01. Februar 2019

Liebe Leserinnen und Leser,

in den letzten zwei Monaten ist viel passiert, was eine detaillierte Auseinandersetzung nötig machen würde. Die EKD-Synode zur Digitalisierung kann mit guten Gründen mit dem berühmten Bild vom kreißenden Berg und der geborenen Maus beschrieben werden. Wenn das das Ergebnis der Reflexionen zur Digitalisierung der Kirche sein soll, dann gute Nacht. Eine Webseite, eine Stabsstelle und viele markige Worte. Das wars. Angesichts der bisherigen Fehlschläge der Kirche zur Digitalisierung (2003: crossbot; 2009: Bibel-Twitterwettbewerb) durfte man vermutlich auch nicht viel mehr erwarten.

Fast übersehen wurde, dass der Kulturbeauftragte der EKD einen jüdischen Schriftsteller des "Holo-Kitsches" und der "Auschwitz-Legende" bezichtigt hat. Niemand in der Kirche (mit Ausnahme weniger westfälischer Kultur-Engagierter) protestierte ob dieses extremen sprachlichen Fehlgriffes und es bedurfte erst des energischen Protestes der Schwester des Angegriffenen, damit der Kulturbeauftragte sich entschuldigte und seinen Text zurückzog. [Als wenn das angemessen wäre und ausreichen würde.]

"Holo-Kitsch" war bisher ein Begriff, mit dem jüdische Kritiker (Henryk M Broder) und Künstler (Art Spiegelman) bestimmte Umgangsformen der Mehrheitsgesellschaft mit dem Holocaust kritisch beschrieben. Dass dies nun gegen jüdische Mitbürger gewendet wird, ist ein Skandal. Noch dramatischer sind Verwendung und Konstruktion der Wortkombination "Auschwitz-Legende". Nichts in der Debatte um die Äußerungen von Robert Menasse rechtfertigt diese Wortwahl - nichts! Dass ein Vertreter der Evangelischen Kirche 78 Jahre nach dem Stuttgarter Schuldbekenntnis sich zu derartigen sprachlichen Missgriffen verleiten lässt, ist schrecklich. Hier wurde nicht "zu scharf" formuliert, hier wurde in der Sache völlig danebengegriffen! Wir haben die sich nun häufenden sprach-kulturellen Ausfälle des Kulturbeauftragten mehrfach angesprochen (und dafür viel Kritik bekommen). Deshalb verzichten wir auf eine weitere Auseinandersetzung, erinnern aber zumindest an Überlegungen von Walter Benjamin aus seinen Geschichtsphilosophischen Thesen:

Vergangenes historisch artikulieren heißt nicht, es erkennen 'wie es denn eigentlich gewesen ist'. Es heißt, sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. Dem historischen Materialismus geht es darum, ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt. Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern.

Es gibt gute Gründe, Robert Menasses Äußerungen in diesem Licht zu deuten. Unter diesem Niveau sollten wir keine Auseinandersetzung führen. Mit Nietzsche (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) halten wir daran fest:

Wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders,
als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht.


Und nun zur aktuellen Ausgabe. In diesem Heft beschäftigen wir uns zunächst in der Rubrik VIEW mit dem Thema TAGEBÜCHER in allgemeiner und ganz besonderer Perspektive. Wolfgang Vögele geht systematisch dem Phänomen des Tagebuchs nach und macht dazu theologische Anmerkungen. Andreas Mertin erinnert zunächst an ein Tagebuch, das Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts die Kunstwelt erschütterte und zugleich die Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Leben stellte. Darüber hinaus holt er noch einmal das legendäre Tagebuch des Jacopo da Pontormo hervor, welches dieser während der Arbeit an einem Kunstwerk schrieb, das heute nicht mehr existiert.

Weitere Beiträge stellen die Kunst von Ruppe Koselleck als eine vor, die sehr an biblische Zeichenhandlungen erinnert, und beschäftigen sich kritisch mit einem religionskritischen Musikvideo aus der Ukraine.

In der aktuell eingeschobenen Rubrik FEED-BACK gehen wir Reaktionen nach, die auf Texte vergangener Hefte bezogen sind. Wolfgang Vögele greift noch einmal das Islam-Impuls-Papier der badischen Landeskirche auf, Andreas Mertin setzt sich mit Reaktionen auf seine Kritik an Chrismon und auf seinen Artikel zur Digitalisierung der Kirche auseinander.

Unter RE-VIEW stellt Hans Jürgen Benedict neues zur Wirkungsgeschichte von Luthers später Judenschrift vor.

Unter POST findet sich die religionspolitische Kolumne „Die schwarzen Kanäle“ von Andreas Mertin.

Das nächste Heft 118 des Magazins für Theologie und Ästhetik beschäftigt sich mit dem Thema "Inszenierung und Vergegenwärtigung". Inszenierung ist ein relativ junger Begriff, der sowohl Tendenzen der Gegenwartsgesellschaft charakterisiert, als auch Formen der Präsentation von Gegenwartskunst charakterisiert. Vergegenwärtigung ist dagegen ein seit 200 Jahren gebräuchlicher Begriff, der geschichtsphilosophische und theologische Implikationen hat. Nicht zuletzt in den Diskussionen um Robert Menasse hätte eine Besinnung auf beide Begriffe Sinn gemacht. Aber auch grundsätzlich wäre zu fragen, wie Geschichte erinnert und vergegenwärtigt werden kann. Wir laden zur Mitarbeit ein.

Für dieses Heft wünschen wir eine erkenntnisreiche Lektüre!

Andreas Mertin, Jörg Herrmann, Horst Schwebel und Wolfgang Vögele


Für die nächste Zeit sind folgende Themenausgaben geplant:

Heft 118 (April) befasst sich mit dem Thema "Inszenierung und Vergegenwärtigung"
Heft 119 (Juni) könnte sich Karl Barth widmen
Heft 120 (August) hat das Thema "Popkultur im Wandel".
Heft 121 (Oktober) trägt den Titel "Antiquariat"

Leserinnen und Leser, die Beiträge zu einzelnen Heften einreichen wollen, werden gebeten, sich mit der Redaktion in Verbindung zu setzen.

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