken. So etwas nennt man vermutlich: durch Twitter sozialisiert.

Die Kirchen brauchen andere Digitalprominente. Es schadet ihrer Wirkung in den Sozialen Netzwerken, wenn vor allem ältliche Bischöf*innen sich meist kritisch zu dem äußern, was sie vom Digital mitkriegen und/oder verstanden haben. … Hubers Sätze, die er bei einer Diskussionsveranstaltung in Brandenburg an der Havel gesagt haben will, spielen mit einer latenten Verachtung des Digitalen vor allem bei den Älteren in der Kirche. Also dem Publikum, das beständig zu Podien mit Altbischöfen anrückt. Das macht Hubers Sätzlein zu einem kleinen populistischen Amuse-Gueule für die Verächter des Digitalen, die die Kirchen hierzulande reichlich bevölkern. Er spielt bewusst auf ihre Vorurteile gegenüber einer Welt an, die ihnen bisher verschlossen bleibt. Populismus, Provokation und das Ausweichen vor jedem sinnvollen Gespräch sind klassische Merkmale eines Troll-Postings. Huber schlüpft, ob bewusst oder unbewusst, in das Gewand des Trolls.

Abgesehen von der kruden Grammatik und den sinnfreien Formulierungen („Hubers Sätze, die er … gesagt haben will“), fällt doch eine extreme Form des Alters-Rassismus auf. Das hätte ich nicht erwartet. 1988, als der Autor des vorstehenden Zitats geboren wurde, waren die, die er kritisiert, schon längst im Netz aktiv. Nur weil man im schein-juvenilen Omnipotenz-Gestus jeden Älteren für einen Digitalabstinenten hält, muss das noch lange nicht zutreffen. Nein, lieber Philipp Greifenstein, wir sind als Ältere nicht vom Digitalen ausgeschlossen, wir haben die digitalen Welten mit entwickelt und gestaltet, als Sie noch nicht einmal im Kindergarten waren. Das ist die Realität. Lange bevor Sie wussten, was ein Computer ist oder gar das Internet, haben wir zum Beispiel mit Kolleginnen und Kollegen das rpi-virtuell geplant, entwickelt und ins Netz gestellt. Lange bevor Sie die ersten Schritte im Netz gemacht haben, haben wir „Alten“ die erste theologische Online-Zeitung gegründet und entwickelt. Der 1946, also 42 Jahre vor Ihnen geborene Professor Nethöfel, hat an derselben Universität, an der zuvor auch Wolfgang Huber Sozialethik lehrte, in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts Forschungsprojekte zur Digitalisierung der Kirche betrieben. Da waren Sie vielleicht gerade acht Jahre alt. Es wäre gut, wenn eine nachgeborene Generation nicht so geschichtsvergessen und überheblich wäre. Nein, Sie haben das Rad nicht erfunden!

Aber es geht noch überheblicher und unverschämter, denn Twitter ist ein Medium, in dem man schnell mal was dahinrotzen kann. So schreibt Lutz Neumeier:

Ich habe als Student @Prof_Huber wirklich sehr geschätzt. Leider verspielt er die Wertschätzung zur Zeit mit durch Unkenntnis sich selbst entlarvende Tweets u dann dem Schweigen statt sich der Diskussion zu stellen. SEHR schade. So geht #digitaleKirche nicht, Herr Huber. Lernen!

Adorno schrieb einmal in den Minima Moralia, „bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.“ Das scheint mir hier zuzutreffen. Was für eine Überheblichkeit gegenüber einem der renommiertesten deutschen evangelischen Theologen der Gegenwart. Selbst wenn das mit der Unkenntnis zuträfe, was es nicht tut, so äußert man sich als Pfarrer nicht. Hier artikuliert sich aus tiefstem Herzen die autoritäre Persönlichkeit, die es dem Professor einmal so richtig geben will. Ich habe versucht, von dem sich so Äußernden irgendeinen gehaltvollen theologischen Gedanken zu finden, bin aber nicht fündig geworden. In der evangelischen Theologie des 21. Jahrhunderts scheint er keine Rolle zu spielen. Wolfgang Huber dagegen schon.

Aber nehmen wir einmal ernst, was die Social Media Fans unter den Kirchenvertretern so von sich geben. Ich überlege mir, was passiert wohl in Zeiten der digital bedingten Umwertung aller Werte, wenn ein einfaches Gemeindeglied sich äußert und kritische Einwände gegen die Social-Media-Aktivitäten der bestallten Digital-Kleriker vorbringt? Wird man dann tatsächlich etwas von der Umwertung der Werte zu spüren kommen? Oder bleibt nicht doch alles beim Alten? Christoph Breit, seines Zeichens Social-Media-Pfarrer der bayrischen Landeskirche meint ein einfaches Gemeindemitglied harsch abbügeln zu können, weil es sich kritisch zu seinem Arbeitsfeld geäußert hat. Ich bin kein bestallter Pfarrer, kein Professor, sondern schlicht ein Mitglied der Evangelischen Kirche in Deutschland, genauer der westfälischen Landeskirche. Und ich habe als einfaches Gemeindemitglied, das die Entwicklung in seiner Kirche kritisch begleitet, einige Fragen zu neuen Entwicklungen, die sich aktuell abzeichnen. Wie werden die bestallten Kleriker in Zeiten der Social Media wohl darauf reagieren? Nun Christoph Breit schreibt, nachdem er meinen Text im bayrischen Pfarrerblatt zur Kenntnis nehmen musste: „Kann mir jemand erklären was [der] will?“ Hermeneutische Bemühungen sind heutigen Digital-Pfarrern kaum zuzumuten. Er hält meinen Essay von 35.000 Zeichen für einen Fortsetzungs-Roman. Textgattungen zu bestimmen, war einmal ein herausragendes Kennzeichen evangelischer Theologen. Das ist lange her. Ein Fortsetzungsroman war etwa „Wohin rollst du, Äpfelchen …“ von Leo Perutz mit dann doch über 250 Seiten Text. Keinesfalls aber ein knapper Essay, der unter „kursorische Notizen“ läuft. Aber für Twitterer sind mehr als 140 Zeichen eine Zumutung und fast schon ein Roman.

Was ich an Christoph Breits Artikulationen über Twitter interessant finde, ist, dass sich in der digitalen Welt offenkundig die altbewährten (katholischen) Hierarchien reproduzieren. Statt zu argumentieren, setzt man die Kritiker herab. Ob sie nun Lutz Neumeier oder Christoph Breit heißen, die bestallten Kleriker meinen sich über ihre Gemeindeglieder erheben zu müssen. Sie belehren und disqualifizieren sie (einfach nur kindisch, der will doch nur spielen). Das ist die neue protestantische Digital-Pfarrer-Un-Kultur des 21. Jahrhunderts. Ich habe von den Klein-Rednern auf Twitter aber auch nichts anderes erwartet. Nun könnte man sagen, nein, das ist nur ein äußerst marginaler Randbereich der evangelischen Kirche. Und das ist wahr. Niemand kennt diese Leute und wenn man ihre Diskussionen verfolgt, dann stellt man fest, dass es immer die Gleichen sind, die sich auf die Schultern klopfen und sich gegenseitig bestätigen.

Und wenn dann jemand Einwände erhebt, der älter als 50 Jahre alt ist, dann gehört er plötzlich zu den senilen Alten, denen die Welt des Digitalen verschlossen bleibt. Ich sehe nicht, dass einer von denen, die das schreiben, überhaupt in der Welt des Digitalen angekommen ist. Man ist doch nicht „digital“, weil man Twitter benutzt! Das scheint mir ein sehr vordergründiges Verständnis von „digital“ zu sein. Hier äußern sich eher „digital naives“ als „digital natives“.

Als Gemeindeglied der Evangelischen Kirche fordere ich das Recht ein, mich unabhängig von meinem Alter und unabhängig von meiner Teilnahme an Twitter oder anderem zur Digitalisierung der Kirche äußern zu können, ohne von Pfarrern herabgesetzt zu werden. Das alte katholische Argument, es bedürfe der kirchlichen Kompetenz, um sich in Kirchensachen zu äußern, trifft seit 500 Jahren nicht mehr zu. In unserer Kirche muss man sich nicht von kirchlichen Social-Media-Experten bevormunden lassen. Und auch jene älteren Gemeindeglieder, die vielleicht tatsächlich mit den neuesten digitalen Entwicklungen nicht mehr konform gehen (wollen), brauchen sich deshalb noch lange nicht beleidigen zu lassen oder sich verteidigen müssen. Es ist ihr religiöses und gesellschaftliches Recht. Mitreden dürfen und sollen sie trotzdem, das ist gerade das Charakteristische für den Protestantismus. Und ich bin wirklich wütend über diese neuartige klerikale Bevormundung im Protestantismus.

Es kein guter Weg, den die Huber-kritischen Shitstormer auf Twitter gehen. Sie sollten einhalten und überlegen, was sie da öffentlich von sich geben. Mich überzeugen sie bisher nicht. Ein wenig mehr Theologie des Digitalen wäre angebracht.

Fehdehandschuh

Ich lade Lutz Neumeier und Christoph Breit gerne ein, hier an dieser Stelle, in diesem Magazin, dem seit über 20 Jahren im Internet bestehenden E-Zine, substantielle theologische, sich auf Schrift und Bekenntnis beziehende Argumente für die Digitale Kirche vorzubringen.  Und das erschöpft sich dann nicht in 140 dahingerotzten Zeichen, sondern darf ruhig ein Essay mit 35.000 Zeichen sein. Als Ralf Peter Reimann 2003(!) in diesem Magazin zur Cyber Church zwischen Tradition und Postmoderne schrieb, waren es auch 46.000 Zeichen … Also: übertreffen Sie ihn!

Und anschließend lade ich Gemeindeglieder, Presbyter, Pfarrer und Dekane dazu ein, sich damit auseinanderzusetzen und zu erörtern, in welchem Verhältnis sich dies zur Wirklichkeit der evangelischen Kirche in Deutschland und vor allem der real existierenden Gemeinden und ihren Sorgen und Anliegen befindet.

Aber ich will Argumente hören, die nicht Gemeindeglieder diskriminieren, weil sie nicht Twitter nutzen oder irgendwelche Hashtags bedienen. Nein, ich will wirklich theologische Argumente lesen. Dann will ich ihnen auch gerne unpolemisch antworten. So lange bleiben sie aber das, was sie anderen vorwerfen: Trolle.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/117/am658.htm
© Andreas Mertin, 2019