Inszenierung und Vergegenwärtigung


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Nichts gelernt?

Eine Rezension von Albinatis "Die katholische Schule"

Wolfgang Vögele

Edoardo Albinati, Die katholische Schule, Berlin 2018

1.

Der römische Philosoph Seneca beklagte, dass die Philosophie zum Lernen für die Schule, also zum Selbstzweck ohne sozialen Nutzen verkommen sei: Non vitae sed scholae discimus. Generationen von Lateinlehrern an humanistischen Gymnasien kehrten diesen Satz um und formulierten lieber positiv: Non scholae sed vitae discimus. Lernen macht lebensfähig. Lehrer, Institution, Atmosphäre – alles spielt zusammen und soll Schülern mehr vermitteln als zweitausend englische und lateinische Vokabeln, den Satz des Pythagoras, den Aufschwung am Reck und ein Bündel chemischer Formeln. Darüber, was sie fürs Leben gerade an der Schule gelernt haben, reden die Goldabiturienten bei ihren ebenso hölzernen wie nostalgischen Ansprachen, wenn sie als Siebzigjährige den größeren Teil ihres Lebens hinter sich gebracht haben und melancholisch das Jubiläum ihres Reifezeugnisses feiern. Zu irgendetwas muss die Schule ja genutzt haben.

Aber das ist eben die Frage. Der italienische Schriftsteller Edoardo Albinati redet in seinem umfangreichen Roman „Die katholische Schule“ nicht programmatisch oder normativ und schon gar nicht salbungsvoll über den Beitrag der Schule zu Werte-, Wissens- und Habitusbildung. Er wendet den Satz des Seneca analytisch und fragt neu: Wie wirkt sich der pädagogisch-familiäre Komplex in Gestalt von Familie, Freunden, Lehrern und Klassenkameraden auf Bildung und Erwachsenwerden der Schüler aus? Als Beispiel dafür wählte er seine eigene Familie, das Stadtquartier, in dem er aufwuchs und die Schule, die er besuchte. Der Stadtteil ist das gutbürgerliche Quartiere Trieste in Rom (im Buch meist QT abgekürzt), die Schule ist die katholische Privatschule San Leone Magno (im Buch in meist SLM abgekürzt). Diese Schule war ausschließlich Jungen vorbehalten.

In den siebziger Jahren, als Albinati die Privatschule besuchte, geriet ein schweres Verbrechen in einem Haus in Circeo an der Küste in die Schlagzeilen. Dabei folterte, vergewaltigte und tötete eine Bande von Jugendlichen, die aus dieser Privatschule oder ihrem Umkreis kamen, zwei Mädchen. Dieses Verbrechen steht im Zentrum des Romans, und Albinati kürzt es im Text stets mit VvC (= das Verbrechen von Circeo) ab.

Einige Kritiker haben Albinatis Werk als eine Art Thriller oder Kriminalroman missverstanden. Danach würde der Autor die Vorgeschichte, den Ablauf des Verbrechens sowie die Verfolgung und Verurteilung der Täter nacherzählen. Aber dieser kriminalistische und juristische Teil der Geschichte rückt im Laufe des beinahe 1400 Seiten langen Textes immer mehr in den Hintergrund. Dieser Roman ist nur im Hintergrund eine spannungsvolle Erzählung. Je länger er sich entfaltet, desto mehr rückt eine philosophische, kulturwissenschaftliche Abhandlung in den Vordergrund. Manche würden das ein Pamphlet über das Erwachsenwerden nennen, über seine psychologischen, pädagogischen, philosophischen und theologischen Implikationen. Albinati verteidigt die folgende Grundthese: Das Verbrechen von Circeo lässt sich aus Pädagogik, Psychologie und Philosophie der katholischen Privatschule erklären. Religion, Elternhäuser, Freundschaften, Männer- und Frauenbilder, Bildungskonzeptionen – all das zusammen führt auf das brutale Verbrechen hin und von ihm wieder weg.

Für Albinati ist das Verbrechen von Circeo die emblematische Katastrophe schlechthin, Bartholomäusnacht und Prager Fenstersturz, Sturm auf die Bastille, Cäsarenmord, Knoten, Verdichtungs- und Konzentrationspunkt der Bildungs- und Kulturlandschaft im Italien der siebziger und achtziger Jahre. Und der Autor will nicht einfach die Geschichte von Tätern und Opfern rekapitulieren und dokumentieren, sondern die kulturellen und politischen Konstellationen zeigen, die zu dem Verbrechen geführt haben. Er interessiert sich für Ursachen und Konsequenzen: für das Verhältnis von Religion, Sexualität und Politik.

Wer als Leser einen Kriminalroman erwartet, wird diese philosophisch-essayistischen Passagen langweilig und überflüssig finden – wie die erwähnten Kritiker. Albinati ist im Übrigen nicht der erste Schriftsteller, der sich solche Vorwürfe gefallen lassen muss. Leser beklagten sich immer wieder über die ausführlichen philosophischen, alltagsethischen und militärstrategischen Passagen in Leo Tolstojs „Krieg und Frieden“ und bemerkten in ihrem Gefühl der Langeweile nicht, dass die vermeintlichen Abschweifungen vom Gang der Geschichte den Kern von Tolstojs philosophisch-literarischer Erzählstrategie ausmachen.

Genauso wird man Edoardo Albinati nicht gerecht, wenn man in seinem Roman die spannenden erzählenden und die angeblich langweiligen essayistischen Partien auseinanderdividiert[1]. Diese philosophisch-pädagogisch-psychologischen Reflexionen ernst zu nehmen, ist das eine wichtige Anliegen dieser Rezension. Das zweite Anliegen besteht darin, die (latente) theologische Dimension des Romans herauszuarbeiten. Es erscheint von großer Bedeutung, dass Albinati von einer katholischen Privatschule erzählt. Den Unterricht, auch die nicht-religiösen Fächer, hielten Priester, oft Jesuiten-Patres. Daraus ergibt sich die Frage nach dem Beitrag der katholischen Theologie und Kirche zu Bildung, Pädagogik, Erwachsenwerden. Albinati nimmt gerade dafür paradoxe Bewertungen vor, die es herauszuarbeiten gilt. Transponierend wäre weiter zu fragen, ob diese Erkenntnisse in die Perspektive des Protestantismus einzuordnen und zu übernehmen wären: irgendwie anders, aber doch ähnlich. Im Folgenden werde ich mich an den großen Themenfeldern orientieren, die Albinati öffnet: Männlichkeit, Sexualität, Psychologie, Freund­schaft, Jugend, Familie, Kirche und Religion, Schule und Pädagogik, das Schreiben. Allerdings ist auch zu warnen: Was hier aus Gründen der Lesefreundlichkeit in eine Reihenfolge gebracht wurde, ist im Roman selbst nahezu unentwirrbar miteinander verwoben.[2]

2.

„Männlich geboren zu werden ist eine unheilbare Krankheit.“ (44)[3] Das ist die Grundthese: Männer haben ein Problem, von der Geburt bis zum Greisenalter, zumal wenn sie auf einem Knabengymnasium sozialisiert wurden. Männlichkeit ist eine Krankheit, zu deren Symptomen heftige Identitätsprobleme gehören, unter anderem der Drang zu Machtmissbrauch und Dominanz, zur Empfindlichkeit bei harmlosen Krankheiten wie Schnupfen und zu einem gestörten, weil überhöhten und übertriebenen Verhältnis zur Sexualität. Kleine Jungs müssen sich aus der frühkindlichen Schutzkultur der Mutter befreien und lernen, erwachsen zu werden, wo sie in das „Fegefeuer praktischen Lebens“ (50) hineingeraten, wo sie unbehütet von mütterlichem Schutz in der Brutalität der Wirklichkeit langsam vor sich hinschmurgeln. Männlichkeit definiert sich als Verlusterfahrung. Ab dem Schulbeginn tritt die Konkurrenz mit gleichaltrigen Jungs hinzu; gleichaltrige Freunde und Gegner muss man unbedingt übertreffen.

Männlichkeit entwickelt sich für Albinati daraus, dass jeder kleine Junge die ursprüngliche Fürsorge der Mutter eigentlich ganz bequem findet und diesem Stadium nachtrauert. Der Autor zögert nicht zu sagen: Das ist das Schicksal aller Jungs. Das gutbürgerliche Wohnviertel in Rom und die private Knabenschule verstärken diese Entwicklung erheblich. Diese negative Theorie der Männlichkeit als Verlusterfahrung erinnert an das tugendethische Theorem des amerikanischen Philosophen Robert Nozick, der einmal gesagt hat, Erwachsenwerden bedeute, sich von der Gewissheit zu befreien, dass es die Eltern für ihre Kinder schon richten werden.

Um sich in den Konkurrenzen der Wirklichkeit zurechtfinden zu können, bestimmt sich Männlichkeit vor allem durch Aggression. Erwachsenwerden heißt lernen, seine eigenen Aggressionen zu bewältigen, das sei in der richtigen Dosierung das „Geheimnis der männlichen Erziehung“ (80). Albinati wirft den Lehrern der katholischen Schule vor, sie hätten sich, wie die späteren Vergewaltigungen zeigten, in der Dosierung geirrt.

3.

Neben den Verlust mütterlicher Fürsorge und die Aggression tritt als drittes bestimmendes Merkmal von Männlichkeit die Sexualität, die elementar mit Macht verknüpft ist. Versagen und Leistung, Triumphe und Niederlagen, Sport oder Politik, Albinati sieht überall männliche Sexualität am Werk (307). Der Mann ist ein Wesen sexueller Begierden, gefangen im Wunsch nach Fortpflanzung und gedemütigt durch Erfahrungen sexuellen Ungenügens wie der Impotenz. In diesem letzten Begriff legt sich der Zusammenhang zwischen Sexualität und Macht ja schon etymologisch nahe. Potent ist der Mann, der jederzeit zur Fortpflanzung fähig ist. Macht und Machtlosigkeit erhalten auf allen Ebenen eine erotische Konnotation. Politische, ökonomische, intellektuelle Macht, die gesamte Gesellschaft mit ihren institutionellen Ausformungen nimmt Albinati in einer Dimension von latenter Sexualisierung und Machtkonkurrenzen wahr. Das Gegenteil von Macht, Potenz, Erektion sind Versagen, Demütigung, Impotenz.

Es gibt verschiedene Strategien, diesem Wechselspiel zu entkommen. Eine davon sieht Albinati im Krafttraining in der Muckibude, das aus dem männlichen Irrtum entsteht, die Unübersichtlichkeit der Welt allein mit Hilfe von Muskelkraft bewältigen zu können. Körperliche Kraft und Geschicklichkeit können davor bewahren, in Schlägereien und Prügeleien überwältigt zu werden, aber das reicht leider nicht für das ganze Leben, zumal wenn die heranwachsenden erstens erwachsen und zweitens älter werden. Nach der Jugend ist der Zenit muskulärer Weiterentwicklung schnell überschritten, und der folgende körperliche Abbau, der mit dem Alter einhergeht, wird stets als Schwächung und Kränkung erfahren, letztlich als Verlust von Potenz, also Macht.

Diese Theorie der Männlichkeit führt ungefähr ab der Mitte des Buches zu Albinatis umstrittenster These. Denn er behauptet, dass am Ursprung dieser machtstrotzenden Sexualität die Vergewaltigung steht. Und es ist wohl kein Zufall, dass der Autor diese These mit durchaus biblischen Bildern einführt: „Die Vergewaltigung ist im Sex verwurzelt wie der Baum der Erkenntnis im Garten Eden. (…) Die Vergewaltigung ist das unsagbare Geheimnis des Sexes, das, einmal sichtbar gemacht, die Welt ins Verderben stürzt und die Beziehung zwischen Männern und Frauen, zwischen Mensch und Natur, für immer durchseucht.“ (927) Dies ist eine Schlüsselpassage, die sich für Albinati aus dem Verbrechen von Circeo ergibt: Das Verhältnis zwischen Mann und Frau beruht auf Gewalt. Im Kern dieser machtbestimmten Sexualität steht – erste Zuspitzung – die Vergewaltigung und noch mehr – zweite Zuspitzung – sieht er in ihr diese eine Vergewaltigung, nämlich das Verbrechen von Circeo.

Aber an diesem Punkt melden sich Zweifel an: Selbst, wenn man eine sehr pessimistische Anthropologie zugrunde legt, scheint mir diese These über das Ziel hinauszuschießen. Sie scheint mir auch nicht gedeckt durch die Erzählung des Romans und ebenso wenig durch die Reflexionen, die die Erzählung begleiten. Albinati schreibt dem Verbrechen von Circeo für die italienische Kultur einen prägenden Einfluss zu. Es nimmt sich für ihn aus wie eine Zäsur, die im Blick auf Familie, Bildung und das Verhältnis von Mann und Frau eine fundamentale Veränderung des Blickwinkels nach sich gezogen hat. Letzteres wäre ja noch einzugestehen, die negativ prägende Kraft von Verbrechen und Attentaten für nationale Kulturen oder ganze Kontinente. Aber das gilt eben nicht nur für das von Albinati beschriebene Verbrechen, sondern auch für andere Ereignisse, etwas für das Attentat auf den Präsidenten Kennedy in Dallas oder für die Ermordung des österreichischen Thronfolgers 1918 in Sarajewo.

Schwer hinzunehmen jedoch finde ich die These, dass sexuelle Gewalt der Ursprung aller Formen der Liebe ist. Man kann sich auf die These einlassen, dass jede kommunikative Beziehung, jede Liebe von einer negativen, gewalttätigen Schattenseite begleitet ist, dass in der Liebe neben Respekt, Fürsorge, Zärtlichkeit und Liebe auch Gewalt und Aggression, Elemente des Sadismus lauern. Dann wäre Sexualität ein ambivalentes Phänomen. Aber Albinati geht eben den einen kleinen Schritt weiter, dass er sich allem Schönreden von Sexualität verweigert und in ihr grundsätzlich einen negativen, verhängnisvollen Kern behauptet. Keineswegs halte ich es für richtig zu behaupten, sämtliche, auch die gewalttätigen Seiten einer Liebesbeziehung müssten stets und mit innerer Konsequenz zum Ausbruch kommen. Das ist der eine Schritt über das Ungewöhnliche hinaus, der Albinatis Gedankengebäude zu Liebe und Gewalt an einem zentralen Punkt mindestens zum Wanken, wenn nicht zum Einstürzen bringt.

Albinatis Buch ist allerdings viel zu lang und damit zu facettenreich, um es auf diese eine, wenn auch oft wiederholte These zu verkürzen. Andere Passagen legen eine alternative Theorie der Sexualität nahe, etwa wenn er Gewalt und Liebe als miteinander verschlungene Ausdrucksformen des Begehrens versteht. Dieses Begehren kann nie domestiziert werden, das bürgerliche Ich muss sich immer wieder damit auseinandersetzen. Albinati spricht davon, dass Sexualität zum „Gefängnis“ (987) wird. Die Metapher vom Gefängnis passt zum Autor, der ja in seinem bürgerlichen Leben als Lehrer in einer Justizvollzugsanstalt arbeitet.

Neben der überstrapazierten Vergewaltigungsthese finden sich bei Albinati auch Elemente einer psychologischen Theorie des Begehrens, die Sexualität, Aggression und Männlichkeit miteinander verbindet.

4.

Dabei redet er von Dispositionen und Konstellationen, aus denen sich verschiedene Lebensformen, auch sexuelle, entwickeln können, die aber eben nicht mit Notwendigkeit zu einer Vergewaltigung führen müssen.

Männlichkeit, Aggression und sexuelles Begehren leben aus einem psychologischen Dispositiv, das sich nicht aus den Verhältnissen der Wirklichkeit, Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten, sondern aus Ängsten, Befürchtungen, Wünschen und Träumen bestimmt. Sie beeinflussen das Handeln eines Heranwachsenden mehr als die faktischen Verhältnisse (98). Albinatis Roman lässt sich als der Versuch verstehen, die Herausbildung dieses psychologischen Systems aus Ängsten, Hoffnungen und Vorurteilen zu beschreiben. Den größten Einfluss aus dieser Herausbildung üben bei Gleichaltrigen die Mitschüler aus, dann Brüder und Schwestern, am Schluss der Kette erst Lehrer und Eltern.

Das Dispositiv von Wünschen und Ängsten benötigt ein Kompensat, welches Albinati gleichermaßen in Romanen und in Pornographie findet. Romane als Verwirklichung von Wunscherzählungen ordnet er Frauen, Pornographie als Verwirklichung von sexuellen Phantasien ordnet er Männern zu (154). Beide erweitern in seiner Sicht die Wirklichkeit, während Religion versucht, sie zu schließen, Kontingenzen zu bewältigen. Gefährlich wird es genau dann, wenn Männer versuchen, ihre sexuellen Phantasien in die Wirklichkeit umzusetzen, wie das im Verbrechen von Circeo geschehen ist. Das Begehren bleibt stets gleich, nur die Energie, mit der Menschen versuchen, dieses Begehren zu befriedigen, nimmt mit dem Älterwerden ab. Begehren zielt auf Resonanz, Liebe, Anerkennung, Akzeptanz; es ist beileibe nicht nur auf die Befriedigung sexueller und erotischer Bedürfnisse beschränkt.

Leben bedeutet nach dieser psychologischen Theorie, Wirklichkeit und Pläne in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Wenn solch eine Balance richtig eingestellt ist, schadet die handelnde keiner anderen Person. Wenn sie sich ganz der Phantasie jenseits der Wirklichkeit überlässt, wird sie verrückt. Wenn sie sie verdrängt, versklavt sie sich an die faktische Wirklichkeit. Wirklichkeit ist für Albinati Asymmetrie, Ungerechtigkeit, Zufall, Unduldsamkeit, nicht die Einheit von Yin und Yang, von Männlichem und Weiblichem, wie sie zum Beispiel chinesische Alltagsethik postuliert (164). Männer, so Albinati, zeichnen sich dadurch aus, dass sie ein solches Ungleichgewicht weder dulden noch ertragen können. In ihrer Ungeduld versuchen sie, gewaltsam vermeintliche Gerechtigkeit wiederherzustellen. Männer nehmen vermeintliche Ungerechtigkeit als (Selbst-)Ermächtigung zur Gewalt, sei es zur Vergewaltigung, zum Bankraub, zum Terroranschlag oder zum Selbstmordattentat. Sie kommen in Albinatis Sicht nicht mit der Wirklichkeit zurecht, und dieses Ungenügen beeinflusst ihre Psychologie, ihre Sexualität und ihre Intellektualität.

5.

Männlichkeit ist konstituiert durch Sexualität und Gewalt. Aber Jungs und junge Männer entwickeln sich nicht isoliert, sondern sie stehen in verschiedenen Beziehungen. An allererster steht die Beziehung zur Mutter, und diese Mutterorientierung wird eingefasst durch die Beziehung zur Familie. Die Familie bildet eine Art Cluster, in dem verschiedene Generationen zusammenleben. Deswegen sind Familien sind darauf angewiesen, dass ihre Mitglieder bereit sind, Kompromisse zu schließen statt in Konflikten zu explodieren. Albinati nennt die Familie „Bildschirm und Filter traumatischer Erfahrungen“, die „Schnittstelle mit der Wirklichkeit“ und die „Vermittlungsstelle zwischen einer Altersstufe und der nächsten“ (403). Familie wird zum frühesten Erfahrungshorizont kindlicher Entwicklung. Am Beispiel der familiären Verhältnisse lernt ein junger Mensch soziales Verhalten.

Das gilt nicht nur in Italien, in einem bürgerlichen Vorort seiner Hauptstadt. Beim Thema Familie kann jeder Leser mitreden, und den Protestanten überfällt dabei die Erinnerung an die merkwürdige Diskussion um die berüchtigte Orientierungshilfe der EKD[4], welche als soziologische Analyse im Grunde verkannt wurde, da alle Kommentatoren zuerst auf die theologischen Schwächen blickten. Für Albinati erzeugen italienischen Familien Kohorten von Muttersöhnchen (420), die mit einer Ideologie des Familismus (420) leben. Das könnte sich dann doch von den Verhältnissen der Bundesrepublik unterscheiden. Aber entscheidend ist der prägende Einfluss der Familie auf jeden Heranwachsenden, auch wenn es kulturelle und nationale Unterschiede geben mag.

Familien sind für Albinati eingebunden in bürgerliche Werte. In Familien organisierte Bürger mischen sich Vernunft und Glauben zur Lebensbewältigung an, weil ihnen im Alltag stets etwas fehlt, das sie als Träume, Wünsche, Sehnsüchte artikulieren. Deswegen wollen Bürger Ziele erreichen: eine Karriere, einen bestimmten sozialen Status etc. Wem zu viel fehlt bzw. wer zu wenig erreicht, der verbittert. Verbitterte Bürger bestehen nur noch aus Demütigungen, Kränkungen und Erinnerungen an Verletzungen (554). Bürger sind Beobachter, die sich stets mit anderen vergleichen müssen, um ihren eigenen sozialen Status zu messen. Denn sie wollen auf jeden Fall verhindern, dass sie in ihrem sozialen Status absinken. Weil sie sich ihrer selbst nicht sicher sind, müssen sie sich einordnen. Die Einordnung ist das Resultat eines Vergleichs.

Albinati beschreibt das Bürgerliche als eine Konstellation aus Gefühlen, Verhältnissen und Beziehungen. So entsteht ein fragiles Konstrukt von Identität, das sofort in sich zusammenstürzen würde, wenn es durch das offene Aussprechen unangenehmer Wahrheiten gefährdet wird. Die eigene Konstruktion des Selbst verträgt scheinbar nicht allzu viel Wahrheit. Deswegen sammelt sich für Albinati in der Seele Müll, Schrott und Trester an, der auf keinen Fall offen präsentiert werden darf. Doch im Dunkeln und Verborgenen gärt es dann. Die missachteten Gefühle machen sich selbständig und bringen Ungeheuer und Gespenster hervor (561). Albinati bedient sich bei seinen Überlegungen zum Zustand der bürgerlichen Seele eines psychoanalytischen Verfahrens, das er aber vom Optimismus der Heilungschancen bereinigt hat. Sein Ziel ist nicht, das souveräne bürgerliche Ich wiederherzustellen. Er erscheint zweifelhaft, ob das überhaupt möglich ist. Er begnügt sich mit dem Entlarven existenzieller Alibis (562), die sich das bürgerliche Ich in jahrelanger grübelnder Kleinarbeit geschaffen hat.

Bürgerliche Lebensweise ist bestimmt durch den Gegensatz zwischen dem Ausgesprochenen und dem Unausgesprochenen. Dem liegen folgende Prämissen zugrunde. Es ist besser für das Zusammenleben, bestimmte Gesprächsthemen zu vermeiden, damit kein Streit entsteht, damit Kontakt und Kommunikation erhalten bleiben. Ärger und Enttäuschungen werden also lieber verschwiegen. Solange das soziale Miteinander wichtiger ist als die ‚brutale‘ Wahrheit, kann sich der einzelne sicher sein, dass die Gemeinschaft der Meinung ist, ihn zu brauchen. Das kann sich jedoch schnell ändern. Dafür braucht es große Selbstbeherrschung, die dem Sozialen den Vorrang überlässt und alles Widrige ins Unbewusste ableitet. Der (soziale, nicht der politische) Bürger muss lernen, sich im Zaum zu halten und dafür zu sorgen, dass das Unterdrückte, Heruntergeschluckte und Verdrängte nicht an die Oberfläche drängt. Und genau darin besteht der Sinn von Albinatis Roman: Er untersucht einen Fall, in dem männliche sexuelle Gewalt explodiert ist, nämlich in den Vergewaltigungen und dem Mord des Verbrechens von Circeo.

Bürger ahnen die eigenen Abgründe, aber sie wissen nicht darum; sie beobachten sich selbst und missverstehen sich dabei. Sie halten sich für harmlos und friedlich. Dabei missachten sie ihre eigene Gewaltneigung und verharmlosen die Gefahr, die von ihnen selbst ausgeht. „Das Bild des sorglosen, wie ein ruhiger Fluss dahinfließenden Mittelschichtlebens ist reiner Mythos.“ (660) Die Angst vor dem Leiden hat schlimmere Auswirkungen als das Leiden selbst. Das ist der psychohygienische Mechanismus, dem die bürgerlichen Menschen verfallen sind und den sie nicht durchschauen. Das Befürchtete ist stets schlimmer als das faktische Leben. Bürgerliche Menschen nehmen ihre Ängste ernster als die Wirklichkeit und lassen sich davon in die Irre leiten.

Bürgerlichkeit bedeutet, die Unordnung im eigenen Leben wegzuarbeiten, und zwar nicht nur den verfaulenden Müll, sondern zusätzlich alles, was nicht ins Konzept des eigenen sozialen Lebens passt. Überleben in der bürgerlichen Gesellschaft ist für Albinati der vergebliche Kampf gegen das andrängende Chaos. Das bürgerliche Begehren richtet sich auf Gerechtigkeit und auf „Anerkennung, Akzeptanz, Nachsicht, Zustimmung und Erlösung“ (628). Schon der Begriff der Erlösung deutet an, dass die Ziele bürgerlichen Lebens nicht ohne Religion zu bekommen sind. Damit meint Albinati allerdings nicht eine Religion im gesetzlichen oder frömmelnden Sinn, sondern eine humane, sozial verträgliche Religion, worauf die Stichworte Anerkennung und Akzeptanz hindeuten. Evangelische und katholische Kirchen sind in ihren amtskirchlichen Strukturen von dem Missverständnis besessen, dass es genüge, der jeweiligen klerikalen Bürokratie zu folgen. Frömmigkeit regrediert in diesem Verständnis zum Gehorsam gegenüber klerikaler Obrigkeit und hat dann mit Freiheit, Spiritualität und Selbstorganisation nicht mehr viel zu tun. Man kann die Frage stellen, ob die von Albinati beschriebene Sehnsucht der siebziger und achtziger Jahre noch mit den religiösen Sehnsüchten etwas zu tun hat, die im 21.Jahrhundert das Leben der Christen bestimmt.

Die Geschichte der Vergewaltigung, das Verbrechen von Circeo rückt in meiner Interpretation des Romans sehr stark in den Hintergrund. Viel wichtiger sind Philosophie und Psychologie des Bürgertums, die Albinati entwickelt: Verschließen und Verbergen alles Sexuellen, die harmlosen Oberflächen sozialen Kontaktes, die mühselige Zurückhaltung aller starken Triebe von Aggression und Gewalt, die Dialektik von Verbergen und Offenbaren, die Rolle der Religion, die (als katholische Kirche) das Verbergen von Sexualität fördert. Albinati hat sich einem sehr pessimistischen Menschenbild verschrieben: Männer, nur sie, sind aggressive, gewalttätige Wesen. Um überhaupt mit anderen zusammenleben zu können, müssen sie alle Anwandlungen von Aggression zurückhalten. Was zurückgehalten wird, ist aber noch nicht beherrscht oder verschwunden. Es besteht durchgängig die Gefahr, dass die psychologischen Schutzschilde innerer Aggressionsbewältigung versagen. Der Bürger ist der exemplarisch explosive Mensch. Die im Buch beschriebenen Vergewaltigungen sind diese Explosion, die den Zusammenbruch und den Bankrott des bürgerlichen Habitus anzeigen. Die bis dahin zurückhaltenden jungen Leute vergessen sich selbst – und damit jegliche ethische oder soziale Orientierung.

In einem Punkt ist Albinati selbst ganz bürgerlich: Er fordert von sich und seinen Mitmenschen, sich der Reflexion über die eigene psychologische und soziale Disposition zu stellen. Wer das aber so auflöst, dass er unangenehme Wahrheiten schönreden will, der verfällt der Kritik des „Gutmenschentums“: „(…) sich prinzipiell dagegen zu verwahren, dass die Wahrheit unangenehm und schmerzhaft sein kann, und um das Risiko zu vermeiden, flüchtet man sich in den Schatten einer tröstlichen Lüge.“ (873f.) Notabene: Hier wird der Begriff des Gutmenschen nicht in einem oberflächlichen Sinn verwendet, wie das zum Beispiel im deutschen Diskurs über einen billigen, politisierenden Protestantismus oft geschieht. Sondern für Albinati sind die Gutmenschen diejenigen, die sich der eigenen Abgründigkeit des bürgerlichen Habitus intellektuell nicht stellen; es sind diejenigen, die sich dem Nachdenken, sei es politisch, philosophisch, theologisch oder psychologisch, verweigern.

6.

Alle älteren Menschen werden das einräumen: „Die Jugend war der beste Moment. Die Männlichkeit befindet sich in ihrem flüssigen Reinzustand, ehe sie eine Richtung einschlägt und sich sexuell und später eventuell über die Arbeit definiert. Sie ist wie ein Lager mit hochentzündlichem Material, keine Frage, womöglich auch nützlich, aber einen geeigneten Verwendungszweck dafür zu finden ist nicht ohne.“ (304) Junge Männer (Albinati interessiert sich nicht für Mädchen oder junge Frauen) sind noch nicht geformt, verbildet, eingezwängt. Schule und Eltern wollen etwas aus ihnen machen, und sie wollen etwas aus sich machen. Um in Albinatis Bild zu bleiben: Ab der Jugend sind mehrere Lunten gelegt. Es fragt sich, was später zündet.

7.

Es macht die Komplexität von Albinatis Roman aus, dass er sich seinem Thema, der Geschichte des Verbrechens, von seinen tiefen Voraussetzungen her nähert. Diese werden ausführlich reflektiert. Eine Linie jedoch, im Grunde der heimliche Hauptstrang, zieht sich von Anfang bis Ende durch den Roman. Es ist Freundschaft des Erzählers mit seinem überintellektuellen Freund Arbus, der die Lehrer wegen ihrer vermeintlichen Dummheit verachtet. Der Erzähler verliert ihn aus den Augen und begegnet ihm wieder, nachdem Arbus mehrere Jahre wegen Brandstiftung im Gefängnis gesessen hat.

Arbus ist ein Klassenkamerad, mit dem sich Edoardo wegen seiner Intelligenz und Gesprächsbereitschaft schnell befreundet. Der Erzähler bezeichnet ihn als „Nerd“, also als einen „Schüler mit ausschließlich intellektuellen Interessen, der vom schulischen Sozialleben ausgeschlossen bleibt: Partys, Mode, Liebe, Sport. Er ist ein Synonym für Schüchternheit, Uncoolness, Einsamkeit und Anachronismus. Er ist altmodisch und futuristisch zugleich.“ (259) Albinati beschreibt bestimmte Rollen in Schulklassen, in denen sich auch Leser, die ja alle ehemalige Schüler sind, wiederfinden können. Arbus zerbricht im späteren Verlauf des Romans an dem genannten Gegensatz zwischen Intellektualität und Sozialität.

Ihre Bedeutung für den Roman findet die Figur von Arbus darin, dass er für den Erzähler Edoardo der exemplarische Freund ist. Wenn gesagt wurde, dass die Familie für jeden Heranwachsenden Grundmuster von Beziehungen bereithält, so ist die – im Gegensatz zur Elternbeziehung – selbstgewählte Beziehung zu einem Freund ein Grundmuster kommunikativen Handelns, das die Elternbindung und die Sozialisation durch die Schule langfristig ersetzt.

8.

Neben gleichaltrige Freunde, Familie und Eltern tritt die Schule als weitere prägende Kraft im Leben von heranwachsenden Jungs. Wer Inhalte lernt und sich Fähigkeiten aneignet, der wird gleichzeitig mit diesen Lernvorgängen als Person geprägt. Dabei wissen die Heranwachsenden nicht immer, wie ihnen geschieht: „Lernen und Verstehen gehen so gut wie nie miteinander her: Auf lange Sicht lernt man, ohne zu verstehen, und wenn man versteht ist es zu spät, um noch etwas zu lernen.“ (750) Der Jugendliche, der lernen kann, gibt sich keine Mühe mit dem Verstehen. Er versteht paradoxerweise das Lernen nicht. Der Mensch, der erwachsen geworden ist, weiß, dass er Menschen, Dinge, Verhältnisse verstehen muss, um zu überleben. Aber spätestens mit Dreißig nehmen seine intellektuellen Fähigkeiten schon wieder ab. Er kann das Verstehen dann nicht mehr lernen.

Das Besondere in Albinatis Roman besteht darin, dass Schule und Kirche miteinander verquickt sind. Edoardo und Arbus besuchen eine katholische Privatschule. Genauso wichtig wie Arbus ist deshalb der Lehrer, den die Schüler Cosmo nennen. Albinati führt ihm am Anfang als Lehrer und Bestandteil des Schulsystems vor. Am Ende des Romans begegnet der Erzähler dem Lehrer Cosmo wieder. Er ist alt, krank, resigniert, und wegen einer Krebserkrankung weiß er, dass er bald sterben wird. Der Erzähler gibt dann auf Dutzenden von Seiten die Sammlung von Notizen wieder, die der sterbende Cosmo, im Bett liegend, verfasst hat.

9.

Arbus, Edoardos Freund verachtete die jesuitischen Priester, die an der katholischen Schule Unterricht erteilten. Für Edoardo selbst bedeutete der Schulbesuch eine Auseinandersetzung mit dem Christentum. Den Glauben nimmt er wahr, indem er die theologischen Lehrer an der Schule beobachtet. Er wirft ihnen vor, sie würden die Formel „Jesus Christus“ wie ein magisches Zauberwort benutzen, um alles und jedes zu interpretieren und wegzudeuten. Deswegen sei das (katholische) Christentum „formbar und anpassungsfähig“ (104). Albinati bemüht sich, sämtliche sozialen Funktionalisierungen der Kirche zu durchschauen – und kommt doch nicht von der katholischen Kirche los, weder während seiner Schulzeit noch während seiner späteren Lebensphasen als Lehrer und Schriftsteller.

Seine Beobachtungen resümiert Edoardo so, dass er das Christentum als „eigenwillige[n], von Minderheiten praktizierte[n] Brauch“ (509) bezeichnet. Das sagt ein Italiener, dessen Land über Jahrhunderte die Papstwahl zu einer Art Familienangelegenheit machte. Für Albinati ist das Christentum zum hässlichen Entlein geworden, dessen klerikale Funktionäre völlig verängstigt sind und oft nicht wissen, was sie tun sollen. Aber die Kritik an der Kirche wird nicht zur Kritik an der Religion überhaupt erweitert. Zwar ist Glauben für das Handeln des Menschen nicht mehr notwendig. Handlungen, die sich vernünftig aus Zielen, Zwecken und Gründen ergeben, benötigen kein Gebet. Albinati setzt auf die Vernunft, die sich allerdings in der Moderne als zweischneidig entpuppt. Sie ist ein Instrument, um auf die Welt und die Menschen Einfluss zu nehmen. Wer seine Vernunft gebraucht, will Zustände abwehren, vor denen er Angst hat. Der Vernünftige schützt sich, um nicht ermordet zu werden. Er putzt sich die Zähne, damit der Zahnarzt nicht bohrt. Allerdings ist die Angst stets größer als die Macht der Vernunft, diese zu bewältigen. Früher, im traditionellen italienischen Katholizismus hat die Religion die Vernunft unterstützt. Die Plausibilitätskrise der Religion lässt auch die Defizite der Vernunft besser erkennen. Das Bürgertum besteht – in Albinatis Konsequenz – nur noch aus verängstigten Menschen. „Wir bestehen aus unseren Defiziten.“ (542)

Der Mensch als defizitäres Wesen benötigt weiterhin Religion, aber eben nicht die dogmatische und liturgische Kirchenreligion, sondern eine Religion, die auf Gefühl beruht. Man liest dann mit Staunen: „Das Gefühl des Glaubens hat nichts mit Denkvermögen zu tun und ist keine Überzeugung, zu der man durch Nachdenken gelangt; es ist und bleibt etwas anderes, Undefinierbares, dem sämtliche atheistischen Anfechtungen nichts anhaben können, weil sie stets von etwas anderem sprechen.“ (243) Glaube ist ein Gefühl. Schleiermacher, dessen Namen Albinati nicht erwähnt, lässt aus der bürgerlich-katholischen römischen Vorstadt grüßen.

Davon ausgehend, kommt Albinati auf eine Religion, die sich aus der Abwesenheit Gottes definiert. An einer luziden Stelle versteht er Religion verwirklicht „im reinen Warten, im zeitlichen Leerlauf, und es passiert, wenn nichts passiert, dann lernt man etwas, in den Pausen, vielleicht lernt man, oder man vergisst, das Vielleicht ist unabdingbar, es gibt nichts Zweifelhafteres und Ungewisseres als die Annäherung an Gott, der sich womöglich in einer Abwendung manifestiert und einen wieder einmal lackmeiert.“ (753) Warten als Medium der Spiritualität unterscheidet sich vom Kirchenglauben, weil die Priester den Fehler machen, es mit der Behauptung der Präsenz Gottes zu übertreiben: „Der ständige Verweis der Priester auf die übersinnliche Welt, im Unterricht, in der Messe, in den Gebeten (…) ließ die Leere, die wir um und in uns spürten, nur noch größer werden. Man verstand nicht genau, wozu es gut war zu leben oder nicht zu leben (…).“ (1132) Diese Kritik an der katholischen Theologie trifft auch für große Teile des kirchlichen Protestantismus zu. Er spiritualisiert in übertriebener Weise die Welt, die in Wahrheit dann für die Zweifelnden, Unsicheren umso grauer, schaler erscheint. Wer fromm sein will, heißt das im Umkehrschluss, muss zunächst einmal mit der Verborgenheit Gottes anfangen. Wer sich vorschnell in süßliche Behauptungen seiner Anwesenheit rettet, betrügt die Glaubenden. Die Gegenwart des Heils wird ekklesiologisch aufgebauscht. Die Kirche gibt sich den Anschein von Gottes Gegenwart und verschweigt die Ambivalenz dieser Behauptung. Die Kleriker übertreiben dann entweder, um Macht auszuüben, oder sie ziehen sich zurück, weil sie wissen, dass es für Gottes Segen keineswegs eine reale Erfüllungsgarantie gibt.

In der Religion stellen für Albinati die wartenden und glaubenden Menschen die Frage nach Gott– und erhalten keine Antwort. Deswegen ist Religion ein einziges Warten – wieder eine sehr protestantische Antwort für einen sehr katholischen Autor. Denn die liturgische Antwort der Kirchen auf die Frage nach Gottes Anwesenheit findet sich in gottesdienstlichen Vollzügen: Taufe, Abendmahl/Eucharistie, an der katholischen Schule San Leone Magno Teil des Tagesablaufs, dem Albinati allerdings sehr skeptisch gegenübersteht.

Erst am Ende des Romans findet der Erzähler in der Figur des sterbenden Lehrers und Ex-Priesters Cosmo dann zu einer Art paradoxem Glauben: „Der Glaube ist wahr, auch wenn sein Gegenstand falsch ist.“ (1165) Der Lehrer Cosmo, der zu Edoardos Schulzeiten ein Bestandteil des katholisch-pädagogischen Systems war, hat hellsichtig erkannt, dass sich die Hoffnung auf Gottes Erlösung und die triste Wirklichkeit zueinander verhalten wie kommunizierende Röhren: „Je trister das von uns geführte Leben ist, desto faszinierender erscheint uns das, auf das wir einen Anspruch zu haben glauben.“ (1181) Das scheint mir auch psychologisch richtig: Enttäuschungen und Groll blasen die Phantasie auf, die sich aber nie verwirklichen wird.

Der Erzähler Edoardo kümmert sich rührend um seinen sterbenden Ex-Lehrer, und er erkennt in ihm einen Teil seiner eigenen Entwicklung, von der Loyalität zur offiziellen katholischen Kirche zu einer Religion des Wartens: „Ich weiß nicht, was letztlich schlimmer ist: zu glauben und dann zu erkennen, dass man umsonst geglaubt hat (…), oder nicht zu glauben und am Ende zu spät zu erkennen, dass Gott existiert.“ (1281) Im Grunde ist Albinatis Buch, trotz all der Reflexionen über gewalttätige Sexualität und das Verhältnis von Mann und Frau, ein Roman über die Gottesfrage und den (sozialen) Sinn von Religion. Und Albinati ist sich selbst nicht sicher, ob er am Ende nicht doch in die schützenden Räume der katholischen Kirche zurückkehren soll.

De facto kehrt er in die katholische Kirche zurück, denn er besucht am Ende des Romans eine Weihnachtsmesse in der Kirche seiner ehemaligen Schule. Es folgt dann die Schlusspassage des Romans; über die Weihnachtsmesse reflektierend schreibt Albinati: „Wir verstehen die anderen nicht. (…) Wir sollten mehr an der Ungewissheit arbeiten, sie zu unserem Vorteil nutzen, auf unbestimmte Ergebnisse aus sein. Würde sich das, was wir suchen, niemals zeigen, hieße das entweder, dass es nicht existiert oder dass wir es nicht wert sind, es zu finden. Und dennoch zeigt es sich manchmal, und seine Seltenheit zerstreut jeden Zweifel. Lied für Lied neigte sich die Weihnachtsmesse am SLM ihrem Ende zu. Und mein Herz war endlich voller Freude.“ (1290f.) Im Kern geht es nicht um Frauen, Männer oder Sex, sondern um Gewissheit und Ungewissheit. Und es geht um die bleibende Tradition (ein katholischer Gedanke), welche der Gegenwart immer noch standhält. Der Erzähler kann nicht anders, weil er die katholische Schule besucht hat. Edoardo, der so lange gegen die katholische Kirche gekämpft hat, weil sie angeblich alle Jungs zu Frauenhassern gemacht hat, ist immer noch Katholik. Daran hat sich vom Anfang bis zum Ende des Romans trotz aller Ausflüchte, trotz aller Religions- und Kirchenkritik, nichts geändert.

10.

All diese Reflexionen Albinatis über Bildung, Theologie und Familie werden regelmäßig unterbrochen durch Überlegungen zum Schreiben. Es wird nötig zu schreiben, wenn der ruhige Ablauf des Alltagslebens durch positive (Glückserfahrungen) oder negative (das Verbrechen von Circeo) Ereignisse aufgestört und unterbrochen wird. Solche Unterbrechungen müssen bearbeitet und gedeutet werden. Für Albinati und für seine Erzählerfigur Edoardo geschieht das im Medium des Schreibens. Aber es ist nicht sicher, ob diese Deutungsarbeit des Schreibens zum Ziel führt. Die Notizen des Lehrers Cosmo enden mit dem folgenden Aphorismus: „Mein Verstand rührt den Ozean auf.“ (1219) Das klingt fast wie ein Koan aus der Zen-Tradition. Für den sterbenden Lehrer zeigt es in einem resignativ-melancholischen Ton die Unmöglichkeit des Subjektes, des einzelnen, in Leben und Wirklichkeit gestaltend und verändernd einzugreifen. Die deutende Reflexion der Wirklichkeit, das Nachdenken über den Ort des einzelnen in der Welt, bleibt ein Wimpernschlag gegenüber all dem, was als Wirklichkeit nur unzureichend zusammengefasst wird.

Im Kontext von Cosmos Notizen findet sich eine kurze Passage, in der der ehemalige Lehrer auf Edoardo, den Verfasser von Schulaufsätzen zurückblickt. Cosmo sagte damals zu seinem Schüler: „Ich weiß, daß du schreiben kannst, aber ich weiß auch, daß das dein größtes Handicap ist.“ (1194) Die Aussage ist selbstverständlich nicht nur auf den Schulaufsatzschreiber, sondern auch auf den Romancier Albinati anzuwenden. Und eine weitere wichtige Aussage kommt hinzu: „Alles, was wir sagen und erzählen, läuft stets Gefahr, unvollständig und zugleich zu ausführlich zu sein. Die Hälfte unseres Lebens verbringen wir damit, die andere Hälfte unter die Lupe zu nehmen.“ (1200) Schreiben gehört auf die Seite der Deutung des Lebens. Dass es über eigenes oder anderes Leben aufklärt, ist keineswegs ausgemacht. Schreiben verschweigt stets das Eigentliche, Zentrale, den Kern, und es verschwendet Aufmerksamkeit auf Nebensächliches und Belangloses. Albinati versteigt sich zu der These: Schreiben lenkt ab. Und wenn das selbstreferentiell auf seinen eigenen Roman anzuwenden wäre?

Die Erzählung eines Romans ersetzt das Leben – und doch nicht. Am Ende des Romans findet sich der Schriftsteller umwickelt und gefangen von den Wollfäden seiner Reflexionen. Auch das im letzten Drittel mit dem Mut der Verzweiflung eingespielte Bemühen um Authentizität kann ihm dabei nicht helfen. Albinati setzt zu dem großen Unternehmen an, sich selbst, seine Herkunft, Schule, Bildung und Freunde zu verstehen und kommt im Ergebnis zu einer gigantischen philosophisch-biographischen Untersuchung, die er mit diesem Roman vorlegt. Der Versuch, schreibend die Wahrheit hervorzubringen und sein Leben zu bewältigen, muss scheitern. Wahrheit lässt sich nicht verschriften. „Die Wahrheit bringt so viel Haß hervor! Das Geheimnis hingegen macht einen leicht und frei, sowohl den, der es bewahrt, als auch vor allem den, der es ignoriert. (…) Das Problem mit der Wahrheit ist, ob man sie sagen soll oder nicht.“ (490) Im vertraulichen Gespräch oder im Roman ausgesprochene oder beschriebene Wahrheit führt zu Brüchen und Kränkungen, sie zerstört Beziehungen, Freundschaften, Familien. Unausgesprochene Geheimnisse dagegen behindern das Funktionieren von Beziehungen nicht. Intellektuelle wie Albinati halten an der Wahrheit und den damit verbundenen Ansprüchen fest, während Bürokraten und Verwaltungsbeamte zum Verschleiern tendieren.[5]

Die verschriftete Annäherung an die Wahrheit setzt allerdings auch einen Gewinn frei. Dieser führt die beschriebenen religionsphilosophischen Reflexionen Albinatis fort. Der gesamte Roman ist bestimmt von einem Gegensatz zwischen Relativität und Absolutheit. Relativität ist zu unterscheiden von Relativismus, der Überzeugung also, dass alle Meinungen gleich gelten und als solche sozial zu akzeptieren sind. Das aber kann nur zu einem billigen Pluralismus führen. Relativität dagegen meint eher eine anthropologisch-psychologische Disposition: „Das Bewußtsein der unserer Existenz innewohnenden Schwäche und die Notwendigkeit, einen immer neuen Blickwinkel auf die Dinge einzunehmen, zwingen uns zu einer unermüdlichen Suche. Auf dieser Wanderschaft wird keine zu einem bestimmten Moment gegebene Antwort vollkommen gültig sein, weil sich die Frage in der Zwischenzeit grundlegend gewandelt hat.“ (288) Das ist ein weiteres Schlüsselzitat und gegen die ewigen, immergleichen spirituellen Werte der Kirche gerichtet. Damit vermag der fromme und kirchenobrigkeitshörige Christ der pluralistischen, gebrochenen Wirklichkeit nicht gerecht zu werden. Auch der Relativist scheitert an dieser Wirklichkeit, weil er resigniert, indem er alle Antworten als gleich gültig akzeptiert. Wer dagegen in Relativität denkt, ist sich der Vorläufigkeit all seiner Antworten bewusst und versucht, sein Verhältnis zur Wirklichkeit stets neu zu justieren. Und diese philosophische Relativität besitzt eine Ähnlichkeit zu dem, was in der Theologie das Gegenüber zwischen Schon-jetzt und Noch-nicht oder zwischen letzter und vorletzter Welt genannt wurde. Die katholische Kirche erscheint demgegenüber als absolutistische Weltanschauung. Sie ist in einem Gefängnis ewiger Wahrheiten eingekerkert. Der Relativismus dagegen scheitert durch seine zum Prinzip erhobene Gleichgültigkeit.

11.

Wie in den vergangenen Abschnitten hoffentlich deutlich wurde, versucht sich der Autor an einem anthropologisch-biographischen Rundumschlag, der von der Psychologie bis zu Religion und Theologie reicht. Der Stoff hätte das Zeug zu einem wirklich großen Roman gehabt. Was Albinati dann vorgelegt hat, wirkt letztendlich doch - monströs. Tausend Seiten lang fand ich die Lektüre spannend, danach erlahmte meine Auf­merksamkeit. Was als Roman anfängt, verwandelt sich in eine alltagsphilosophische Abhandlung, und an manchen Stellen wird diese Abhandlung zum Pamphlet. Im Gegensatz zu seiner Landsfrau Elena Ferrante, die sich auf das Erzählen beschränkt und ganz bewusst die Reflexion darüber dem Leser überlässt, hält es Albinati im narrativen Kontext nicht aus. Er erweitert die Erzählung um viele kleine Systeme von Argumenten, die alle miteinander verwoben sind. Am Ende taucht er – darin dem Norweger Karl Ove Knausgard nicht unähnlich – ins Persönliche und Authentische ein.

Je länger der Roman sich hinzieht, desto mehr fragen sich die Leser, wieso er das alles erzählt. Albinati selbst nimmt diesen Überdruss des Lesers auf: „Ich weiß, daß mein Reden darüber (über das Verbrechen von Circeo wv) repetitiv und besessen erscheinen mag, aber ich stellte mir vor, daß dieselbe Obsession und krankhafte Neugier im Kopf desjenigen pulsiert, der diese Seiten liest.“ (865) Das ist schön über Bande gespielt, reicht aber als Legitimation für die Länge nicht aus. Der Autor sucht die Gleichgesinnten unter seinen Lesern, diejenigen, die so fühlen, denken und wahrnehmen wie er.

Albinati erzählt, was ihm einfällt, er setzt sich als Schriftsteller keine Grenzen, und mit dieser Grenzenlosigkeit überanstrengt er die ermüdenden Leser. In den ersten drei Vierteln des Buches war aus den philosophischen Erläuterungen außerordentlich viel mitzunehmen. Dabei erzählte Albinati neben der Hauptgeschichte des Verbrechens auch bewegende Nebenepisoden. Die Partien über den Nerd Arbus und den Priester/Lehrer Cosmo habe ich bereits erwähnt.

Dieses doch sehr bemühte Streben nach Authentizität am Ende des Romans ist noch einige Bemerkungen wert. Albinati kokettiert mit seiner eigenen Schreibweise: „Dieses Buch ist so schnell geschrieben, daß nicht einmal Gott mit dem Diktat mithalten könnte. Ich übertreibe? Ein bißchen vielleicht, aber es schreibt sich leichter, wenn man die Wahrheit schreibt.“ (951) Albinati widerlegt sich auch selbst, wenn am Textes zwei Jahreszahlen gedruckt stehen, die nahelegen, dass er seit 1975 vierzig Jahre lang an diesem Buch gearbeitet hat. Dieser Echtheitskult tut dem Buch nicht gut; diese Art von Anbiederung beim Leser wirkt übergriffig. Es ist zum Beispiel nicht ersichtlich, welchem Zweck die Passagen dienen sollen, in denen sich der Autor mit seinem Schlafmittelgebrauch beschäftigt (1135f.) So etwas schafft zwar ‚Authentizität‘ und ‚Lebensnähe‘, aber es bringt weder die Erzählung noch die Reflexion weiter.

12.

Es wäre die Lektüre dieses zu lang geratenen Romans nicht wert, wenn die Reflexionen Albinatis auf Italien, das römische Bürgertum und die katholische Kirche beschränkt wären. Soweit ich sehe, ist das Verhältnis von Sexualität, Protestantismus und Bürgertum noch keinem deutschsprachigen Schriftsteller ein paar Seiten wert gewesen. Andererseits zeigen die Debatte über die sexuellen Missbrauch in der evangelischen Kirche, die erregte Diskussion über die Orientierungshilfe der EKD vor einigen Jahren sowie die zum theologischen Entwurf heruntergestufte Denkschrift über Fragen der Sexualethik, dass der Themenkreis, den Albinati reflektierend und erzählend durchforstet, auch in der Bundesrepublik problematische Konstellationen bereithält, über die zu diskutieren, zu erzählen und zu reflektieren wäre. Es ist wie immer beim Vergleich zwischen evangelischer und katholischer Kirche. Die Dinge liegen jeweils ganz anders und sind doch sehr ähnlich. Die literarische Bearbeitung hätte gegenüber Orientierungshilfen und sozialethischen Entwürfen den Vorteil, sich aus der ewigen Wiederholung des stets gleichen Wertekanons befreien zu können, von der solche amtskirchlichen Stellungnahmen oft geprägt sind.

Mit ein wenig Übertragungsarbeit ist dazu auch beim katholischen Italiener Albinati eine ganze Menge zum (theologisch-protestantischen) Nachdenken dabei. Darin liegt, bei allen erwähnten Schwächen, der große philosophische und narrative Wert des Buches. Trotzdem bleibt das Desiderat: Nötig wäre ein Roman über das Verhältnis von Protestantismus und Sexualität, Familie und Bürgertum, bei dem die evangelischen Buchhändlerinnen erröten und die Oberkirchenräte erschrecken.

Anmerkungen

[1]    Spoileralarm: Es lässt sich für die Rezension nicht vermeiden, einige Elemente der Kriminalgeschichte anzusprechen und zu deuten. Wer also vorhat, den Roman selbst zu lesen und sich die Spannung erhalten möchte, lese die Rezension bitte erst nach der Lektüre.

[2]    Wer sich an der Länge dieser Rezension stört, dem sei gesagt, dass ich es für einen Ausdruck des großen Respekts vor Albinatis Leistung halte, die Fragen und Probleme, die er erzählend und reflektierend aufwirft, ernsthaft zu erwägen.

[3]    Alle Seitenangaben im Text beziehen sich auf dieses Werk.

[4]    Kirchenamt der EKD (Hg.), Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gütersloh 2013, www.ekd.de/down­load/20130617_familie_als_verlaessliche_gemeinschaft.pdf.

[5]    Und dazu passt, was weiter oben über Bürgertum und Bürgerlichkeit gesagt wurde (s.o. Abschnitt 5).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/118/wv051.htm
© Wolfgang Vögele, 2019