Inszenierung und Vergegenwärtigung


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„Körper-denken“: Martin Disler

Assoziationen - im Gespräch mit Tony Cragg, Irene Grundel und André Buchmann - zu einer Ausstellung von 25 Figuren aus Martin Dislers Ensemble „Häutung und Tanz“, Skulpturenpark Waldfrieden, Wuppertal

Barbara Wucherer-Staar

«Die Plastiken (meine Sprache mit den Toten zu sprechen) - helle Geschöpfe in dunkler Nacht (die Sendboten meiner Freiheit und Mitinsassen meiner Gefängniszelle) - sie sind die vielen Dimensionen, die sich zusammentun, um das Licht zu tragen auf ihrer Haut, die der mikroskopischen Natur der Seele nacheifert … (Martin Disler)[1]

„Ich wollte den Menschen herbeibeten, ihn herbeiträumen, herbeisehnen, herbeitanzen, herbeisingen ...“[2] Er, der das schreibt, Martin Disler (1949 – 1996), Autodidakt, documenta-7 (1982) und Biennale-Teilnehmer nutzt in den bildnerischen Medien Malerei, Aquarell, Grafik, Plastik das jedem Material eigene dynamische Potential. Im intensiven, schnellen Entstehungsprozess auf Papier oder aus der Formbarkeit der Materialien Papier, Ton und Gips entstehen Werke, die immer wieder den menschlichen Körper in scheinbar ständiger Verwandlung und Verwundbarkeit thematisieren. Seine zentralen Themen sind Liebe, Tod, Angst, Sexualität - ein Ausdruck der Bewegung des Körpers im Bezug zum Raum, zu Raumerfahrung, Raumerweiterung: „Körper-denken“, wie Disler es nennt.

Dabei ist - wie zum Beispiel auch bei dem amerikanischen Maler Jackson Pollock - der eigene, in Trance getanzte Körper wichtig für die intuitive Gestaltung. Die Verbindung zum eigenen Unbewussten sei, so Friedrich Meschede, eine Voraussetzung für eine direkte Kommunikation mit dem Betrachter.[3]

Im Skulpturenpark Waldfrieden gelingt ein seltenes, außerordentliches Treffen von 25 lebensgroßen, expressiven Bronzefiguren - ausgewählt aus dem 66-teiligen Konvolut Häutung und Tanz (1990 / 91).[4]

Die archaischen Kreaturen fesseln und erschrecken zugleich den Betrachter. Mitten in der Bewegung angehalten, oft ohne Arme, gehen, hocken, knieen, kriechen, stehen sie, ihre Oberfläche bucklig und rau, die Gesichter knapp angedeutet, die Körper ineinander verwachsen, auseinander herauswachsend als Torso oder Fragment. Können sie hören, sehen, sprechen? Sie vermitteln etwas Morbides, Verletzliches, auch Groteskes, Ironisches und Unverblümtes.

Disler beschreibt diese Zeichen der Verwundbarkeit als „Schattenarmee“ und „Statuen-Sammlung“ im Bauch eines Schiffes, als Ergebnisse eines universellen Lebens- und Todestriebes.[5]

Körper – Bewegung – Materie

Seit Mitte der 1980er Jahre arbeitet Disler an Skulpturen, führt seine gestisch-figürlichen Gestaltungen expressiver Körper und Inhalte der zweidimensionalen Objekte (Malerei und Grafik) in den dreidimensionalen Werken weiter. Etwa den Prozess des Farbmaterial-Auftragens (neben dem Pinsel) auch mit Fingern und Händen, das er dann wieder mit Händen und Messer abnahm. Disler formte und ertastete Bilder und Plastiken „körperlich“, in einem Prozess kontinuierlicher Verdichtung.

Er entwirft - in Auseinandersetzung mit der vor ihm liegenden Fläche oder einem Objekt (Blatt, Radierplatte, dreidimensionale „Rohlinge“) - Figuren, ohne sie genau zu definieren. Es entstehen menschliche Körper, die sich assoziativ zu Bewegungsabfolgen zusammensetzen lassen: Im Ensemble der Tanzenden etwa eine Blickachse diagonal durch den Glaspavillon: vom Knienden zum Hockenden zum Stehenden.

Hauptelement von Dislers prozesshafter Gestaltung, von Verwandlung und Entgrenzung sind der tanzende Körper und die Geste als energetisches Element, entwickelt im Raum. Er arbeitet mit über Holzkästen gespannten / gewickelten Gipsbinden, konturiert und akzentuiert - oft an mehreren Gipsobjekten gleichzeitig - bis ihm eine Figur stimmig erscheint.

Aus dem Material hebt er etwa Kopfformen mit den für ein Gesicht wesentlichen Unterscheidungsmerkmalen Augen, Nase, Mund hervor; der Blick, der - im Sinne Jean Paul Sartres - die Welt auf Distanz halten könnte, fehlt. Er konturiert Gliedmaßen - Arme, Beine - , macht die rhythmische, dynamische Bewegung der Figuren deutlich, indem er einzelne Körperteile akzentuiert und stärker konturiert.

Dieses überbordende Figurieren von Tänzern, Paaren, Doppelwesen, etwa ein Oberkörper, der aus dem Rumpf einer anderen Figur herauszuwachsen scheint – vermitteln etwas Morbides, Verletzliches, auch Groteskes, Unverblümtes, Kritik und Ironie.

Spiritualität: Das menschliche Maß und Kritik

Dislers künstlerische Strategie von „Entgrenzung“, einer „suggestiven Unmittelbarkeit“, seine rhythmische Strukturierung von Bewegung, Zeit und Raum zu Figuren beinhaltet, auch wenn es immer Möglichkeiten für ein „assoziatives Sehen“ gibt, einen Rest an „Nicht-benennbarem“. In einem fiktiven Gespräch lässt Disler sich sagen, er, der Künstler, baue „der Metapher eine Metapher aus Illusionen“. Der Künstler selbst beschreibt die Tanzenden als „66 Einheiten … auch zusammen bilden sie eine Einheit. Sie sind Schatten und Träume, Dichtewellen, die einen imaginären Kern ummanteln.“[6]

Durch die Inszenierung entstehen vielschichtige Bezüge der Tanzenden untereinander. Es finden sich Bewegungsabfolgen, die eine Verwandlung (Häutung?) eines Körpers im Tanz nachvollziehbar machen, zum Beispiel vom Sitzen zum Knien zum Stehen. Es handle sich um Wandlungen von Menschen, so Tony Cragg, vielleicht um den Künstler selbst. Zu Stele und Totempfahl geformte Körper erweitern die Bühne des Welttheaters um eine spirituelle Dimension, ermöglichen Nach-denken. Die Inszenierung im gläsernen Pavillon auf dem höchsten Punkt im Park mit Blick auf die Natur und wechselndes Tageslicht, das die organische Oberfläche der Figuren verändert tragen dazu mit bei. Ein kriechender Pinocchio mit langer Nase, eine Figur, die an den Contergan-Skandal erinnert, siamesische Zwillinge, die im 19. Jahrhundert als Kuriositäten präsentiert wurden, zeigen deutlich auch gesellschaftskritisches Engagement.[7]

Tradition: Innen und Außen - Hülle und Kern

Betrachtet man Dislers Werk im Blick auf die Moderne lassen sich Bezüge zur Skulptur um 1900 assoziieren. Der Torso L´homme, qui marche Auguste Rodins (1840-1917) wird Weg bereitend, da er nur auf die Bewegung des Gehens konzentriert ist. Lebendigkeit erzielt Rodin durch das Stehenlassen von Material für eine bewegte Oberfläche und Lichtreflexe. Ein weiterer Impuls für Disler kann Rodins Höllentor (La Porte de l´Enfer) gewesen sein, ursprünglich von Dante Alighieris Göttliche Komödie inspiriert.

Bezüge zu den schmalen, skurrilen, elementaren und transzendenten Skulpturen des Bildhauers Alberto Giacometti (1901-1966) liegen ebenso nahe (Irene Gundel). Sie stehen für Entgrenzung und Suche nach einer visuellen Gedächtnisskulptur, die in der idealen Balance zwischen Distanz und Nähe Raum erschaffen soll und für den Versuch, „Spuren der menschlichen Existenz“ zu fassen.

Viele Arbeiten erinnern an Werke der „Art Brut“ ( = einer rohe, unverfälschte Kunst im Sinne Jean Dubuffets) und Archaisches.

„Heftige Malerei“

Internationale Aufmerksamkeit gewann Martin Dislers Arbeit mit der Schau Invasion durch eine falsche Sprache in der Kunsthalle Basel, 1980; im Rahmen der Ausstellung entsteht seine essentielle Schrift Bilder vom Maler, 1980. Sein Panoramabild Die Umgebung der Liebe ( 4,40 m x 140 m) entstand 1981 in vier Nächten unter Mitarbeit von Irene Gundel ringsum an den Wänden des Württembergischen Kunstvereins. Das Liebes-Panorama wird annektiert als Programmbild für die Vertreter der „Neuen Wilden“, einer subjektiven, expressiven „Heftigen Malerei“ nach Minimal- und Conceptart. Disler ist viel gereist, er lebte und arbeitete unter anderem in Paris, New York, Lugano und Harlingen (Niederlande). Zuletzt entstehen 1996 rund 400 kleine Aquarelle (von 999 geplanten), Dislers Arbeiten für den langen nassen Weg. Manche sind Äquivalent zu Zitaten aus Fernando Pessoas (1888 - 1935) Esoterische Gedichte.

Hinweise

Martin Disler, Häutung und Tanz; Skulpturenpark Waldfrieden, Wuppertal, 16.03. - 16.06 2019 (in Kooperation mit dem Nachlass Martin Disler), http://skulpturenpark-waldfrieden.de

Abbildungen: http://skulpturenpark-waldfrieden.de/ausstellungen/aktuell/detailansicht/martin-disler-haeutung-und-tanz.html

Ein Katalog zur Ausstellung von Roland Wäspe, Demosthenes Davvetas und Martin Dislers Text zur Skulpturengruppe Häutung und Tanz (Basel, 1991) ist in Vorbereitung

Literatur

Martin Disler, Häutung und Tanz (The shedding of skin and dance by Martin Disler, 66 life-size bronze sculptures from 1990 / 91, Katalog der Ausstellungen in der Whitechapel Art Gallery, der Kunsthalle Basel, dem Kunstforum der Städtischen Galerie im Lenbachhaus, München, dem Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg 1991 / 92

Zu Werk und Biografie

www.martin-disler.ch; www.sikart.ch

Anmerkungen

[1]    Martin Disler zu den Skulpturen Das Gedränge der Götter. Der Wucher des Menschen, 1987 ausgestellt im Palais Liechtenstein, Wien; http://www.martin-disler.ch/ und sikart.ch

[2]    Martin Disler über seine Werkgruppe, Häutung und Tanz, 1990-91, in: Katalog der Wanderausstellung The Shedding of Skin and Dance / Häutung und Tanz, in London, Basel, München, Duisburg, 1991 / 92 (Archiv Galerie Buchmann)

[3]    Friedrich Meschede (Hrsg.), Martin Disler, Bilder vom Maler, Kunsthalle Bielefeld, 19. 03. - 03. 07., Snoeck Verlagsgesellschaft mbH 2016; https://www.kunsthalle-bielefeld.de

[4]    Seit der Wanderausstellung Häutung und Tanz, in London, Basel, München, Duisburg 1991 / 92 sind die Unikate dieser umfangreichsten plastischen Werkgruppe auf viele Sammlungen verteilt. Sie gelten als Höhepunkt seines bildhauerischen Schaffens und sind in diesem Dialog seit rund 30 Jahren erstmals zu sehen. Ein kleineres Ensemble von 10 (?) Plastiken aus der Gruppe Häutung und Tanz befindet sich im Skulpturenpark des ehemaligen Benediktinerklosters Schönthal bei Basel; http://www.schoenthal.ch

[5]    Disler, 1991, s. Anm. 2

[6]    Disler, 1991, s. Anm. 2

[7]    Die Figur Hoffnungsträger aus der Gruppe der Trägerplastiken Treck (1993 / 94) gilt als zentrale Arbeit für ein ge­sellschaftlichskritisches Motiv von Menschen, die schwere Belastungen (Flucht) ertragen; (http://www.martin-disler.ch)

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/118/bws21.htm
© Barbara Wucherer-Staar, 2019