Inszenierung und Vergegenwärtigung |
Paul Gräb (1921-2019)In MemoriamAndreas Mertin Vor zwanzig Jahren schrieb der Literaturwissenschaftler George Steiner über die elementare Bedeutung, die Kunst, Literatur und Musik im Leben eines Menschen und einer Gesellschaft haben könnten und sollten. Er wandte sich vehement gegen die vorschnelle Vereinnahmung der Gegenwartskultur und beharrte auf dem Eigensinn der Künste. Man müsse diesen offen begegnen, ganz so wie man Fremden begegne, die man als Gäste aufnähme:
Der im Februar 2019 verstorbene Pfarrer Paul Gräb war eine geradezu exemplarische Verkörperung der cortesia, die George Steiner vorschwebte. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass Paul Gräb und seine vielen ehrenamtlichen Mitstreiter in der Gemeinde Wehr-Öflingen eine Wunde geheilt hat, die die evangelische Kirche in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Bildenden Kunst zugefügt hatte. Für zahlreiche deutsche Künstler seit dem Expressionismus war dieser Gemeindepfarrer ein Beispiel dafür, dass ihnen die evangelische Kirche offen gegenübertreten kann und sich ohne sie vereinnahmen zu wollen ganz konkret für ihre Arbeit interessiert und sie zu gemeinsamen Projekten einlädt. Biographisch hatte für den jungen Paul Gräb alles begonnen mit der nationalsozialistischen Schandausstellung „Entartete Kunst“, nur dass sie bei dem jugendlichen Besucher auf höchstes Interesse stieß, weil ihm die gezeigte Kunst etwas zu sagen hatte. Nach dem Krieg begann Paul Gräb, Graphik zu sammeln, und suchte die Verbindung zu den Künstlern der Moderne. So entstanden Kontakte zu Erich Heckel, Otto Dix, HAP Grieshaber, Fritz Winter, später mit deren Schülern wie etwa Horst Antes und Walter Stöhrer. Er schloss mit ihnen Freundschaften, so wie er es zusammen mit seiner Frau Hanna das ganze Leben lang auf eine einzigartige Weise gemacht hat.[2] Die Nachkriegsjahre waren eine Zeit, in der die zeitgenössische, sich nun autonom nennende Kunst es schwer in der deutschen Gesellschaft hatte, der Nationalsozialismus mit seiner Abwertung der Künste wirkte nach. Und auch in der Kirche selbst bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit, bis die „Autonome Kunst im Raum der Kirche“[3] (Horst Schwebel) ihren Platz finden konnte. Für die Gemeinde relevant wurde dies, als man Geld für eine Orgel brauchte und Paul Gräb auf die Idee kam, seine Künstlerfreunde um eine Spende in Form von Kunstwerken zu bitten, die dann zugunsten der Orgel verkauft werden sollten. Entgegen allen Erwartungen war diese erste Auktion zeitgenössischer Kunst zugunsten eines Gemeindeprojektes Anfang der 60er Jahre so erfolgreich, dass man daran weiterarbeiten wollte. Man suchte zusammen mit den beteiligten Künstlerinnen und Künstlern ein gemeinsames Ziel, gründete einen Verein und veranstaltete nun Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, auf denen Gemeindeglieder, aber auch Besucher aus ganz Deutschland zeitgenössische Kunst erwerben konnten. Und das machte das Projekt nicht nur in Künstlerkreisen, sondern auch bei kunstinteressierten Kirchenmitgliedern populär. Als dann am 29. Juni 1984 der Grundstein zum Diakoniezentrum Wehr-Öflingen gelegt werden konnte, wurde neben den für solche Festakte üblichen Urkunden auch eine Liste mit den Namen von über 250 regional, national und international bekannten Künstlerinnen und Künstlern sowie zahlreichen nationalen und internationalen Galerien eingemauert.[4] Sie alle hatten zusammen mit dem Diakonieverein Wehr-Öflingen dafür gesorgt, dass dieses Projekt eines großen Heims für behinderte Menschen gelingen konnte. Weltweit dürfte dies für die damalige Zeit einzigartig gewesen sein. Um 1980 wurden 1500 Vereinsmitglieder gezählt, die so ihr Interesse an zeitgenössischer Kunst mit diakonisch-sozialem Engagement verbinden. Paul Gräb schilderte einmal den damit verbundenen Lernprozess im Gespräch mit dem Verfasser so:
Und er fügte hinzu:
Diese Offenheit gegenüber der gesamten Kunst, diese Gastlichkeit gegenüber den zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern, diese Verbindung von Ästhetik und Ethik ist das, was das Modell Öflingen, vor allem aber auch Paul und Hanna Gräb auszeichnet und einmalig macht. Das geradezu unbändige Interesse daran, zu hören, zu sehen, zu erfahren, was Künstler gegenwärtig umtreibt, ist ein Charakteristikum aller Begegnungen in Wehr-Öflingen. Die Arbeit der kleinen Gemeinde an der deutsch-schweizer Grenze hatte aber dadurch auch eine Signalwirkung weit über den regionalen Bereich hinaus. Wir alle, so hat der kunstengagierte Jesuitenpater Friedhelm Mennekes einmal gesagt, die wir uns heute mit dem Verhältnis von Kunst und Religion beschäftigen, stehen auf den Schultern von Paul Gräb. Nicht umsonst war Gräb Berater bei den documenta-Begleitausstellungen der evangelischen Kirche seit 1982 und organisierte selbst für den Deutschen Evangelischen Kirchentag 1995 in Hamburg eine große Ausstellung mit einem Querschnitt durch die deutsche Gegenwartskunst. Begleitet waren Paul Gräbs Aktivitäten schon früh von seiner Freundschaft mit der Violinistin Anne-Sophie Mutter, die seine Arbeit und sein Engagement unermüdlich unterstützte. Sie schrieb in ihrem Nachruf:
Man kann der badischen Landeskirche wie der Evangelischen Kirche nur raten und wünschen, dass sie dieses Programm der programmatischen Öffnung zur Bildenden Kunst in ihrer ganzen Weite aufnehmen und weiterführen. Kleine Auswahlbibliographie1980 1983 1988 1990 1993 1995 1997 1998 2000 2003 2006 2012 1988 Anmerkungen[1] Steiner, George (1990): Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? München, S. 206. [2] Stiftung Hanna & Paul Gräb; Epting, Karl Chr.; Gräb, Paul; Mutter, Anne-Sophie (Hg.) (2012): Netze. Hanna & Paul Gräb - Ein Lebenswerk. Freiburg. [3] Vgl. Schwebel, Horst (1980): Öflinger Thesen zur Verteidigung der autonomen Kunst im Raum der Kirche. In: Paul Gräb (Hg.): Unbequeme Kunst - unbequeme Autonomie. Erster Bericht zum 'Modell Öflingen'. Öflingen, S. 716. [4] Schmidt, Heinz-Ulrich (1988): Der Kunst verpflichtet. Kunst und Diakonie in Wehr-Öflingen. In: Andreas Mertin und Horst Schwebel (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt/Main: S. 3040. |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/118/am663.htm |