Dies alles ...

Eine Erinnerung an ein Tagebuch

Andreas Mertin

Auch heute, 25 Jahre nach dem ersten Erscheinen dieses Tagebuches, überkommt einen eine tiefe Melancholie beim wiederholten Lesen. Auf der Rückseite des Buches zwei Notizen:

Alles, was ich schreibe, dient vielleicht nur dazu,
die Angst vor dem Sterben zu mildern.

Es geht in der Kunst nicht mehr um Kunst.
Es geht um unser Leben.

Damit ist der Ton angeschlagen, der die 400 Seiten dieses Tagebuches durchzieht. Eröffnet wird das Buch mit einer knappen Vorbemerkung:

Dies ist kein Buch ‚über Kunst‘, sondern ein Buch ‚mit Kunst‘. Dokument einer Erfahrung, die Kunst und Leben miteinander verbindet. Ich habe es geschrieben, weil ich immer noch eine Untersuchung zur Gegenwartskunst verfassen wollte. Dazu wird es nicht mehr kommen. Das Leben will es anders.

Wolfgang Max Faust schrieb das Buch in einer Situation, die nicht nur für ihn persönlich existentiell extrem zugespitzt war, sondern in der sich die gesamte kulturelle Szene in der Bundesrepublik Deutschland in einem Umbruch befand und sich neu definieren musste, nicht zuletzt, indem sie ihre bisherigen Überzeugungen kritisch überprüfen musste.

Wer war Wolfgang Max Faust?

Wolfgang Max Faust (* 8. Februar 1944 in Landstuhl; † 21. November 1993) war ein deutscher Kunsttheoretiker und Chefredakteur der Kunstzeitschrift „Wolkenkratzer“; ein Promoter und Kritiker der deutschen gestischen Malerei der 1980er Jahre. Faust promovierte an der Technischen Universität Berlin. Eine langjährige Lebensgemeinschaft und Freund­schaft teilte er mit Eckehard Kunz, dem Pfarrer der Berliner Martin-Luther Gemeinde. Faust nahm sich 1993 an den Folgen von Aids leidend das Leben. [Wikipedia, Stand: 28.01.2019]

Mir war Faust vor allem in Artikeln des Kunstforums International begegnet. Ich begann damals Anfang der 80er Jahre mich intensiver mit Bildender Kunst zu beschäftigen, war gerade von Berlin nach Marburg gewechselt und arbeitete seit 1983 am EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart. Zu dieser Zeit lehrte Heinrich Klotz als Kunsthistoriker in Marburg und lud in diesem Rahmen auch Vertreter der Neuen Wilden zum Studium Generale an die Universität. Und neben Heinrich Klotz war eben auch Wolfgang Max Faust ein wichtiger Gewährsmann für die Bedeutung dieser damals neuen Kunstrichtung. Und im Kunstforum International stellte er nicht nur die Neueste Malerei vor, sondern berichtete 1981 auch über ein Symposion unter dem Titel „1984 - Überleben durch Kunst“ mit Beiträgen von Joseph Beuys, Hans-Jürgen Syberberg, Alfred Hrdlicka, Heinz Klaus Metzger, Klaus Traube und anderen. Hier klingt schon das Thema des späteren Tagebuchs an. 1982 lieferte er im Kunstforum ein wunderbar kritisches Alphabet zur documenta 7 ab. Titel: Documenta: Haare in der Suppe. Kurz danach hat er, wie er in seinem Tagebuch schreibt, in New York seine ersten Zusammenbrüche. Aber erst 1987 wird festgestellt, dass er HIV+ ist.


Das Tagebuch

Das publizierte Tagebuch gliedert sich in drei Bücher plus Anhang. Es beginnt im Sommer 1992:

Dienstag, 9. Juni 1992: Berlin. Wieder ein herrlicher Sommertag
Solange es mir gutgeht. Schreiben – für mich und andere.

Das macht klar, dass dieses Tagebuch nicht als privates konzipiert ist, sondern von Anfang an als öffentliches. Es ist aber sowohl ein privates, intimes Tagebuch wie ein öffentliches Tagebuch im Sinne der Reflexion von Kunst, Kultur und Geschichte. Aufgebaut ist es wie eine Aphorismensammlung. Zwischendurch immer wieder kursivierte Zitate aus Zeitschriften und von berühmten Persönlichkeiten.

Die Vergangenheit muß neu erfunden, die Zukunft zum Besseren verändert werden. Beides macht die Gegenwart aus. Erfindungen hören niemals auf. – John Cage
***
Mich erfinden. Ernst machen mit dem, was ich weiß: Es gibt eine innere Stimme. Es gibt ein stummes Wissen. Es gibt keine Probleme, nur Veränderungen. Jeder Mensch weiß alles. Es gibt Wunschlinien und Wege. – Bejahen.

So füllt sich das Tagebuch, im Eingedenken und Nachdenken dessen, was Faust im Alltag passiert, was er liest, worüber er gerade schreibt und was ihm wichtig wird. Zwischendurch auch einmal eine ganze grau hinterlegte Seite mit einem kosmischen Gebet (S. 131) oder mein Lieblingsgedicht von Novalis (S. 169). Manchmal kommen einem die Tagebucheinträge ganz nah, etwa wenn Faust die Eisenbahnstrecke von Kassel nach Hagen kommentiert, die ich auch zur Vorbereitung der documenta-Begleitausstellungen 1997, 2002 und 2012 Monat für Monat gefahren bin. Oder wenn er die documenta 1992 von Jan Hoet besucht und von einer Tagung „Kunst – Vermittlung – Sprache“ berichtet, an der er teilnimmt. Vieles von dem, was er schreibt, hat sich heute eher zugespitzt, und könnte daher umstandslos wiederholt werden.

Privatheit als Sachbuchthema. Kunst, Erotik, Aids, Lebensformen, Obsessionen. Wann wird das Private uninteressant? Wann unerträglich? Wie weit kann ich gehen? – Das Private als exemplarische Handlung, als extrem subjektive Form der Zeitgenossenschaft …

Das steht auf den ersten Seiten des zweiten Buches, das zeitlich ein Vierteljahr nach dem Beginn des ersten ansetzt. Jetzt geht es häufiger um ärztliche Befunde und Arztbesuche. Und das zu schreibende Buch selber wird häufiger zum Thema. So schreibt Faust, wie er die Abfolge überhaupt organisiert, es sind andere Zeiten als heute:

Die Datei meines Computers für diesen achten Teil, an dem ich gerade schreibe, ist fast voll. Die Einteilung des Buches ergibt sich aus zwei Gründen. Ich schalte immer dann einen Zwischentext ein, wenn ich das Gefühl habe, jetzt brauche ich eine »Pause«. Außerdem richtet sich die Länge nach der Speicherkapazität meines Textprogramms.

Speicherkapazitäten sind heute kein Problem mehr, wohl aber die Frage, was man zu sagen hat, wer der Adressat ist und ob es gelingt, gegen die Entwicklung anzuschreiben.

Meine Leser. – Ich weiß nicht, wer sie sein könnten. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das Buch überhaupt veröffentlichen werde.

Die letzte Zeichnung im Buch zeigt zwei Menschen die auseinanderlaufen, während ein Kreis mit der Aufschrift „symbolon“ zwischen ihnen zerbricht. Dann bricht das Buch ab. Dies alles gibt es also: Alltag – Kunst – Aids.


Palimpsest

Ich habe mir das Buch von Faust, das ich früher immer in der Bibliothek des Marburger Instituts für Kirchenbau gelesen hatte, für diesen Artikel antiquarisch nachgekauft.

Als ich bis zum dritten Buch im Buch vorgedrungen war, fiel ein kleiner gefalteter Zettel des Vorbesitzers heraus. Dort standen zwei gegeneinander gesetzte Sätze zu lesen: and they lived happily ever after – tat twam asi. Letzteres ist Sanskrit und bedeutet: Das bist Du.



Kunst und Leben - Eine Erinnerung

Der folgende Text stammt aus Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Leben und zur Lebenskunst auf einer Tagung des Arbeitskreises Theologie und Ästhetik der Evangelischen Akademien Arnoldshain und Hofgeismar im Jahr 1994. Aus der Gegenüberstellung der Reflexionen von Theodor W. Adorno in den Minima Moralia und von Wolfgang Max Faust in seinem Tagebuch werden im Folgenden die sich auf Faust beziehenden Lektüren publiziert.

Mertin, Andreas (1999): Leben - Kunst - Lebenskunst. Zur Bedeutung der Kunst für das Leben. Zwei Positionen. In: Dietrich Neuhaus und Andreas Mertin (Hg.): Wie in einem Spiegel. Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik: Haag + Herchen GmbH, S. 271–277, hier S. 275-277.


Angesichts der Parusieverzögerung des romantischen Projekts der Versöhnung von Kunst und Leben, angesichts einer gescheiterten Beschreibung der Kunst als Form höherer Wahrheit, wird aktuell nach einer Neubestimmung von Kunst und Leben gefragt. Es geht um die De-Zentrierung der Kunst unter Anerkenntnis ihrer faktisch eingetreten Vergleichgültigung. Die Kunst bildet demnach keinen Fokus mehr, durch den die Probleme der Moral und der Ethik gebündelt werden können, das Leben selbst bzw. die Kunst des Lebens rücken ins Zentrum des Interesses.

In diesem Sinne kann das Wolfgang Max Fausts Tagebuch Dies alles gibt es also: Alltag, Kunst, Aids als dekonstruktiver Text zu Adornos „Minima Moralia“ gelesen werden. Dekonstruktiv, weil es zwar in vielem den „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“ konform geht, aber an entscheidenden Stellen Korrekturen vornimmt. Diese Korrekturen betreffen insbesondere das Verhältnis von Kunst und Leben. Immer wieder kreist Faust um jenen Satz, den Novalis 1798 in sein philosophisches Arbeitsbuch geschrieben hat:

Mensch werden ist eine Kunst.

Die Frage ist, was die Kunst zum Leben leistet, was der Beitrag der Künste zum Projekt Menschwerdung sein könnte.

„Auf bizarre Weise - so sehen wir im Rückblick - war die Kunst der Moderne für die westliche Zivilisation Hoffnung und Scheitern zugleich. Die Hoffnung verblaßt. Das Scheitern wird überdeutlich. Kunst zeigt sich zunehmend gebunden an das ungelebte Leben. Folgenlos bleibt ihr ‘ästhetischer Vor-Schein’. Nichts da von einer ‘gesellschaftlichen Antithesis zur Gesellschaft’“.

Die historische Investition Kunst, die sich die Menschheit geleistet hat, ist zu einem Abschreibungsprojekt verkommen, sie ist nur noch ‘Kunst’ und kein Leben mehr. Fausts Vorbehalt gegenüber der Kunst im Zeichen von Aids lautet:

„Kunst wird genau durch das, was sie zur Kunst macht - das Ästhetische -, in der Gegenwart fragwürdig. Sie kann das Ästhetische kaum noch überzeugend legitimieren. So entdecken wir überall eine Art Offenlegung der ‘Banalität des Ästhetischen’. Sie haftet der Gegenwartskunst als notwendiges Problem, als konstitutiver Bestandteil an“.

Was Faust als ‘Banalität des Ästhetischen’ beschreibt ist der Verlust des implizit immer unterstellten ethischen bzw. gesellschaftlichen Moments der Kunst:

„Die Kunst als utopisches Moment ist immer auch Lebenshilfe. Vor dem Hintergrund des Verschwindens der Kunst besitzt dies heute Züge einer Selbsttäuschung. Je deutlicher sich die Kunst verabschiedet, desto illusionärer wird das, was man auf sie projiziert“.

Stattdessen betont Faust immer wieder die Notwendigkeit des Übergangs von Kunst ins Leben:

„Das Leben ist nicht anderswo“ - „Kunst bleibt nicht Kunst“ - „Die Parole von Joseph Beuys ‘Jeder Mensch ein Künstler’ ist fatal. Sie suggeriert, daß dem Künstler nicht nur sein Werk, sondern auch sein Leben exemplarisch gelingt. Doch heute - im Enden der Moderne - zeigt sich: Kunst wird zur Garantie fürs ungelebte Leben.“ - „Nach der Überschätzung der bildenden Kunst - Charakteristikum der Moderne - entdeckt der Rezipient die Verflechtung von ‘Kunst und Leben’ neu. Es geht ihm nicht um Kunst, es geht um sein Leben“.

Zu den Illusionen der Moderne gehört die Überbetonung des Differenzgedankens. Faust möchte im Interesse des „Lebens“ Teile des ästhetischen Denkens der Moderne revozieren, vor allem den Gedanken der ästhetischen Negativität:

„Kunst läßt sich nur als ein kontextuelles Phänomen begreifen. Sie ist nicht das ‘ganz andere’. Jede ihrer Differenzen ist eine Maske. Wir schrecken davor zurück, die Kunst mit dem Alltag zusammenzudenken. Die Einheit von Kunst und Leben aber ist nicht Zukunft, sie ist stets Gegenwart. Teil einer Wirklichkeit, mit der sie sich sichtbar und unsichtbar verbindet“.

Auch autonome Kunst war nie von der Wirklichkeit getrennt:

„Die großen puristischen Entwürfe dieses Jahrhunderts - Kandinsky, Mondrian, Malewitsch - sind ‘Visionen der Reinheit’. Ihr Traum: daß sich ihr Erleben in Leben verwandelt ... Doch ihre Reinheit provoziert eine Selbstinfragestellung. Daß Mondrians Ästhetik zur Designvorlage für die ‘L’Oreal’-Haarkosmetikserie werden konnte, ist nicht nur ein gesellschaftlicher Mißbrauch. Selbst radikale Reinheit läßt sich entfremden, weil sie offensichtlich auch Momente der Entfremdung enthält“.

Aktuell ist die Kunst im Verschwinden begriffen, die Autonomie wird funktionalisierbar:

Im Laufe der Zeit wurde aktuelle Kunst zur Domäne der Theoretiker. Heute verschwindet die Kunst gleichsam in den Kommentaren, die sich hypertroph um sie herumlagern. Viele Künstler produzieren mit dem Blick auf das richtige ‘Theoriefeld’, das sie beschreiben soll. Doch die sekundäre Erfahrung schwächt die Kunst. Sie hilft ihr beim Verschwinden.“

Mit dem Verschwinden der Kunst werden aber auch Energien frei, die genutzt werden können. Was Faust vorschwebt, scheint eine Aufhebung der Kunst in das Projekt Menschwerdung zu sein: das real konstatierbare Verschwinden der Kunst in der Gegenwart soll in eine neue Konzeption von Lebens-Kunst transformiert werden. Die Kunst soll nicht mehr durch ästhetische Negativität ausgezeichnet sein, nicht neben dem Leben stehen, sondern, wie in den ästhetischen Avantgarden zu Beginn dieses Jahrhunderts, auf das Leben bezogen sein, sie soll ihre Sprengkraft im gelebten Leben erweisen. Damit ist zugleich eine Wiederkehr von Motiven der Lebensphilosophie vorgezeichnet, freilich - wie bei Adorno - unter umgekehrten Vorzeichen:

„Krankheit ist ein Negativum. Daß sie die Erfahrungen auszuweiten vermag, daß sie zu neuen Dimensionen des Denkens führt, daß sie ein ‘Mehr’ sein kann, wird kaum als Gewinn wahrgenommen. Doch genau darum geht: Ein Denken, daß sich der Krankheit anvertraut, besitzt die Chance, das ‘Gesunde’ als Konstrukt zu zeigen. Es wird zu einer unter vielen Möglichkeiten. Hinter der Favorisierung des ‘gesunden Diskurses’ steht nichts anderes als die Angst. Die Angst vor der Konfrontation mit dem anderen, vor dem Disparaten, den Widersprechen und Brüchen, die den Menschen ausmachen.“

Fausts - Adorno entgegegengehaltener - Gegengedanke „Es gibt ein richtiges Leben im falschen“ zielt darauf, die souveränen Gehalte der Kunst im Leben zur Geltung zu bringen statt sie dem Leben gegenüberzustellen, es gilt, die Potentialität der ästhetischen Subversion zu einer lebensweltlichen Realität werden zu lassen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/117/am659.htm
© Andreas Mertin, 2019