Der missbrauchte Gott

Zur politischen Bilder-Theologie der Reaktion

Andreas Mertin

Gestörte Zeichenkunde

Die Asche war noch nicht kalt auf dem Boden der Kathedrale Notre-Dame de Paris, da haute die erzkonservative Gabriele Kuby einen Gastkommentar für das reaktionäre Portal kath.net in die Tasten, der eine ziemliche Verkommenheit des intellektuellen Denkens offenbarte. Danach reichte es Gott mit der Verweltlichung der Welt, den synodalen Bestrebungen des Münchener Kardinals Reinhard Marx und den bloß kulturellen Annäherungen der normalen Menschen an die heiligen Schätze der Kirche, so dass er beschloss, eine der weltweit bedeutend­sten Kirchen, in der Jahr für Jahr 13 Millionen Menschen, Tag für Tag 30.000 Menschen sich versammeln, den Flammen zur Vernichtung auszuliefern. Symbolisch, einfach so als Zeichen für die böse Welt straft er die Katholiken, die Franzosen und den Rest der Welt. So ist er also, der zornige Gott in erzkatholischer Perspektive. Wenn ein Kardinal in München scheinbar einen falschen Weg einschlägt, dann vernichtet Gott zur Strafe eine Kirche in Paris. Wie infantil kann man nur denken? Das ist ebenso naiv wie böse.

Für Gabriele Kuby ist aber nicht ein solches Denken, vielmehr sind alle anderen böse. Wir, die wir in der Kathedrale Notre Dame de Paris nicht zuletzt ein herausragendes Werk gotischer Architekturkunst sehen und nicht nur einen Zelebrationsort katholischer Gottesdienste. Wir, die wir auch und vor allem aus touristischen Motiven Paris aufsuchen. Wir, die wir die Verweltlichung nicht als Abfall von Gott, sondern als eine mögliche humanistische Entwicklung der Menschheit begreifen. Wir, die wir den Christus des Neuen Testaments nicht als Götzen deuten, der Menschen für ihr Verhalten mit Feuersbrünsten oder Erdbeben straft. Wir Andersdenkenden eben.

72 Stunden bevor die Kathedrale in Flammen geriet, war ich noch in Paris, besuchte sie mit einer Gruppe von katholischen und evangelischen Religionslehrern, einige besuchten am Abend ein Konzert in der Kirche. Das war Teil einer von mir durchgeführten Reihe von Studienreisen, die sich dem Christentum im Spiegel der Kunst widmeten. Wir begannen mit den humanistischen Impulsen in der christlichen Kunst im Florenz des beginnenden 14. Jahrhunderts, also mit Giotto, Masaccio, Donatello und Brunelleschi. Wir setzten die Reise fort in Brügge, Gent und Brüssel mit den Werken Jan van Eycks, Hans Memlings und Rogier van der Weydens. Wir fuhren nach Toledo, Madrid und El Escorial zu den Werken von El Greco, Velazquez und Goya. Wir besuchten in Wien den Stephansdom und die Sammlungen der Habsburger und unsere Reisen endeten mit dem Aufbruch zur Moderne in Paris mit seiner unendlichen kulturellen Vielfalt und Lebensart.

Und alle diese kulturellen Errungenschaften sind nur ein Spielball der Launen eines unbeherrschten Gottes, den einige Handlungen seines Personals ärgern? Das ist Lichtjahre von dem Gott entfernt, den Juden, Christen und Muslime verkündigen. Es harmoniert vielleicht mit der Mythologie griechischer anthropomorpher Götter, aber nicht mit dem Denken und Glauben der abrahamitischen Religionen. Nur Fundamentalisten und Terroristen glauben so etwas heute noch.

Zutiefst archaisch-magisch ist ein Denken, dass aus kontingenten Geschichts- und Natur-Ereignissen ein bewusstes Straf-Handeln Gottes ableitet [Blitz auf den Petersdom = Zorn Gottes]. Und nein, Notre-Dame de Paris ist nicht das Herz des Christentums – nicht einmal annähernd. Da seien König Salomo und der Apostel Paulus vor, die noch wussten, dass Gott nicht in steinernen Mauern wohnt. In der Not, das sollte selbst Kuby wissen, wenden wir uns überall an Gott, er bedarf keiner Kirchen für die Andacht und für das Gebet, er ist kein Tempelgott, der außerhalb seiner Räume ohnmächtig wird. Die Trennung von Sakral und Profan ist in Jesus Christus aufgehoben.

Und Gott bekehrt die Menschen ganz sicher nicht durch die Zerstörung der ihm einst gewidmeten Kirchen. Das könnte man für ein Relikt mittelalterlichen, kirchen- und bilderstürmerischen Denkens halten, aber nicht einmal die Ketzerbewegungen hätten ein solches Gottesbild verbreitet. Heute entspricht es eher dem apokalyptischen Denken von IS-Terroristen, die meinen, im Auftrage Gottes religiöse Gebäude vernichten zu müssen.

War es eben noch Gott selbst, der es zuließ, dass Flammen ein christliches Gebäude zerstörten, sind es wenige Sätze später „die Mächtigen“, die alles tun, um die „christliche Kultur“ zu zerstören. Komisch, dass ausgerechnet diese Mächtigen 700 Millionen Euro für den Wiederaufbau der Kathedrale zur Verfügung stellen, die sie doch gerade noch als Ausdruck christlicher Kultur – wie und wozu eigentlich? – zerstört hatten. Oder war es schon wieder Soros, der die Kultur gefährdete? Der wird ja sonst immer verdächtigt. Oder die Freimaurer, die in den Kommentaren auf kath.net sofort eine Rolle spielen.

Dann schreibt Kuby, der eigentliche Wiederaufbau der Kirche geschehe nicht durch Spenden, sondern durch Bekehrung – was immer das heißen soll. Es ist einfach infantiler Unsinn. Weder wurden die gotischen Kirchen durch Bekehrung erbaut, noch wird auch nur ein einziger Stein durch ein „Leben im Wort Gottes“ seinen Weg nach Paris finden. Hier gilt wirklich der internationalistische Satz: Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!

Und dann kommt die paradoxe Volte zu Kardinal Marx, von der man nicht weiß, was der überhaupt mit den Pariser Geschehnissen zu tun haben soll. Kuby möchte offenkundig keine Anpassung an eine von ihr als moralisch korrumpiert empfundene Welt – als wenn nicht die Kirche Notre Dame de Paris selbst ein vollendeter Ausdruck der Verweltlichung wäre. Die Kirche ist natürlich im Besitz des französischen Staates, Ergebnis der von den Revolutionären erkämpften Laïcité: „Vor 1905 errichtete Kirchen oder Synagogen sind noch immer in staatlichem Besitz, wobei jene Teile, die ‚dem Kult dienen‘, den einzelnen Glaubensgemeinschaften zur Nutzung überlassen werden können.“ Wie nun ausgerechnet der Verzicht auf demokratische synodale Strukturen dem Wiederaufbau einer Kirche dienen soll, die in der öffentlichen Wahrnehmung Frankreichs vorrangig der gesellschaftlichen und heute damit demokratischen Identitätsbildung dient, bleibt schleierhaft. Notre Dame wird nicht als katholischer Tempel wiederaufgebaut, sondern als Symbol einer demokratischen Nation. Und genau dafür verdient Frankreich weltweite Unterstützung. Die katholische Kirche selbst wird kaum einen Beitrag zum Wiederaufbau beisteuern können – das kann nur der Staat im Verbund mit seinen Bürgern.

Natürlich kann man, wie das auch andere Autoren auf kath.net tun, das Feuer ganz persönlich für sich selbst in religiöser Perspektive deuten. Aber man sollte bedenken, was man da macht, denn die religiösen Implikationen einer derartigen Deutung sind schrecklich. Man kann sagen, das Feuer von Notre Dame ist ein Sinnbild für den aktuellen Zustand der katholischen Kirche – aber auch das ist nur begrenzt sinnvoll. Was man nicht sagen sollte, ist, dass Gott dieses Zeichen veranlasst hat. Das wäre barbarisch.

Geistig beschränkt ist es, wenn man schreibt, Gott habe den Brand einer französischen Kathedrale veranlasst, weil es einen deutschen Missbrauchs-Skandal durch katholische Priester gegeben hat. Da würde ich dann doch dringend den Gang zum Psychiater empfehlen. Vor allem dann, wenn man innerhalb von nur drei knappen Sätzen den Brand in Paris sowohl als Zeichen Gottes wie als Werk des Satans und der Hölle erkennt. Da muss man sich schon entscheiden. Aber sinnvoll ist keine der beiden Deutungen. Es ist einfach nur dumm.


Lesermeinungen

Natürlich müssen auch die Kommentatoren unter den kath.net-Artikeln ihren Senf zum schrecklichen Geschehen in Paris beitragen. Sie erzählen eine tragische Geschichte fortdauernder Zerstörungswut durch Nicht-Katholiken.

Von einem kleinen Wunder berichtet ein Kommentator mit dem Pseudonym wedlerg. Er erzählt, die Hugenotten hätten schon 1542 die Kathedrale mutwillig zerstört. Das erscheint mir in doppelter Hinsicht als ein Wunder: erstens kennen die Annalen der Kirche für das Jahr 1542 keine Zerstörung der und keinen Vandalismus in der Kathedrale, zweitens gibt es die herabsetzende Bezeichnung „Hugenotten“ für die französischen Protestanten erst seit 1560 – wie können diese dann 1542 die Kathedrale oder auch nur Teile von ihr mutwillig zerstört haben? Bekannt sind Madonnenbemalungen und Flugblattaktionen einiger damals noch lutherischer Protestanten im Rahmen der Affaire des Placards im Jahr 1534, das war aber eine vereinzelte Aktion und schon gar nicht koordiniertes protestantisches Vorgehen, ganz im Gegenteil. Eine protestantische Gemeinde gibt es in Frankreich erst Jahre später, die erste wird 1546 in Meaux gegründet, die erste protestantische Taufe in Paris wird 1555 vollzogen. Die so genannten Hugenottenkriege sind viel später und bewegen sich in anderen Regionen Frankreichs. Was treibt einen dann, die „Hugenotten“ mit der Zerstörung der Pariser Kirche in Verbindung zu bringen? Weil alles Böse von den Protestanten kommt? Da muss man schon Anhänger des Schismatikers Lefebvre sein, um das zu vertreten.

Höchst amüsant ist die Bemerkung mit den „primitiven“ Stuhlreihen. Sie setzt voraus, dass vorrevolutionär feudale Bankreihen in Notre Dame zu finden gewesen wären. Auf den historischen Bildern habe ich dafür keinen Beleg gefunden. Auf dem einzigen mir bekannten vorrevolutionären Gemälde vom Inneren der Kirche, ein Gemälde von J.F. Depelchin von 1789 (heute im Pariser Musée Carnavalet), ist Notre Dame ohne jegliche Sitzgelegenheiten. Und bis auf die aufgehängten großformatigen Bilder wirkt die Kirche durchaus spartanisch – etwa im Vergleich zur Antwerpener Kathedrale. Und bevor jemand auf falsche Gedanken kommt: der revolutionäre Bilder-Sturm von Notre Dame fand erst 1793 statt.


Deus non vult!

Themenwechsel, aber gleiches Motiv. Auch andere Akteure des rechten Lagers wissen nur zu genau, was Gott so macht und wie er sich äußert. Sie setzen dabei weniger auf brennende Kathedralen als vielmehr auf den eigenen Erfolg und ihre verderblichen politischen Ziele. Die sind natürlich von Gottes Gnaden.

Nun ist das Argument mit dem Willen Gottes, der den Erfolg der AfD im Osten will, in biblischer Perspektive ein zweischneidiges Argument. Denn manchmal sorgt Gott auch für den Erfolg der Feinde Israels, um diese dann umso tiefer stürzen zu können. Aber das meint die AfD sicher nicht. Was die AfD meint, ist freilich an Bösartigkeit kaum zu überbieten.

Denn den Satz „Gott will es!“ kann in Europa nicht naiv verwendet werden. Er entstammt dem Kontext des Aufrufs zum Ersten Kreuz­zug und seiner Gewaltorgien. Und er besagt Folgendes:

Der Ausdruck gibt Zeugnis für ein religiöses Sendungsbewusstsein, das zur Erreichung seiner Ziele auch Gewalt einzusetzen bereit war. Diese wurde entsprechend dem Modell des gerechten Krieges als auf Verteidigung bzw. Rückeroberung widerrechtlich angeeigneter Gebiete ausgerichtete militärische Gewalt für sittlich vertretbar, ja sogar für gottgewollt gehalten. [Wikipedia, Art. Deus lo vult]

Das ist es, worauf die AfD anspielt – und nicht auf irgendwelche Wahlerfolge. Sie spielt in frevelhafter Weise mit jenen Argumentationsfiguren, die schon Anders Breivik und Brenton Tarrant motivierten, ihre politischen Ziele unter Berufung auf Karl Martell und das „Deus lo vult“ der ersten Kreuzfahrer zu rechtfertigen.

Es gibt keinen guten oder unschuldigen Bezug auf das „Gott will es“ oder das „Gott zeigt uns damit …“. Immer werden der eigene Wille und das eigene Wünschen als der Wille Gottes ausgegeben. Und das hat für alle anderen Menschen fatale Folgen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/119/am665.htm
© Andreas Mertin, 2019