Inszenierung und Vergegenwärtigung


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Die Architektur der Erinnerung

Die offenen Archive von Sigrid Sigurdsson

Karin Wendt

Dass das Leben kein Gegenstand der Erfahrung ist, ist eine Einsicht, über die wir unser Leben lang nachdenken, an der wir uns ein Leben lang abarbeiten. Oft denken wir zu wissen was das Leben ist, wie es zu schützen, zu verteidigen, zu gestalten, kurz: wie es zu leben ist. Tatsächlich können wir aber nur wissen, was es heißt zu leben, und die darin liegende Erfahrung ist radikal different, das einzige, was wir also verbindlich über das Leben sagen können, ist, dass es nur lebendig ist, wenn wir die Erfahrung der Differenz, mithin die Perspektiviertheit von allem, was überhaupt denkbar ist, gegenwärtig halten. Kunst ist ein Versuch, Erfahrungsprozesse der Vergegenwärtigung zu initiieren und konkret zu reflektieren. Es ist die Suche nach sichtbaren Argumenten dafür, dass die Unabgeschlossenheit unseres Verstehens nicht etwas Äußeres ist, etwas, was in unserem Leben neben vielem anderen der Fall ist, sondern unserem Leben so eingeschrieben, dass darin etwas über das Leben aufscheint. Unsere Erfahrung ist, dass etwas beginnt und wieder endet, und doch hat das Leben weder Anfang noch Ende. Wie lässt sich das Verhältnis von Endlichkeit und Offenheit und die damit verknüpfte Frage nach der Verantwortung für unser Leben, die lange auch als Frage nach der Unsterblichkeit der Seele erörtert wurde, sichtbar machen? Wie können wir die offenen Enden unserer eigenen Erzählung be-greifen? Was erfahren wir dabei über uns, über die Menschen? Die Künstlerin Sigrid Sigurdsson geht in ihrer Arbeit diesen Fragen nach.

Sigurdsson wurde 1943 in Oslo geboren und wuchs in Island und Deutschland auf. Sie studierte an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg, wo sie bis heute lebt. Ein zentraler Fokus ihrer Arbeit liegt auf der Zeit des Nationalsozialismus, seinen Aus- und Nachwirkungen, der „Sichtbarmachung unbewusster, tabuisierter oder verdrängter Erinnerungen, die im individuellen und kollektiven Gedächtnis verankert sind und bis in die Gegenwart hineinwirken.“[1] In einem 1963 veröffentlichten Aufsatz schreibt Theodor W. Adorno zur Frage „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“:

„Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten sich gar nicht leben lässt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so ungeheuerlich war, daß es am Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern.“[2]

Dass gerade die persönlichen Erinnerungen kontaminiert sind, wird deutlich, wenn „bei Erinnerungen an Deportation und Massenmord mildernde Ausdrücke, euphemistische Umschreibungen gewählt werden oder der Hohlraum der Rede sich darum bildet“.[3] So wird der zivilisatorische Bruch geleugnet und die Geschichtslüge Teil eines neuen geschlossenen gesellschaftlichen Bewusstseins. Hier setzt Sigurdssons Arbeit an. Sie füllt die Hohlräume des Vergessens mit all den widersprüchlichen Erinnerungen, mit Wahrheiten und Lügen, und sie konfrontiert uns damit. Ausgehend von der eigenen Geschichte entwickelte sie zuerst im Medium der Zeichnung und in eigenen Notizen, Texten und Geschichten, später in Rauminstallationen künstlerische Formen der Erinnerungsarbeit, die seit den 80er Jahren partizipatorischen Charakter haben. Von Anfang an spielen in ihrer Arbeit der Zeichencharakter von Papier(en), das Medium der Schrift und die Tätigkeit des Schreibens und Zeichnens eine zentrale Rolle.

Erzählen, erinnern, sammeln, konstruieren – ein künstlerischer Werdegang

Eine Weise, uns unserer selbst und der eigenen Geschichte zu vergewissern, ist es (sie) zu erzählen. Dabei gehen persönliche und kollektive Erzählung ineinander über, verflechten, ergänzen und widersprechen sich; aus Erfahrungen und Erkenntnissen, aus Hoffnungen und Wünschen, Erlebtem und Verdrängtem entsteht die eigene Biographie, die gleichermaßen wahr und konstruiert ist. Zu Sigurdssons ersten biographischen Arbeiten ab 1956 gehören die Zeichnungsgruppen Käfigmenschen und Doppelköpfe,[4] in denen sie die familiäre Verknüpfung mit dem Nationalsozialismus als untrennbaren Teil der eigenen Existenz und als Erfahrung der Schizophrenie reflektiert. Zur gleichen Zeit beginnt sie mit der Sammlung von Folianten, Schriftstücken, privaten Briefe, amtlichen Formularen, Büchern, Zeitungen, Alben, Fotografien, Fund­stücken und alltagsgeschichtlichen Objekten aus dem Kontext des Nationalsozialismus, die seit 1988 unter dem Titel Vor der Stille im Osthaus-Museum präsentiert wird.

Ende der 70er Jahre entstehen erste räumlich konzipierte Werkgruppen, heute sämtlich in Privatbesitz, in denen die Künstlerin für die sich in uns ablagernden Erinnerungen mit dem archäologischen Bild der Schichten arbeitet. Jede Schicht speichert unzählige Informationen, im Aufschnitt ergibt sich so ein simultaner Blick durch die Zeiten. Rund 300 Transparentpapiere mit schwarzen Schriftzeichen werden von ihr so geschichtet, „dass die unteren Schichten wie bei einem Palimpsest durch die oberen hindurchschienen“.[5]

Der Philosoph Christian Wolff beschrieb zu Beginn der Aufklärung das Gedächtnis als „Vermögen, Gedanken, die wir vorhin gehabt haben, wieder zu erkennen, daß wir sie schon gehabt haben, wenn sie uns wieder begegnen“.[6] In der Tat muss man sich klar werden, dass wahrscheinlich der größte Teil unserer Gedanken Erinnerungen sind oder von ihnen begleitet werden, und nur selten kommen neue hinzu. Selbst etwas, was wir schon sehr früh erlebt oder gefühlt haben, bleibt erhalten und scheint in die jüngeren Schichten unseres Lebens hindurch. Wolff unterscheidet dabei die anschauende Erkenntnis, die uns die Sachen selbst vergegenwärtigt, und die figürliche Erkenntnis, bei der wir uns „die Sachen durch Wörter oder andere Zeichen“ vorstellen. Die erste wird durch Gegenwart eines Objekts hervorgerufen, die andere in dessen Abwesenheit über vermittelnde Zeichen.[7] Die Transparenz von Gedanken und Erinnerungen, die fehlende Trennschärfe, aber auch die Genese und die unterschiedliche Gegenständlichkeit unserer Erinnerungen machen die frühen skulpturalen Werke von Sigurdsson sehr schön deutlich.

Sigurdssons künstlerische Tätigkeit wird von Anfang an durch das eigene Schreiben begleitet. Neben Tagebuchaufzeichnungen, Erinnerungstexten und gedanklichen Reflexionen verfasst sie fiktive Geschichten und Märchen, von denen ein großer Teil den Zyklus Das Wunderknäuel bildet: über dreihundert Bücher mit eingearbeiteten Fotos und eigenen Zeichnungen. „Jede Episode dieses Zyklus‘ vermittelt eine Fülle von Bildern und Metaphern, die sich mit der labyrinthartigen Struktur des Gedächtnisses und seinen unterschiedlichen Funktionen in Verbindung setzen lassen.“

Seit den 80er Jahren bildet Sigurdsson Erinnerungs-Prozesse nach, indem sie nun ihre eigenen Zeugnisse, Texte und Zeichnungen zusammen mit gefundenen und von ihr bearbeiteten Materialien scheinbar zufällig zu Objekten und größeren Installationen integriert. Zudem bezieht sie nun auch Andere in ihre Arbeit mit ein. Programmatisch für die nachfolgende Werkentwicklung sind die ersten interaktiven und offen konzipierten Arbeiten Der Dialog (1984–1986) und Anleitung zum Wahnsinn (1987): Tische, die mit Hunderten von kleinen Würfeln, Spielsteinen, beweglichen Tafeln und engen Kabinen ein Setting für paradoxe Spielkonstellationen ergeben, in denen die Spieler zu Beobachtern des (eigenen) Spiels werden.

Mit der Rauminstallation Verschließen und Öffnen (1986) in der Hamburger Kunsthalle geht die Künstlerin noch einen Schritt weiter: Sie verschließt ihre persönlichen Dokumente und legt ein leeres Buch aus, das fortan Besuchern des Raums für Reaktionen und Kommentare zur Verfügung steht. Diese partizipatorische Öffnung bestimmt von nun an ihre künstlerische Arbeit.

Ihre Inszenierungen fasst Sigurdsson seitdem unter dem Begriff des Offenen Archivs. Ausgehend von der Geschichte entwickelt sie ortsbezogene Konzepte für die Organisation und Gestaltung eines Archivs und fordert Bewohner auf, sich mit Beiträgen zu beteiligen. Die Aufzeichnungen der Teilnehmer werden in eigens von ihr entworfenen und von einem Buchbinder angefertigten Mappen, Leinenkassetten oder Boxen aufbewahrt und präsentiert.

Bisher hat Sigrid Sigurdsson fünf solcher Offenen Archive realisiert, die in Gedenkstätten oder Museen gezeigt werden. Eines der ersten war das Projekt Fragment to mała całość Das Fragment ist ein kleines Ganzes (1994) bei dem die Künstlerin fünfzig Jahre nach Kriegsende Überlebende und Augenzeugen in den Dörfern entlang der Strecke der vom Konzentrationslager Stutthoff ausgegangenen so genannten Todesmärsche aufsuchte und sie bat, ihre Erinnerungen aufzuschreiben.

2000 konzipiert sie im Rahmen der Ausstellung Das Gedächtnis der Kunst – Geschichte und Erinnerung in der Kunst der Gegenwart“ im Historischen Museum und der Schirn Kunsthalle in Frankfurt die Bibliothek der Alten. Im Unterschied zu den übrigen Offenen Archiven legt die Künstlerin dort Anzahl und Alter der Autoren und die Laufzeit fest und entwirft so für den Lebensraum Frankfurt ein erzählerisches Erinnerungspanorama im Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert. Analog läuft seit 2003 an einer Münchner Grundschule das Projekt Weltenwunderland die Bibliothek der Kinder: 366 leinengebundene verschiedenfarbige Kassetten, gefüllt mit 24 Briefumschlägen samt Rückumschlägen, die von den SchülerInnen verschickt werden, mit der Bitte an die Empfänger, auf dem darin enthaltenen Blatt einen besonderen Tag oder ein besonderes Ereignis ihres Lebens zu beschreiben und es als Geschenk an die Kinder zurückzuschicken. Die Farben entsprechen dem von Goethe entwickelten Farbenkreis und die Anzahl der Kassetten und Umschläge steht jeweils für die Tage eines Schaltjahrs und die Stunden eines Tages. So wird diese Arbeit durch eine unsichtbare Ordnung und einen kalendarischen Rhythmus getragen.

Begleitend zu ihrer Kunst initiiert Sigurdsson wissenschaftliche Forschung. So entsteht 1996 die nachfolgend im Osthaus-Museum digitalisierte Datenbank Deutschland – Ein Denkmal Ein Forschungsauftrag mit einer Kartographie aller nationalsozialistischen Lager und Haftstätten in den Jahren 1933 bis 1945.

Die Architektur der Erinnerung

Für das Osthaus-Museum in Hagen hat Sigrid Sigurdsson ein Gesamtkunstwerk erarbeitet, das ein offenes Archiv für die Bürger der Stadt mit wichtigen Werkstationen ihrer künstlerischen Entwicklung unter dem Titel Architektur der Erinnerung mit dem Zusatz Das Museum im Museum an einem Ort zusammenführt. Seit 2009 ist es als Teil der ständigen Sammlung zeitgenössischer Kunst an zentraler Stelle im Erdgeschoss des Altbaus zugänglich.

Die Hagener Installation integriert unter anderem frühe Zeichnungen, die Sammlung Vor der Stille, den Zyklus Das Wunderknäuel, einen Spieltisch, das Spiel „Schachwürfel“, Schiffsmodelle der „Wilhelm Gustloff und der „Cap Arcona“, die genannte Datenbank sowie zwei Präsenzbibliotheken zum Nationalsozialismus; außerdem die bis dato für das Museum entstandenen Arbeiten. Dazu bewahrt sie ein offenes Archiv, bestehend aus etwa zehn Besucherbüchern mit 500 bis 2000 Seiten ab 1988 und einem größeren Konvolut von 800 Reisebüchern mit Beiträgen ab 1993 von 600 Autoren.

Der Besucher betritt einen hohen, künstlich beleuchteten Raum ohne Fenster, an den Wänden dunkle Regale, gefüllt mit Büchern, Zetteln und künstlerisch bearbeiteten Objekten. Museale Vitrinen, vollgestopft mit Archivalien wie in einer lange nicht sortierten Bibliothek, wie in einer verlassenen Schule oder einem aufgegebenen Forschungslabor. Keine Karteikästen. Aber doch ein Leseraum. Statt neutraler Pulte oder Ablagen ein eigenartiger Spieltisch mit schwarzen Boxen darunter; dazu ein rätselhaftes Spiel und zwei Schiffsmodelle – wo bin ich hier?

Die Architektur der Erinnerung ist ein konstruierter, komponierter Raum, in dem sich historische, narratologische, memoriale und fiktionale Aspekte zu einem ästhetischen Gedächtnis verdichten: Er ist Architektur, Museum und Archiv in einem, und er ist – darin liegt die herausragende künstlerische Qualität – jeweils das eine im anderen und für das andere. Der konkrete Raum evoziert die jeweilige Zuschreibung, um sie zugleich unendlich zu öffnen, indem er Erinnerungsspuren in der subjektiven Logik eines Gedächtnisses (hinein) trägt.

Im Folgenden versuche ich, mich der Kunst von Sigurdsson noch einmal über die durch den Begriff des offenen Archivs und den Titel ihres Hauptwerks Die Architektur der ErinnerungDas Museum im Museum vorgelegten Dispositive zu nähern: die Vorstellung vom Gedächtnis als Erinnerungsraum bzw. -architektur, als offenes Archiv und als Museum. Es geht dabei um die Form, den Diskurs und die Kunst des Gedenkens.

Ästhetik des Gedächtnisses

Sowohl die zweidimensionale Vorstellung vom Gedächtnis als Schreibfläche und als auch die dreidimensionale Vorstellung vom Gedächtnis als Raum reichen bis in die Antike zurück. Platon beschreibt das Gedächtnis als „wächserne Tafel“ und sieht darin einen „Aufbewahrungsort der Wahrnehmungen“.[8] Beide Metaphern findet man bei Sigurdsson wieder: sie konzipiert das Gedächtnis als leere Seite oder als Buch, in das sich Erinnerungen einzeichnen, und sie entwirft das Gedächtnis als Raum für unterschiedliche, heterogene Wahrnehmungen.

In der christlichen Antike hat sich der Kirchenvater Augustinus, platonische Denkbilder aufgreifend, besonders intensiv mit dem Gedächtnis befasst. In seinen Bekenntnissen, einem Wechselgespräch aus innerem Monolog und Dialog mit Gott, stellt er sich das Gedächtnis wie einen unendlichen (Innen-)Raum vor:

„Groß ist die Macht des Gedächtnisses. … Ein Leben, so mannigfaltig und vielgestalt und völlig unermesslich! Mein Gedächtnis, siehe, das sind Felder, Höhlen und Buchten ohne Zahl, unzählig angefüllt von unzähligen Dingen jeder Art, seien es Bilder, wie insgesamt von den Körpern, seien es die Sachen selbst, wie bei den Wissenschaften, seien es irgendwelche Begriffe oder Zeichen, wie bei den Bewegungen des Gemüts, die sich, wenn die Seele auch schon nicht mehr leidet, im Gedächtnis erhalten und also mit diesem in der Seele sind: durch alles dieses laufe ich hin und her, fliege hierhin, dorthin, dringe vor, soweit ich kann, und nirgend ist Ende: von solcher Gewaltigkeit ist das Gedächtnis, von solcher Gewaltigkeit ist das Leben im Menschen, der da sterblich lebt.“[9]

Das Gedächtnis erscheint also unendlich ausgedehnt und unendlich differenziert. Was wir erinnern, liegt nicht klar voneinander getrennt vor uns, sondern kommt ganz ungeordnet zu Bewusstsein, es begegnet uns auf „Feldern, in Höhlen und Buchten“. Zwar können wir laut Augustinus in dieser Gedächtnislandschaft Erinnerungen nach Art und Qualität unterscheiden: Erscheinungen, Wissen um sachliche Zusammenhänge, Begriffliches und sogar Gefühltes, aber unser Geist wird von einem zum anderen gejagt, „fliegt hierhin und dorthin“ und kommt an kein Ende.

In der Kunst von Sigurdsson findet dieses Bild seine Entsprechung darin, dass das Archivierte keiner Redaktion unterzogen wird. Eingelagert sind zahllose Fragmente, Dokumente und Fundstücke, eine Rahmenerzählung, Hinweistafeln oder eine Inhaltsangabe fehlen. Ein Besucher dieses offenen Archivs kann sich darin verlieren, und er wird bei der Durchsicht und Lektüre an kein logisches Ende kommen.

Kehren wir noch einmal zurück zu Augustinus. Für ihn ist nun gerade dieser chaotisch verfasste, offene Gedächtnisraum der Ort, an dem Wahrnehmung beginnt und damit auch Selbstwahrnehmung beginnen kann.

„Im Innern tue ich dies, im ungeheuren Raum meines Gedächtnisses. Dort mir gegenwärtig Himmel, Erde, Meer und alles, was ich von ihren Dingen mit meinen Sinnen fassen konnte, nur jenes nicht was ich vergessen habe. Dort begegne ich auch mir selbst und erlebe es noch einmal, was und wann und wo mein Tun gewesen und was ich bei diesem Tun empfunden. Dort ist alles, wessen ich mich entsinne, sei es von mir erlebt oder dass ich es von anderen erfahren habe. Aus derselben Masse hervor verknüpfe ich mir selber auch immer neue Bilder erlebter oder dem fremden Erlebnis – weil es meinem eigenen entsprach – geglaubter Dinge mit vergangenen zu einem Gefüge und erwäge auf Grund dessen auch schon künftiges Tun, wie es ausgehen mag, was sich hoffen lässt, und wiederum ist dies alles wie gegenwärtig vor meinem Geiste.“[10]

Man begegnet also nicht nur den eigenen Aktionen, sondern auch dem, was man nur von Anderen erfahren und nicht selbst erlebt hat. Es ist mithin ein Ort, an dem man Bezüge herstellt und vergleicht, die Erinnerung des selbst Erlebten mit der Erfahrung anderer. Im Vollzug der Erinnerung entsteht damit eine neue, eine veränderte Gegenwart. Gerade die nicht hierarchische Si­mul­taneität der Erinnerungen vermag einen Prozess in Gang zu setzen, der die Dinge so vergegenwärtigt, dass sich das nicht Greifbare des Lebens darin spiegelt. Augustinus fasst Erinnerung vor allem als Erfahrung von Vielheit und Differenz, erkennt also die vergegenwärtigende Kraft des Gedächtnisses als Möglichkeit der selbstreflexiven Introspektion – die Konsequenz ist jedoch nicht zwangsläufig Aufklärung. Auch in der Kunst von Sigurdsson geht es gleichermaßen um die Faszination, die Achtung und die Skepsis gegenüber der gewaltigen Kraft des Gedächtnisses. Sie vertraut nicht auf eine (historische) Aufarbeitung durch die Vernunft, sondern setzt ganz auf die vergegenwärtigende Kraft der Kunst.

Während sich über das Interesse an der selbstbildenden und -verstellenden Kraft des Gedächtnisses durchaus Analogien zwischen dem Denken von Augustinus und der künstlerischen Arbeit von Sigurdsson herstellen lassen, ist das Anschauungsmodell gleichwohl ein gänzlich anderes als das von Augustinus. Ihre Installation evoziert nur sehr bedingt das (landschaftliche) Bild einer Höhle, sie arbeitet dagegen ja ganz explizit mit dem Bild des vom Menschen gebauten Raums:  der Architektur. Architektur ist die Wissenschaft und Kunst des planvollen Entwurfs der gebauten menschlichen Umwelt, d.h. die ästhetische Auseinandersetzung mit dem vom Menschen gestalteten Raum in der Zeit. Ein formaler Bezugspunkt ihrer Inszenierung ist die Bibliothek als exemplarische Gedächtnisarchitektur mit einer langen eigenen Geschichte. So erscheint Sigurdssons Installation auch wie das Schattenbild eines Urbilds: der nicht mehr existierenden Bibliothek von Alexandria.

Geschlossene und offene Diskurse

Aber auch der Begriff der Bibliothek reicht nicht aus, um der Inszenierung gerecht zu werden. Denn anders als in einer Bibliothek sehen wir uns einem archivarischen und künstlerischen Bestand gegenüber: Kunstwerke, Primärquellen und Fundstücke, museal präsentiert, und fast alles ist zur Benutzung freigegeben.

Ein Archiv (lat. archivum, Aktenschrank; aus altgr. archeíon, Amtsgebäude) ist eine Institution oder Organisationseinheit, in der Archivgut zeitlich unbegrenzt im Rahmen der Zuständigkeit des Archivs oder des jeweiligen Sammlungsschwerpunktes aufbewahrt, benutzbar gemacht und erhalten wird. Archive gibt es weltweit und in nahezu allen Kulturen und Lebensbereichen. Archive entstanden mit den ersten schriftlichen Überlieferungen und dienten von Anbeginn der Sicherung wichtiger Informationen.[11]

Im 20. Jahrhundert erfährt der Begriff eine Erweiterung: über seine Bedeutung als Wissensspeicher hinaus bezeichnet er seitdem auch "das allgemeine System der Formation und der Transformation von Aussagen"[12] und umfasst damit alle Bedingungen, unter denen Aussagen und in der Folge Wissen entstehen können. Das Archiv als Diskursrahmen spiegelt sich in der Kunst von Sigurdsson im Versuch einer Öffnung dieses Rahmens. Nicht die sachliche, logische oder lineare Abfolge der Dinge bildet das zugrunde gelegte Ordnungssystem ihrer Installation, ausgewählt und präsentiert werden die Dinge allein unter dem Gesichtspunkt der Erinnerung und nach einer ästhetischen Ordnung in unterschiedlichen Betrachtungsräumen: Bücher in Regalen, Objekte in Vitrinen, Zeichnungen an der Wand.

Unwillkürlich erinnert man in diesem Raum auch die gewaltsame Ordnung des Lebens und die Vernichtung von Menschen mittels archivarischer Instrumente: Registraturen, Listen, Bücher, Einträge … Diese Macht des Wissens bricht Sigurdsson, denn es gibt Raum für das Spiel: „Der Spieltisch ist nicht nur ein Instrument, das die Besucher zur Interaktion herausfordert, sondern er verbildlicht in knapper Form auch die Struktur der Architektur der Erinnerung. Denn so, wie die beweglichen Spielsteine auf dem Tisch keiner festen Ordnung unterliegen und unendliche Variationsmöglichkeiten bieten, so sind auch die einzelnen Bücher und Elemente in den Regalen keiner archivarischen Ordnung unterworfen.“ Sigurdssons Anleitung zum Spiel lädt ein, die „geschlossenen Diskurse“ (Foucault) wie ein Archäologe Schicht für Schicht freizulegen, aber auch, sie neu zu mischen und zu verknüpfen, auf Stimmen zu hören und Zeugnisse zu sehen, die die eigenen Überzeugungen vom Ablauf der Geschichte vielleicht in Frage stellen. Aber auch das legt die Künstlerin ganz in die Hand des Anderen. Was ich aus dem Erinnerungskonvolut mache, liegt an mir. Ich selbst kann – oder muss – Ordnung hineinbringen – meine subjektive Ordnung, im Abgleich mit den vor mir ausgebreiteten Beständen. „Die Fragmente und Versatzstücke in den Vitrinen und Folianten vermitteln keine kohärente(n) Geschichte(n) und kein abgeschlossenes Geschichtswissen, sondern sie fungieren als Anhaltspunkte und Impulsgeber, an denen sich die Erinnerung und die Phantasie der Besucher entzünden und mit vorhandenem Geschichtswissen verbinden kann.“

Das Museum im Museum

Ein Archiv dient der Erhaltung und Weitergabe des kulturellen Erbes, in Zeiten von Frieden und Krieg. Archive unterliegen daher selbst dem internationalen Schutz durch Organisationen wie Blue Shield International mit Sitz in Den Haag. Auch das Archiv von Sigurdsson bildet zeichenhaft einen – hier durch das Museum – geschützten Raum. Aber warum ist diese Architektur ein Museum im Museum? Das Museum der Gegenwart ist „der Ort, an dem sich die moderne Subjektivität als solche manifestiert – jenseits der Arbeit, des Werks, der Selbstobjektivierung, der Entfremdung“[13], schreibt der Philosoph Boris Groys. Museen sind Gedächtnisorte unserer Kulturen und Freiräume, die wir geschaffen haben, um jenseits der Verzweckung von Wissen, Erfahrungen und Lebensräumen etwas über uns erfahren zu können. Museen sind Heterotopien (Foucault), andere Orte, weil sie das Andere nur um seiner selbst zur Geltung bringen und es so für die Gesellschaft sichtbar machen. Einige Museen reflektieren dies durch ihre eigene Architektur, wie das Jüdische Museum Berlin. Die museale Binnenarchitektur von Sigurdsson ruft ebenfalls Aspekte der Geschichte des Museums auf: das antike Museion als „Tempel der Musen“, als lebendiger Ort der Inspiration; das Museum der Renaissance als Kunst- und Wunderkammer persönlicher Interessen und Sammlungen und schließlich das Museum als öffentlicher Ort der Ausstellung und Kommunikation eines kulturellen Erbes. Ihre Arbeit ist deshalb ein Museum im Museum, weil sie darin ihre künstlerische Gedächtnisforschung als Fragment in den Kontext musealer Konzepte von der Antike bis in die Gegenwart einbettet und so zur Disposition stellt, sich darin spiegeln lässt. Diese Form der künstlerischen Museologie, der (endlosen bzw. offenen) Befragung der eigenen Arbeit, ist nicht zuletzt das Ergebnis konsequenter künstlerischer Selbstreflexion.

Postscriptum: (M)eine persönliche Erinnerung

Zusammen mit der Theologin Anne Gidion und dem Herausgeber dieses Magazins habe ich Anfang der 90er Jahre an dem Hagener Projekt teilgenommen. Wir entliehen eines der Reisebücher, eine Kladde in der Größe eines mittleren Folianten. Im Wechsel notierten wir Texte, Gedichte und Skizzen, jeder behielt das Buch etwa vier Wochen, dann bekam es der nächste. Das Projekt war für uns also mit zahlreichen Treffen und der Übergabe des Buches verbunden, was, obwohl es noch die analogen Zeiten waren, wir also noch nicht an einen schnellen persönlichen Austausch von Nachrichten in Texten und Bildern gewöhnt waren, doch einen gewissen Aufwand bedeutete, da wir in unterschiedlichen Städten lebten. Es war Verpflichtung und eine gute Gelegenheit sich regelmäßig zu sehen, fast immer in Hagen. Wir tauschten uns aus und besprachen, wie wir weitermachen könnten. Heute denke ich, dass diese Mitarbeit an einem Archiv, die konkrete, aber eben mehr noch die gedankliche Auseinandersetzung damit, sicher auch ein Baustein war für die wenig später realisierte Idee, ein eigenes Magazin im Internet ins Leben zu rufen bzw. daran mitzuwirken.

Der Form nach sind diese Reisebücher minimalistisch: schwarzer Leineneinband, ungebleichtes Zeichenpapier. Im Regal nebeneinander würden die Buchrücken eine nahezu schwarze Wand bilden. Ich wusste nicht mehr, dass sie Reisebücher hießen. Bücher einer Reise oder Bücher, um zu reisen? Wohin? Der Begriff des Reisebuchs verweist sicher auch in die romantische Vorstellung der literarischen Reise als fiktionalisierte Erkundung der eigenen Innenwelt.

Mich schüchterte vor allem die Größe des Buches ein, so viel freie Fläche für Eigenes … Es erinnerte mich an ein Zeichenbuch, so dass ich, wenn es vor mir lag, weniger Lust hatte zu schreiben als zu zeichnen, zu collagieren oder zu malen. Inhaltlich erinnere ich verschiedene Impulse: gerade Erlebtes zeichenhaft zu Papier zu bringen, einfach eine schöne Zeichnung zu machen oder das, was mich theoretisch beschäftigte, zu reflektieren. Keines dieser hehren Ziele konnte ich wirklich umsetzen. Aber der jeweilige Impuls bzw. die Unterschiedlichkeit der Impulse, die jeweils andere innere Aus-Richtung allein durch ein leeres, mit anderen zu füllendes Buch ist mir bis heute lebhaft gegenwärtig.

Ich will nicht verhehlen, dass es bisweilen zäh war. Es ist nicht leicht ein Buch zu füllen. Wo fängt man an, was ist überhaupt wert aufgezeichnet zu werden? Wird es gelingen, was bedeutet es im Kollektiv zu schreiben? Wir verfassten meiner Erinnerung nach eher monadische Beiträge, mit wenn überhaupt nur indirekten Bezugnahmen, die zukünftige Leser, so es sie geben sollte, entdecken mögen. Jede Seite war aber eben doch eine Spur dessen, was uns beschäftigte, was uns freundschaftlich und kollegial verband und unterschied. Es war im Grunde das Projekt eines virtuellen Buches, das es erst noch (zu Ende) zu schreiben gälte, denn wir haben das Reisebuch nicht füllen können und es dem Archiv als Fragment übergeben.

Heute wäre eine solche Mitarbeit eine andere. Wir würden wahrscheinlich Fotos unserer Beiträge via Internet teilen, vielleicht hätte das Ergebnis mehr intertextuellen Charakter. Das Buch selbst hätte vermutlich eine sehr viel körperliche Ausstrahlung gehabt, im Sinne eines Mediums im magisch beseelten Sinn als das Buch schlechthin. Es erscheint jedenfalls heute in Zeiten der Digitalisierung noch einmal mehr wie ein Dinosaurier aus der Gutenberg-Galaxis. Aber das ist natürlich Spekulation. Fakt ist, dass die Rückwendung auf diesen kleinen Ausschnitt meines Lebens viele Erinnerungen geweckt hat. Dabei entsteht, wie das Augustin schrieb, eine veränderte, eine neue Gegenwart.

Anmerkungen

[1]    Sigrid Sigurdsson, Wikipedia Art., im Text nicht ausgewiesene Zitate ebd.

[2]    Theodor W. Adorno: Eingriffe. Fünf kritische Modelle, Frankfurt/M., Suhrkamp: 1963, S. 125-146, hier: S. 125.

[3]    Ders., a.a.O., S. 126.

[4]    Martina Pottek: Kunst als Medium der Erinnerung. Das Konzept der Offenen Archive im Werk von Sigrid Sigurdsson, Weimar 2007, S. 39–77.

[5]    Ausst.Kat. Sigrid Sigurdsson. Bilder und Objekte, Overbeck-Gesellschaft, Lübeck 1987.

[6]    Christian Wolff, zitiert aus: Rudolf Eisler (Hg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Historisch-Quellenmäßig, Vol. 1: A bis N (Berlin 1904), Reprint 2018.

[7]    Regina Freudenfeld: Gedächtnis-Zeichen: Mnemologie in der deutschen und französischen Aufklärung, Tübingen, Narr: 1996, S. 112.

[8]    Rudolf Eisler: a.a.O.

[9]    Augustinus: Bekenntnisse, 10. Buch, Kap. 17, übersetzt v. Josef Bernhart. Nachwort und Anmerkungen v. Urs von Balthasar, Frankfurt/M./Hamburg, Fischer: 1955, S. 186.

[10]   Augustinus, a.a.O., S. 178.

[11]   Archiv, Wikipedia Art.

[12]   Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M., Suhrkamp: 1981, S. 188.

[13]   Boris Groys: Das Museum im Zeitalter der Medien, in: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters, [Edition Akzente, hg. v. Michael Krüger], München/Wien 1997, S.10.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/118/kw82.htm
© Karin Wendt, 2019