Tagebücher |
Eine notwendige DifferenzierungNeues zur Wirkungsgeschichte von Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“Hans Jürgen Benedict Leider erst ein Jahr nach dem Reformationsjubiläum ist Johannes Wallmanns Untersuchung „Martin Luthers Judenschriften“ erschienen (in der verdienstvollen „Studienreihe Luther“ des Luther Verlags Bielefeld). Wallmann, emeritierter Professor für Kirchengeschichte der Ruhr Universität Bochum, hatte vor fünf Jahren, als er aus der Feder von Margot Käßmann las, die evangelische Kirche habe bis zum 2. Weltkrieg unter dem Einfluss von Luthers später Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ gestanden, zum Reformationsfest 2013 in der FAZ einen gegenüber dieser Behauptung kritischen Artikel verfasst. Er trug den Titel „Die evangelische Kirche verleugnet ihre Geschichte“. Im Deutschen Pfarrerblatt 2014 hat er seine These dann noch einmal ausführlich begründet. Darin bestreitet Wallmann mit keinem Wort, dass Luthers späte Judenschriften unerträglich und durch nichts zu rechtfertigen seien. Auf Luthers Ratschlag zur Verbrennung der Synagogen hätten sich die Nationalsozialisten tatsächlich berufen können. Trotzdem sei er erst durch den radikal deutschchristlichen Thüringer Landesbischof Sasse zwei Wochen nach dem Pogrom vom 9./10. November der deutschen Öffentlichkeit bekannt gemacht worden. Und zwar in der Flugschrift „An Luthers Geburtstag brannten die Synagogen.“ Die meisten Christen aber wussten von dieser Luther-Äußerung nichts und kannten Luthers Spätschriften nicht. Indem die EKD-Synode sich in ihrer Bremer Erklärung 2015 wegen der späten Judenschriften zur Mit-Schuld Luthers an der Judenverfolgung bekannte, verleugnete sie, so zugespitzt polemisch Wallmann, ihre eigene Geschichte. Wofür er dann in seiner jetzigen Schrift noch einmal ausführlich den Beweis antritt. Wallmann kommt es in Übereinstimmung mit dem Wissenschaftlichen Beirat zum Reformationsjubiläum darauf an zu zeigen, dass Luthers Schrift von 1523 „Daß Jesus Christus ein geborener Jude sei“, das Vermächtnis Luthers sei, an das sich die evangelische Kirche 2017 zu erinnern habe, ohne die schwere Hypothek der Spätschrift zu relativieren. Luther übte 1523 scharfe Kritik an dem Umgang der Papstkirche mit den Juden, war aber in seiner Spätschrift wieder zu ihr zurückgekehrt. Mit der neueren Holocaustforschung, wie sie in Saul Friedländers großem Werk „Das Dritte Reich und die Juden“ (München 2006) zusammengefasst ist, heiße es von der noch von Raul Hilberg („Die Vernichtung der europäischen Juden“) vertretenen wirkungsgeschichtlichen Linie ‚Von Luther zu Hitler‘ Abschied zu nehmen. (Das hatte Wallmann schon 1983 in einem Vortrag im House of the American Jewish Committee in New York getan). Friedländer, der die Mitschuld der evangelischen Kirchen an der Judenverfolgung herausstellt, nennt Houston Stewart Chamberlain als Wegbereiter des Antisemitismus, Luther erwähnt er nicht ein einziges Mal. Wallmann konzentriert sich nach einer Skizze der mittelalterlichen Judenfeindlichkeit auf die Darstellung von Luthers Judenschriften mit jeweils längeren Zitaten, die er in vier Phasen unterteilt:
Wallmanns abwägende und differenzierte Argumentation geht vor allem auf die theologischen Motive Luthers ein. Seine Auseinandersetzung mit dem Judentum bedeute immer auch Kontroverse über das Alte Testament, das Luther christologisch liest, deswegen sein Festhalten an diesem (im Unterschied etwa zu dem traditionell judenfeindlichen Humanisten Erasmus, der es für entbehrlich hielt). Luther versucht im theologischen Mittelteil seiner Schrift aber den Juden zu beweisen, u.a. unter Hinweis auf das sogenannte Protevangelium Gen 3,15 , dass ihr Warten auf den Messias grundlos ein. Wenn sie ihn nur als diesen annehmen, sagt er sogar einmal, bräuchte es nicht unbedingt seine Anerkennung als Sohn Gottes. Wallmann weist darauf hin, dass dieses Festhalten am Alten Testament sich bis zu der mehrheitlichen Ablehnung der von den Deutschen Christen auf Sportpalastkundgebung vom November 1933 verlangten Abschaffung des Alten Testaments ausgewirkt hat. Die Deutschen Christen wären danach bedeutungslos geworden. Wallmann behandelt im 2. Teil seines Buchs die Wirkungsgeschichte der Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“. Er zeigt, dass diese antijüdische Spätschrift den Altprotestantismus bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges prägte, dass es allerdings auch in der lutherischen Hochorthodoxie des 17. Jahrhunderts bereits eine tolerantia limitata gab. So fragte der Magistrat der Stadt Hamburg, am Handel mit jüdischen Kaufleuten interessiert, 1611 bei den theologischen Fakultäten in Frankfurt/Oder und Jena an, ob Juden in christlichen Republiken zu dulden seien, was beide bejahten. Doch erst der vom Pietismus angestoßene Neuprotestantismus wandte sich entschiedener von der Judenfeindschaft ab, stellte Luthers judenfreundliche Schrift von 1523 in den Vordergrund und ließ die Spätschrift von 1543 in Vergessenheit geraten. Jakob Philip Spener deutete Röm 11,25 ff, die endliche Bekehrung Israels, als innergeschichtliche Zukunft und forderte die Christen auf, die Juden zu lieben und berief sich dabei auf Luther. In einem Gutachten von 1702 forderte er für die Juden das uneingeschränkte Recht auf Ausübung ihres Gottesdienstes und die Erlaubnis zum Bau von Synagogen, sein Nachfolger August Hermann Francke half ihnen bei dem Druck von Büchern. Die Theologen der Universität haben in mehreren Gutachten positiv zur Duldung der Juden und ihres Gottesdienstes Stellung genommen. Siegmund Jakob Baumgarten, der bedeutendste Theologe Deutschlands in der Mitte des 18. Jahrhunderts, hat besonders nachdrücklich eine judenfreundliche Haltung vertreten. Selbst die von E. M. Arndt betriebene nationale Wiedergeburt war nicht judenfeindlich. Heinrich Heine hatte ein positives Lutherbild, sah den Reformator als Überwinder des Mittelalters und Vertreter der Denkfreiheit und wusste nichts von seinen Judenschriften. Aber auch Ludwig Börne, der Luther den Obrigkeitsgehorsam vorwarf, waren die Judenschriften unbekannt. Hier hätte Wallmann als Zeuge für eine judenfreundliche Haltung auch noch Johann Peter Hebel nennen können, mit seinen Kalendergeschichten und seiner Äußerung, wer den zweiten Jesaja liest, verspürt den Wunsch ein Jude zu werden. „Was aber den Jesajas betrifft, so behaupte ich nur so viel, daß, wer ihn vom 40. Kapitel an lesen kann und nie die Anwandlung des Wunsches fühlet, ein Jude zu sein, sei es auch mit der Einquartierung allen europäischen Ungeziefers, ein Betteljude, der versteht ihn nicht und solange der Mond noch an einen Israeliter scheint, der diese Kapitel liest, so lange stirbt auch der Glaube an den Messias nicht aus.“ Hebel hat eine Kalendergeschichte verfasst, Der große Sanhedrin zu Paris, in der zu Beginn der Satz steht: „Daß die Juden seit der Zerstörung Jerusalems, das heißt seit mehr als 1700 Jahren ohne Vaterland und ohne Bürgerrecht auf der ganzen Erde in Zerstreuung leben, daß sie an vielen Orten als Fremdlinge verachtet, mißhandelt und verfolgt werden, ist Gott bekannt und leid“. (118) Nichts von Strafe wegen der Kreuzigung Christi. Es ist Gott leid! Als Beweis für seine These, dass sich die evangelische Theologie und Kirche von den antijüdischen Äußerungen Luthers distanzierte, nennt Wallmann vor allem die Artikel über Martin Luther sowie den Artikel über Israel in der Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, die alle Luthers Schrift von 1523 als Vermächtnis des Reformators für die Haltung zu den Juden hervorheben. Doch dann brachte der Börsenkrach von Wien 1873 die Wende, der Gründerschwindel wurde den Juden in die Schuhe geschoben. Es kam zur Wiederentdeckung des späten Luther durch die antisemitische und die Völkische Bewegung. Im Antisemitenkatechismus von 1887 wird neben vielen Zeugen auch Martin Luthers „Von den Juden und ihren Lügen“ genannt. Der Hofprediger Adolf Stoecker ist dann der erste evangelische Theologe, der öffentlich gegen das moderne Judentum und seine finanzpolitischen Bestrebungen auftritt (1879). Als Theologe redet er von der Liebe zu Israel, doch als Politiker und Gründer der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei nennt er das moderne Judentum in ökonomisch-kultureller Hinsicht eine Gefahr für das deutsche Volksleben. Er hat damit die Führungsschichten der evangelischen Kirche stark beeinflusst. Ein anderer Theologe, der der die Judenfeindschaft tief in die evangelische Pfarrerschaft eingepflanzt hat, war Karl Heinrich Christian Plath, Inspektor der Goßnerschen Mission und später Professor in Berlin. Er beklagte die zunehmende Macht des Judentums, der ein Riegel vorgeschoben werden müsse. In seinem Buch „Was machen wir Christen mit unsern Juden?“ 1881 grenzt er sich vom „Radauantisemitismus“ ab und stellt wie Luther 1523 die Liebe zu den Juden ins Zentrum, deren Amtsberechtigungen gleichwohl eingeschränkt werden sollen (Plath war, wie Wallmann mitteilt, sein Großvater). Wallmann unterscheidet diesen christlichen Antisemitismus vom antichristlichen, der von Wilhelm Marr, dem Erfinder des Wortes Antisemitismus, über Gobineau, Chamberlain bis Rosenberg reicht und der evolutionsgeschichtlich, dann rassisch begründet wird. Erst durch Alfred Falb und sein 1921 veröffentlichtes Buch „Luther und die Juden“ sind Luthers Spätschriften in das Zentrum des antichristlichen Antisemitismus gerückt worden: Falb war ein bewusst rassisch denkender Vertreter der völkischen Bewegung und prägte das Lutherbild führender Nationalsozialisten. Der Rostocker Lutherforscher Wilhelm Walther, der sich von der völkischen Vereinnahmung Luthers und der Fundamental-Kritik am Alten Testament absetzt, macht 1921 gleichwohl zum ersten Mal evangelische Christen mit Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ bekannt (wenn man von einer Ausgabe Pfizers im Jahr 1840 absieht). Im Jahr 1936 wird dann von Walther Linden die erste vollständige Ausgabe von Luthers Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ herausgegeben. Dann folgt im Christian Kaiser-Verlag im Rahmen der Münchener Ausgabe der von Walter Holsten herausgegebene Ergänzungsband 3 „Wider Juden und Türken.“ Hinter Gottes Zorn liege seine Barmherzigkeit, schreibt Holsten, aber „keine sanfte, sondern eine scharfe Barmherzigkeit. Harte Maßnahmen gegen die Juden sind also gerechtfertigt und geboten, sofern hinter ihnen eine echte Barmherzigkeit steckt.“ Mit Recht kommentiert Wallmann: „Ein Jahr nach den Nürnberger Gesetzen gesprochen, klingt das wie ein theologische Rechtfertigung derselben.“(187) Nach dem Pogrom vom 9. November fragten Pfarrer in der Provinz Ostpreußen an, ob die judenfeindlichen Lutherzitate in einem Artikel der Preußischen Zeitung wirklich stimmten. Das nahm Reichskirchenminister Kerrl zum Anlass, alle Kirchenleitungen anzuweisen, dass ihre Pfarrer sich mit Luthers Judenschriften beschäftigen. Im Mai 1939 wurde das Eisenacher Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben. Sein Leiter, Walter Grundmann, wollte beweisen, dass das Christentum wurzelhaft antijüdisch und deshalb mit dem Nationalsozialismus gut vereinbar ist. Jesus sei ein Arier gewesen, damit richtet sich Grundmann gegen Luthers Schrift von 1523, dass Jesus ein geborner Jude sei. Deshalb sei die Behauptung von Osten-Sackens falsch, das Eisenacher Institut sei gewissermaßen „das Vermächtnis des Reformators“ in der Judenfrage. Julius Streichers Satz vor dem Nürnberger Tribunal, statt seiner müsse eigentlich Luther mit seiner Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“ vor Gericht stehen, sei zwar jetzt viel zitiert worden, wird aber dem Tatbestand einer weitgehenden Unkenntnis von Luthers Schrift in der evangelischen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert nicht gerecht. Wenn man bereit ist, Wallmanns Argumentation und Belegen zu folgen und den Einfluss von Luthers Spätschrift auf die Verfolgung und Ermordung der Juden als sehr gering (bzw. als überhaupt nicht vorhanden) einschätzt, bleibt trotzdem die Frage, was das für die Erklärung der Entstehung des eliminatorischen Judenfeindlichkeit im Deutschland des 3. Reiches besagt. Hieße es dann, die Kirchen und Christen wären bloß traditionell oder normal judenfeindlich gewesen, hätten keine aggressiven Absichten gegenüber den Juden wie die Verbrennung der Synagogen und ihre Vertreibung gehabt. Oder: Der christliche Antisemitismus sei eher friedlich und auf der Meinungsebene geblieben? Selbst wenn das stimmen sollte, liegt genau hier das Problem. Trotz der weitgehenden Integration des jüdischen Bevölkerungsteils in der Weimarer Republik und ihrer großen Bedeutung für das kulturelle und gesellschaftliche Leben in Deutschland hatten die Juden keine verlässlichen Freunde, auch nicht als Judenchristen in den Kirchen, als das neue Regime begann sie auszugrenzen, zuerst mit dem Gesetz über das Berufsbeamtentum, dann mit dem Kaufboykott, dann mit den Nürnberger Gesetzen, dann mit der Zerstörung der Synagogen und schließlich mit der Deportation in die Vernichtungslager. Bonhoeffers Einspruch 1933 war die große Ausnahme. Die Barmer Bekenntnissynode im Mai 1934 erwähnt die Ausgrenzung der jüdischen Geschwister mit keinem Wort. Selbst nach dem Novemberpogrom 1938 gab es in den Predigten nur ganz vereinzelte Kritik daran (offen bei Pastor von Jan, versteckt bei Helmut Gollwitzer). Die Juden hatten, ich sage es nochmal, leider keine verlässlichen Freunde in der übergroßen Mehrheit der Christen beider Konfessionen, das ist der traurige Tatbestand. Ein geachteter Wissenschaftler wie Victor Klemperer, der den Prozess sich steigernder Ausgrenzung in seinen Tagebüchern genau festhält, musste feststellen, wie sich die meisten christlichen Freunde von ihm zurückziehen. Und die Reaktion einer mitfühlenden Frau, Lisbeth Cresspahl, die aus Scham über das, was dem jüdischen Mitbürger Tannebaum im Mecklenburgischen Jerichow in der Reichspogromnacht angetan wird, Selbstmord begeht, ist ‚leider nur‘ eine literarische Erfindung Uwe Johnsons in seinem Roman „Jahrestage“ (Bd. 2, 718ff). Woran lag das? Das wäre genauer mentalitätsgeschichtlich zu erforschen. Götz Aly hat das versucht. In seinem Buch „Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass. 1800-1933“ (Frankfurt/M. 2011) gibt es ein Kapitel „Antisemitismus als soziale Frage“ und darin einen Abschnitt „Träge Christen, rege Juden“: Der wirtschaftliche Fortschritt in Handel und Verkehr wurde von der kleinen Zahl jüdischer Selbständiger sehr viel intensiver betrieben als von der christlichen Mehrheit, wie eine Statistik aus dem Jahr 1895 zeigt. Das weckte Sozialneid. Die jüdischen Deutschen gehörten bald überproportional häufig dem Besitzbürgertum an. Viele ihrer christlichen Landsleute verspürten Minderwertigkeitsgefühle. Anstatt aufzuklären über den großen gesellschaftlichen Wandel bediente der christliche Antisemitismus eines Stoecker mit seiner Kritik am Fortschritt diese ressentimentgeladenen Gefühle. In den 20er Jahren diagnostizierten Lichtenstaedter und Bettauer (er schrieb einen Roman „Stadt ohne Juden“, in dem er die Deportation der Juden durch die Nazis antizipierte) die Modernisierungsscheu des christlichen Volkes, die Angst vor dem wirtschaftlichen Elan der Juden und den Rückzug der Mehrheitsbevölkerung in den Kollektivismus (Aly, 203). Das waren Ängste, die die Nationalsozialisten dann auf primitive Weise ausbeuteten und mit ihrer Propaganda einer überlegenen germanischen Rasse kompensierten. Die oft antidemokratisch und antiliberal eingestellten kirchlichen Führungseliten hatten an diesen Einstellungen Anteil. Ruth Klüger hat in ihrem Buch „Katastrophen“ an mehreren Beispielen gezeigt, wie Judenfeindschaft und Antisemitismus offen und untergründig die deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts bestimmt haben. Ob es sich um das Grimm-Märchen „Der Jude im Dorn“, Hauffs „Jud Süß“, Raabes „Hungerpastor“, Freytags „Soll und Haben“, Stifters „Abdias“ u.a. Werke handelt, sie sind voller Vorurteile gegenüber dem Fremden und Unheimlichen gestaltet, das man mit den Juden verbindet. In „Der Hungerpastor“, viel gelesen, Raabe nannte es ein „Volksbuch“, wird von den beiden Kindheitsfreunden der Moses Freudenstein zum üblen Karrieristen und Spion, während der Schustersohn Johannes sich in Arbeit und Liebe einer deutschen Pastorenfamilie bewähren kann (s. meinen Artikel „Nicht bös‘ gemeint“, in: Praktische Theologie 3,2015,180ff). Mag die Legende vom Ritualmord längst ad acta gelegt worden sein, immer noch geistert „die Leiche unterm Tisch“ (so der Titel von Klügers Essay) durch die Literatur; sie schuf keine positiven Identifikationen mit dem jüdischen Bevölkerungsteil, verstärkte vielmehr durch die Schilderung negativer jüdischer Charaktere die antijüdischen Vorurteile. Das kann man an einigen jüdischen Gestalten Thomas Manns beobachten, den Geschwistern Aarenhold in „Wälsungenblut“, an Detlev Spinell in „Tristan“, an Naphta im „Zauberberg“. Das zeigt sich an dem Antisemitismus, der im Werk jüdisch-österreichischer Autoren vorkommt. Arthur Schnitzlers Roman „Der Weg ins Freie“ schildert einen adeligen nichtjüdischen Komponisten, Georg von Wergenthin, der sich gerne in intellektuellen jüdischen Kreisen aufhält. Doch die Klagen seiner jüdischen Freunde über das, was sie alles durchstehen müssen, gehen ihm auf die Nerven. „Wenn die Juden keine besseren Freunde haben als die Wergenthins dieser Welt, dann ist Hopfen und Malz verloren, ob sie sich taufen lassen, für den Sozialismus ins Gefängnis wandern oder den Zionismus finanzieren“ schreibt Ruth Klüger. Der normale christliche Antijudaismus hat zur mangelnden Empathie der Christen und der Kirchen wie des Bürgertums für die gefährdeten Juden zur Zeit des Nationalsozialismus beigetragen. Auch ohne Kenntnis der späten Lutherschriften gab es eine dominierende antijüdische Einstellung. Es wäre also darauf zu achten, wie die Haltungen und Stimmungen, die Mentalitäten in den beiden großen Kirchen waren. Wie wurde gepredigt, katechisiert, theologisch argumentiert, etwa an dem 10. Sonntag nach Trin., an dem man der Zerstörung Jerusalems gedachte und den man im 19. Jahrhundert als Judensonntag beging? (Wallmann weist darauf hin, dass Luther seine Predigt an diesem Sonntag 1525 überraschend als Bußpredigt für Deutschland konzipierte,70f). Man musste kein bewusster geifernder Antisemit sein, um dennoch mit einer ‚normalen‘ antijüdischen Einstellung gegenüber dem heraufziehenden Unheil zu versagen. Der durchschnittliche Christ war seit früher Jugend imprägniert mit antijüdischen Einstellungen. Besonders die Streitgespräche Jesu mit den Pharisäern in den Evangelien vermitteln eine antijüdische Einstellung, siehe seine polemischen Weherufe. Über positive Äußerungen Jesu wie „Du bist nicht fern vom Reich Gottes“ (Mk 10,34), über die Zitierung des jüdischen Glaubensbekenntnisses (Mk 10,29f) las man hinweg. Noch bevor Jesus nach Jerusalem geht, wird von den Nachstellungen der Pharisäer berichtet. Die Leidensankündigungen im Markus-Evangelium machen Hohepriester und Schriftgelehrte verantwortlich für seinen Tod. Und dann die Passionsgeschichte mit den ihm nach dem Leben trachtenden Hohen Rat, der ihn an Pilatus ausliefert und mit dem Volk, das „Kreuziget ihn“ schreit und lieber den Verbrecher Barrabas freihaben will. Schließlich der Vorwurf des Gottesmords, zuerst im Brief des Paulus an die Thessalonicher formuliert (1 Thess 2,13) und dann durch zwei Jahrtausende immer wiederholt. All das beförderte eine quasi selbstverständliche antijüdische Einstellung in den christlichen Gemeinden, auch als man den Vorwurf des Ritualmords und der Hostienschändung längst aufgegeben hatte. Wer sich in das Leiden Jesu vertieft, die Kreuzwegstationen nach Golgatha mitgeht, bekommt trotz der Einsicht, „ich, mein Herr Jesu, habe dies verschuldet, was du geduldet“ (EG 81,3), einen antijüdischen Furor. (Man denke nur daran, wie die Turba-Chöre besonders in der Johannespassion Johann Sebastian Bachs diese Empörung musikalisch mitreißend verstärken können.) Im August 1819 stürmten in Würzburg bei den Hep Hep-Krawallen aus Konkurrenzneid christkatholische Bürger jüdische Häuser und Geschäfte mit den Hep-Hep-Rufen (das heißt Jerusalema est perdita = Jerusalem ist verloren), das Militär musste einschreiten, 400 Juden wurden aus der Stadt vertrieben, konnten aber zurückkehren. (Dies, und nicht der Fettmilchaufstand von 1614 in Frankfurt, war das letzte Pogrom vor der Nazi-Verfolgung, in der jüngeren Geschichte Deutschlands, gegen Wallmann S. 129). Die Germanen sind, wie Freud bemerkte, „schlecht getauft“. Sie verschoben den Haß auf die sie z.T. mit Gewalt missionierende christliche Kirche auf die Ursprungsreligion des Christentums, das Judentum. Jedenfalls hatten sie nach der eher widerwillig ertragenen Erfolgsgeschichte der jüdischen Integration in Gesellschaft, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft Deutschlands vor und nach dem 1. Weltkrieg (eine Minderheit von 1% stellte 15 % der Abiturienten und später der akademischen Berufe wie Juristen und Ärzte) wenig Anlass, gegen die Zurückdrängung des jüdischen Einflusses nach 1933 sofort und entschieden auf den Plan zu treten. Erhofften sich doch die unter der Säkularisierung leidenden Kirchen durch den nationalen Aufbruch eine Wiederbelebung ihres volksmissionarischen Anspruchs. So die 1000 im September 1933 in Hamburg zum Diakonentag versammelten Diakone, die ein Ergebenheitstelegramm an den Führer richteten und von Pastor Schirrmacher als die „SA Jesu Christi“ begrüßt wurden. Alle Diakone wurden aufgefordert in die SA einzutreten. Die Enttäuschung kam schnell. Die auf die Jugend und die Unterschicht gerichteten sozialen Bestrebungen der Kirchen wurden von den Nazis, als sie fest im Sattel saßen, als Konkurrenz empfunden und unterbunden. Kirchliche Verbände wurden aufgelöst bzw. in die Nazi-Verbände überführt. In dem Weltanschauungskampf mit den Nazis versuchten die Kirchen vor allem, sich selbst zu erhalten, zu überwintern. Das Eintreten für eine verfemte Bevölkerungsgruppe hätte das erschwert. So ließ man die jüdischen Geschwister im Stich, auch der Schutz des angeblich lebensunwerten Lebens der Behinderten wurde längst nicht von allen Diakonieeinrichtungen wahrgenommen. Die Intervention des Kardinals von Galen und des evangelischen Bischofs Wurm bei Hitler zeigte immerhin, dass Protest eine Wirkung hatten und die T 4-Aktion zunächst abgesetzt wurde. Im Krieg wurde sie jedoch fortgesetzt. Und es war der totale Krieg, der ab 1941 (Wannsee-Konferenz) der Nazi-Führung die Gelegenheit bot, die Endlösung der Judenfrage mit tödlicher Konsequenz voranzutreiben. Diese Vernichtungspolitik sah eine Kirche, die völlig gelähmt war und nicht einmal mehr den Schutz der Judenchristen zu ihrem Anliegen machte bzw. machen konnte. Ich habe diesen Exkurs in die judenfeindliche bzw. neutrale Mentalität der christlichen Kirche und des deutschen Bürgertums unternommen, nicht um Wallmanns Anliegen einer Neuschreibung der Wirkungsgeschichte von Luthers Judenschriften zu relativieren. Von der ersten Zeile an merkt man, wie engagiert und persönlich betroffen Wallmann bei seinem Thema ist, auch mit biographischen Einlassungen wie der, dass er als Junge in der Berliner Bekenntnisgemeinde Friedenau neben Judenchristen und Juden mit dem gelben Stern gesessen habe, so etwas vergesse man nicht. Insofern muss man ihm dankbar sein, dass er um der notwendigen Differenzierung willen und um Pauschalurteile zu vermeiden, diese Wirkungsgeschichte der Lutherschriften verfasst hat. Aber für uns, die wir um den Massenmord an 6 Millionen Juden wissen, bleibt das traurige Fazit, dass so oder so die Kirchen und die Christen in der Judenfrage schrecklich versagt haben. Hätten wir es besser gemacht? Wahrscheinlich nicht. Auch wenn das Ergebnis von Wallmanns Recherche, Luthers hasserfüllte Judenschrift war weitgehend unbekannt, stimmt, ändert das nichts an diesen schrecklichen Tatsachen. Der Antijudaismus und Antisemitismus ist ein Webfehler des Christentums, der in allen christlichen Ländern zur Judenverfolgung geführt hat. Dass er sich in Deutschland zum Massenmord an den Juden entwickeln konnte, hat aber andere weiterreichende politische, soziale und ideologische Ursachen, die ich hier nicht erörtern kann. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/117/hjb61.htm |