Lesendes Eingedenken

Notizen zum Hieronymus im Gehäuse

Andreas Mertin

Ein Bild und seine Bedeutung

Marinus van Reymerswaele, Hl. Hieronymus im Gehäuse, um 1540, 80x108 cm, KHM Wien

Wer heute – wo auch immer – eine Kerze auf den Tisch stellt und anzündet, stößt auf andere Reaktionen, als dies 200 oder sagen wir auch 500 Jahre früher der Fall gewesen wäre. Als es noch keinen Strom aus der Steckdose gab und die Beleuchtung im Wesentlichen durch Kerzen oder Öllampen geschah, hatten Kerzen eine andere Bedeutung als im 20. und 21. Jahrhundert.[1] Heute denken wir bei Kerzen an Gemütlichkeit, an Weihnachtsfeiern, an Meditation und Stimmung. Wenn das Licht flackert, bekommt keiner einen Schrecken, denn der Griff zum nächsten Lichtschalter ist immer möglich. Und wenn die Kerze zwischendurch einmal ausgeht, dann verbinden wir damit keine tiefer gehende Bedeutung, sondern greifen zum Streichholz oder Feuerzeug und zünden sie einfach wieder an. Von dieser ganz selbstverständlichen Lebenserfahrung zehren auch unsere Wahrnehmungen von Kerzen auf frühneuzeitlichen Kunstwerken. Wir sehen sie dort vor allem als Lichtquellen, vielleicht sogar mit der Anmutung des Stimmungsvollen, aber selten als symbolische Verweise auf eine andere Wirklichkeit. Und wir denken kaum darüber nach, welche Bedeutung Kerzen für die Menschen in früheren Zeiten gehabt haben und dass sie deshalb eine ganz andere Wahrnehmung einer Kerze auf einem Bild gehabt haben könnten, ja, dass eine Kerze für frühere Zeiten ein Symbol darstellte.[2]

Die Reaktionen der Menschen wären vermutlich schon etwas anders, wenn wir neben die Kerze einen Totenschädel stellen würden, den Kopf eines verstorbenen Menschen. Dieses „Objekt“ ist für unsere Alltagswahrnehmung ganz und gar ungewöhnlich geworden, wir stoßen allenfalls noch in Läden für Gothic-Kultur auf dann aber künstliche Schädel oder auf echte beim Besuch der Pariser Katakomben. Jedenfalls ist die Wahrnehmung eines realen Totenschädels sehr selten geworden. Noch schwerer vorstellbar ist es, sich einen derartigen Schädel dauerhaft auf den Schreibtisch zu stellen und die Arbeit mit dem ständigen Blick auf ein solches Objekt zu gestalten. Die Mehrzahl der heutigen Menschen würde das für verrückt oder spleenig erklären.

Und doch haben wir es bei den beiden gerade beschriebenen Objekten mit zwei der wichtigsten Symbole frühneuzeitlicher Vanitas-Darstellungen zu tun. Die Kerze erinnerte die Menschen in früheren Zeiten beständig an die Vergänglichkeit aller Dinge und der Totenschädel machte ihnen deutlich, dass dieses Schicksal auch für sie selbst unausweichlich war. Kerze und Totenschädel waren also Symbole für die Notwendigkeit, über den Sinn des Lebens nachzudenken.

Als drittes Symbol im Bunde fehlt eigentlich nur noch das Stundenglas bzw. die Sanduhr, die unmittelbar vor Augen führt, „dass der Mensch seine wie Sand verrinnende Zeit sinnvoll nutzen soll“. Man hat ein begrenztes Zeitkontingent, das gnadenlos zu Ende geht.

Auf dem eingangs abgebildeten Kunstwerk des flämischen Malers Marinus van Reymerswaele können wir die ersten beiden Bilddetails wiederfinden. Marinus von Reymerswaele hat mehrere dieser Hieronymus-Bilder gefertigt, sie müssen zu seiner Zeit sehr populär gewesen sein. Über den Künstler selbst gibt es nur sehr begrenzte Informationen. Ob er wirklich hauptberuflich Maler war, wird in Frage gestellt, zu schmal und zeitlich begrenzt ist sein Oeuvre. Eindeutig einzuordnende Werke vor 1533 und nach 1545 sind von ihm nicht bekannt. Adri Mackor hat seine Biographie so rekonstruiert: Vermutlich ist Marinus van Reymerswaele um 1490 geboren. Zunächst war Marinus an der Universität Löwen als Student eingeschrieben und wurde dort vermutlich als Anwalt ausgebildet. Ob ihm das nicht reichte, ist unklar. Vielleicht malte er auch in dieser Zeit, aber ohne seine Bilder zu signieren. Um 1509 ist ein Mann seines Namens in Antwerpen in den Akten der Lukasgilde verzeichnet. In dieser Zeit muss er von dem Maler Quentin Massys tief beeinflusst worden sein, wenn er nicht sogar in dessen Werkstatt gearbeitet hat. Zwischen 1530 und 1540 lebte und arbeitete er in Reymerswaele (heute Provinz Zeeland) und hatte dort vielleicht sogar eine Malwerkstatt. Dies ist die Zeit seiner künstlerischen Aktivität. 1540 zieht er nach Goes. Nach 1545 endet seine Zeit als Maler. Vermutlich ist er dort nach 1546 gestorben.[3]

Von den weltweit bekannten Varianten des Gemäldes sind nicht alle unzweifelhaft Marinus zuzuweisen. Es gibt aber Indizien, die eine Urheberschaft plausibler oder unplausibler machen, etwa wie präzise der biblische Text auf der abgebildeten Bibel gemalt ist. Das im Folgenden vorgestellte Bild aus dem kunsthistorischen Museum Wien bedarf noch weiterer Studien, wird im Augenblick aber Marinus als Urheber zugewiesen.

Das Bild zeigt den Kirchenvater, Heiligen, Gelehrten und Theologen Hieronymus, hier im Typus des Hieronymus im Gehäuse. Hieronymus lebte von 347 bis 420 und ist vor allem für die Übersetzung der Bibel berühmt. Um seine Person ranken sich einige Legenden, z.B. dass er einem Löwen einen Dorn aus der Pfote zog, weshalb dieser ihm als treuer Gefährte folgte. Auf vielen Bildern findet man deshalb auch einen Löwen zu seinen Füssen sitzend. Im vorliegenden Bild können wir Hieronymus an seinem roten Kardinalshut erkennen (obwohl er in Wirklichkeit nie Kardinal war, sondern nur in den Diensten des Papstes stand) und an den zahlreichen Schriften und Bibelübersetzungen, die um ihn herum drapiert sind. Als symbolisch sind neben der Kerze und dem Totenschädel vor Hieronymus auch das einfache Kruzifix, die illustrierte Prachtbibel und die Brille auf dem Schreibtisch aufzufassen. Wir können an der Figur des Hieronymus erkennen, dass er zwar einerseits tief melancholisch in der Meditation versunken ist, zugleich aber auch mit dem Zeigefinger seiner linken Hand den Betrachter auf den Totenschädel vor ihm verweist.

Und die abgebildete Prachtbibel ist nicht nur einfach auf den Tisch gestellt, sondern sie zeigt uns bewusst eine Illustration des Jüngsten Gerichts. Wenn wir die Darstellung auf dem Blatt der Bibel genauer betrachten, dann können wir zunächst Christus als Weltenrichter erkennen. Flankiert wird er von Maria auf der linken und Johannes auf der rechten Seite, beide etwas unterhalb von ihm platziert. Der Begriff für diese Konstellation lautet „Deësis“ und symbolisiert für den Betrachter die Hoffnung, nicht allein vor dem Weltenrichter stehen zu müssen, sondern in Maria und Johannes wirkmächtige Fürsprecher zu erhalten. Unterhalb der Deësis können wir das Szenario des jüngsten Tages erkennen. Auf der linken Seite des Geschehens sehen wir einen Engel, der die Geretteten dem Paradies zuführt, während wir auf der rechten Seite einen dunklen Teufel sehen, der die Verdammten in einen weit geöffneten Höllenschlund treibt.

Unverkennbar gibt Reymerswaele hier ein Jüngstes Gericht von Albrecht Dürer wieder, der die Künstler seiner Zeit stark beeinflusste – auch mit seinen Darstellungen des Hl. Hieronymus in der Studierstube.

Alles zusammengenommen haben wir hier ein Bild vor uns, das den Betrachter an die Endlichkeit seines Lebens erinnert und anhand dessen er genau darüber nachsinnen kann und soll. Wie verhält sich die Endlichkeit des Lebens zu seinen Hoffnungen, seinen Taten und seinem Glauben? Die Botschaft ist dabei klar: So wie eine Kerze jederzeit verlöschen kann, so kann auch das Leben jederzeit enden und von der Pracht des jetzigen Lebens bleibt nur noch der kahle Totenschädel übrig. Schon während unseres Lebens werden wir durch die nachlassenden körperlichen Fähigkeiten (Brille) immer wieder auf die Begrenztheit unseres Lebens hingewiesen. Hoffnung besteht für den Gläubigen in der Meditation der Schrift und im Bedenken der Heilstat Jesu Christi (Kruzifix) und im Vertrauen auf seine gnädige Richterschaft, angesichts derer der Einzelne aber von Maria und Johannes tatkräftig unterstützt wird.

Noch etwas wird in diesem Bild deutlich und das ist die Anpassung des historischen Geschehens an die Gegenwart. Als Hieronymus lebte, gab es weder Kerzen in der vorliegenden Form, noch Brillen im abgebildeten Stil, noch Kruzifixe mit Korpus zur Privatmeditation, noch Prachtbibeln mit Illustrationen. All dies stammt aus viel späteren Zeiten und dient der Vergegenwärtigung des Geschehens durch den Betrachter.

Und noch etwas ist deutlich: in der Anlage des Bildes ist kein protestantischer Aspekt zu erkennen. Man hat Marinus van Reymerswaele für einen Calvinisten gehalten, weil ein Bürger gleichen Namens 1566 in Middelburg wegen „Bilderbrechens“ verurteilt wurde. Hier muss es sich aber um einen Namensvetter handeln, da der Maler Marinus von Reymerswaele zu dieser Zeit schon verstorben war. Er ist wohl zeitlebens katholisch geblieben.


Hieronymus im Bild: Motiventwicklung

Man kann sich nun fragen, wie sich dieses so inspirierende Motiv eines Kirchenvaters als Übersetzer und bücherlesenden Humanisten kunstgeschichtlich entwickelt hat. Zwar findet man in der frühen Kunstgeschichte Porträtdarstellungen des Hieronymus, oft mit seinem legendären Löwen als Symbol, zunächst aber noch nicht das Motiv des Hieronymus in der Bücherstube bzw. im Gehäuse. Dieses tritt erst im 14. Jahrhundert auf.

Eine frühe Form findet man Mitte des 14. Jahrhunderts bei Tommaso di Modena, der auf einer Säule der Dominikanerkirche S. Nicolò in Treviso den Kirchenvater in seiner Schreibstube darstellt. Wir sehen ihn mit dem Kardinalshut auf einem Sofa sitzen, von zahlreichen Büchern umgeben. Er blickt den Betrachter direkt an und verweist mit der linken Hand auf eine vor ihm auf einem Pult liegende Schrift. Die Ausbildung des Werkes ist so, dass der Künstler vermutlich schon auf Vorlagen zurückgegriffen hat. Erkennbar bezieht er sich aber vor allem weiterhin auf die Porträtdarstellungen der Kirchenväter. Hieronymus ist ein in der Schrift belesener und die Schrift übertragender Mann. Weitergehende symbolische Codierungen finden sich an dieser Stelle noch nicht.

Noch nicht sehr viel weiterentwickelt ist eine kleine Holztafel von 18x32 cm aus der Hand des Mönches und Malers Monaco Lorenzo (1370-1425), die sich heute im Rijksmuseum in Amsterdam befindet. Der Kirchenvater hat einen Schreibstift in der rechten Hand und ist von einigen Büchern umgeben. Zu seinen Füßen sitzt der Löwe, der seine linke Tatze dem Kirchenvater entgegenstreckt. Datiert wird das Werk auf das Jahr 1420 und vermutlich gehörte zu ihm noch ein Gegenstück mit Maria. Es gehört damit zu dem von der Gotik beeinflussten Spätwerk des Künstlers. Die Größe des Bildes macht es zu einem Meditationsobjekt für die private Frömmigkeit. Außer der Darstellung des Löwen finden wir auch hier keine weiteren symbolischen Anspielungen, der Fokus liegt noch auf der innigen Verbindung des Menschen mit dem wilden Tier.

Das erste wirklich entwickelte und nahezu alle Elemente umfassende Bild stammt von Jan van Eyck aus der Zeit zwischen 1435 und 1442 und wurde vermutlich (da van Eyck bereits 1441 starb) von seiner Werkstatt fertiggestellt.

Es ist nur 20x12,5 cm groß und damit ebenfalls ein Andachtsobjekt für den Auftraggeber. Heute befindet sich das Bild im Detroit Institute of Art. Man vermutet, dass der Kirchenvater hier Gesichtszüge des Kardinals Niccolò Albergati trägt, von dem van Eyck auch ein Porträt angefertigt hat.

Das Bild ist symbolisch hoch komplex aufgebaut. Wir sehen als vertraute Elemente den Kirchenvater beim Studium der Heiligen Schrift, er trägt den Kardinalshut und zu seinen Füßen liegt der zahme Löwe.

Aber es sind weitere Elemente dazugekommen, das Stundenglas zum Beispiel. Das Interessanteste ist aber ein Gefäß neben einem Rosenkranz und einer Glasphiole am rechten Bildrand, Gegenstände die man vielleicht in einer Gelehrtenstube nicht erwarten würde.

Tyriaca [theriak] steht auf dem Gefäß und bezeichnet damit ein mittelalterliches Gegengift (Antidot), das gegen tierische Gifte, insbesondere Schlangengift Anwendung fand. Im Mittelalter nannte man dieses Gegengift „Himmelsarznei“. Auch dieser Verweis ist hier symbolisch gemeint, denn das Gift der Schlange ist natürlich das des Satans und die von Hieronymus gerade übersetzte Bibel mit der Botschaft Jesu Christi das passende Gegengift. Die sachliche Verbindung zu Hieronymus ist schnell gefunden: im Psalmen-Kommentar schreibt dieser: „Quod ad tuam misericordiam confugio, ut gravibus vulneribus tyriacam remissionis infundas“ – also, dass die Sünde des Menschen durch die Eingießung des Gegengifts (tyriaca) geheilt wird. Gemeint ist damit die Gnade Gottes. Der Künstler bzw. sein Auftraggeber waren also präzise Kenner des Werkes von Hieronymus.

Auf dem Aufbewahrungsgefäß für das Gegengift liegt ein Granatapfel, der in der christlichen Ikonographie u.a. als Symbol für Leben, Blut und Tod aufgefasst wird und hier das zu gewinnende Leben in Christus symbolisiert.


Hieronymus bei Antonello da Messina

Ins Jahr 1474 datiert das nächste Bild, das insofern einen Wendepunkt darstellt, als dass hier erstmals in der italienischen Malerei die Ölmalerei von den niederländischen Vorbildern übernommen wurde, wodurch das Thema viel differenzierter dargestellt werden konnte als bisher.

Es ist eine überaus ‚theatrale‘ Inszenierung, die Antonello da Messina auf dem nur 46x36 cm großen Bild vollzieht, das heute in der Londoner National Gallery hängt. Man muss sich die Maße immer wieder vergegenwärtigen, da es ihm gelingt, auf kleinsten Darstellungsraum einen fast kirchraumgroßen, ja die gesamte Gesellschaft umfassenden Wahrnehmungsraum zu eröffnen, weil er uns zugleich einen Blick auf die Welt außerhalb der Studierstube ermöglicht (und nahelegt).

Antonello da Messinas Verschachtelung der Bildräume beginnt damit, dass er uns zunächst einen Schritt zurücktreten lässt und eine Kirchenmauer zwischen die Bibliothek des Hieronymus und den Betrachter schiebt. Man muss diese kleine Privatbibliothek sozusagen mit den Augen bewusst betreten, darf keine Schwellenangst zeigen und soll sich lernbegierig zeigen. Dagegen rückt der Künstler den mythischen Löwen in das Dunkel bzw. den Schatten am rechten Rand der Schreibstube und entzieht ihn so fast vollständig der Aufmerksamkeit des Betrachters. Dessen ursprünglicher Mythos (die Zähmung der Natur durch Kultur) ist sekundär geworden. Dafür platziert er prominent an der Schwelle unserer Wahrnehmung des Geschehens den Pfau, der im Mittelalter eine andere Rolle hatte als heute, wo ihm fast exklusiv das Etikett „eitel“ angeheftet wird. Damals war er aber nicht ein Sinnbild der Eitelkeit, sondern der christlichen Wahrheitssuche.

Der Pfau ist der hübscheste unter allen Vögeln des Himmels. Dieser Pfau ist von bunter Farbe und hat schöne Flügel. Er geht umher, sieht sich selbst mit Freude an und schüttelt sein Gefieder, spreizt sich und blickt hochmütig um sich. Wenn er aber auf seine Füße sieht, wird er ärgerlich aufkreischen, denn es entsprechen seine Füße nicht seinem sonstigen Aussehen.

So auch du, Christenmensch, wenn du deine Aufgaben siehst und das Gute, das du hast, freue dich von Herzen und jauchze in deiner Seele. Wenn du aber deine Füße siehst, das sind deine Fehler, rufe klagend zu Gott und hasse die Ungerechtigkeit wie der Pfau seine Füße, damit du vor dem Bräutigam gerecht erscheinst. Schön spricht der Physiologus über den Pfau.

Freue Dich über das Schöne und korrigiere die Fehler – das ist die Botschaft des Pfaus und könnte auch über der Arbeit des Hieronymus stehen. Zugleich konterkariert Antonello da Messina die dem Thema oft innewohnende ‚Entweltlichung‘ (der Asket, der sich von der Welt zurückzieht), indem er uns neben und über dem zentralen Geschehen Fenster in die Welt außerhalb des Gehäuses öffnet. Und dort zeigt sich das blühende Leben mit Reitern, Anglern und Ruderern – jenseits des scheinbaren Elfenbeinturms akademischer Bibelexegese. Aber diese Exegese geschieht natürlich auf diese Welt hin. Das Eingedenken der biblischen Texte vollzieht sich nicht losgelöst von der Welt, es ist kein Selbstzweck, kein l’art pour l’art, sondern bleibt auf die Welt bezogen. Wir übertreten eine Schwelle, wenn wir uns in die Welt des lesenden Eingedenkens begeben, wenn wir uns in die Studierstuben zurückziehen, aber wir verlassen die Welt nicht.

Die auf dem Bild zu sehende „Bibliothek“ bzw. Studierstube des Hieronymus wirkt nun geradezu wie eine höchst künstlich in den restlichen Kirchen-Raum hineingeschobene Theaterbühne, wie ein explizit für den Reflexionsprozess des Hieronymus konstruiertes Möbelstück. Das hat zeitgenössische Künstler veranlasst, dieses Möbelstück zu re-konstruieren, quasi als moderne funktionale Bauhaus-Architektur.[4] Für die intensive Lektüre bedarf es eines angemessenen Kontextes, Bücher, die zur Hand sind, aber eben auch angepasste Sitz- und Lese-Möbel. „Hüte dich, mein Sohn, vor andern mehr; denn viel Büchermachens ist kein Ende, und viel studieren macht den Leib müde.“

In der Folgezeit gibt es mehrere Bilder, die den Hl. Hieronymus neben all den anderen Attributen auch mit einem auffällig drapierten Totenschädel zeigen, allerdings nicht in seiner Studierstube, sondern in der Einöde. Aber es war nur eine Frage der Zeit bis auch der Totenschädel prominent auf den Studierstubenbildern erscheinen würde. In geradezu perfekter Weise geschieht dies erst bei Albrecht Dürer. Aber dazwischen steht noch ein Bild.


Intermezzo: Vittore Carpaccio

Vittore Carpaccios Darstellung eines Gelehrten in seiner Stube aus dem Jahr 1502 ist insofern ein notwendiger Zwischenschritt, weil sie das Bild des Antonello da Messina mit dem späteren des Albrecht Dürer verbindet. Zunächst aber muss man sich fragen, was das Bild überhaupt darstellt. In der Folge der bisher vorgestellten Werke könnte man ja glauben, dass es sich um eine weitere Darstellung des Hieronymus im Gehäuse handelt. Das hat man zumindest bis 1959 auch gedacht. Zu ähnlich ist der Bildtypus. Gut, der Löwe ist hier eher ein kleiner deutscher Schoßhund und der Gelehrte scheint sich auch weniger auf die Lektüre und die Textarbeit zu konzentrieren, aber sonst stimmt das Setting. Heute geht man aber davon aus, dass es sich hier um den Kirchenvater Augustinus handelt, der gerade im Begriff war, einen Brief an Hieronymus zu schreiben, als er eine Vision desselben hat:

The subject of the work was thought to be St Jerome in his study until Helen Roberts in 1959 pointed out that it depicted an episode from an apocryphal letter attributed to St Augustine. According to this Augustine had just sat in his study one evening to write a letter to Jerome concerning the bliss of souls in Paradise, when 'suddenly an indescribable light, not seen in our times ... entered the cell where I was'. This revealed to him that Jerome had just died in Bethlehem and was entering eternal bliss.[5]

Das erklärt die dramatische Schattenbildung im Werk. Augustinus ist hier als Humanist dargestellt. Aber der entscheidende Punkt ist, dass Augustinus hier seinen Erkenntnisgewinn von außen bekommt, während Hieronymus seinen Gewinn aus der Lektüre gewinnt.


Auftritt Albrecht Dürer

Albrecht Dürer hat Vittore Carpaccios Darstellung vermutlich gekannt, bevor er seine legendäre Darstellung des Hieronymus im Gehäuse 1514 entwickelt hat. Das macht er auch deutlich, indem er das Bild in die Kontroverse zwischen Augustinus und Hieronymus einordnet.

Konkret geht es um den Kürbis, der über Hieronymus an der Decke hängt (ihm metaphorisch Schatten spendet). Dieser Kürbis steht für einen exegetisch Streit zwischen Augustinus und Hieronymus. Konkret ging es um die korrekte Übersetzung jener Pflanze (קִיקָיוֹן), die im Buch Jona dem Propheten Schatten spendet. Die Septuaginta übersetzt mit Flaschenkürbis (κολόκυνθα).

Dagegen folgt Hieronymus einer anderen Tradition und übersetzt mit Efeu (κισσός,), was zum Protest des Augustinus führt, weshalb Hieronymus seine Übersetzung korrigieren muss.[6] Das blieb nicht der einzige Streitpunkt zwischen Hieronymus und Augustinus, da es nicht zuletzt darum ging, welcher Lesart der Heiligen Schrift man folgen sollte, ob man über die Septuaginta hinaus auf den hebräischen Text zurückgreifen dürfe.

Das Besondere an der Darstellung von Dürer ist aber weniger die Reminiszenz an Augustin, als vielmehr die perfekte Kombination all jener Elemente, die bis dahin das Sujet ausgezeichnet hatten.[7] Zunächst einmal finden wir all jene Details wieder, die uns schon vertraut sind: die verlöschte Kerze (auf dem Bord), der Rosenkranz, der Kardinalshut, das Stundenglas, die Bücher, der Totenschädel, das Kruzifix und natürlich der Löwe, hier ergänzt durch einen Hund. Neu hinzugekommen ist das Klemmbrett mit der Korrespondenz.

Dann aber ordnet Dürer die Elemente in einer sinnhaften Perspektive: so ergibt sich eine direkte Blicklinie von Hieronymus über das Kruzifix zum Totenschädel. Man könnte aber auch sagen: der Blick des Kirchenvaters auf den Totenschäden wird durch das Kreuz unterbrochen. Nach der Lektüre der Heiligen Schrift ergibt sich eine andere Lesart der Letzten Dinge. Während wir bei dem Bild von Marinus von Reymerswaele eine Koinzidenz von Bibel(illustration), Totenschädel und Kruzifix vorfinden, setzt Dürer sie in eine erhellende Reihenfolge, eine Perspektive. Hieronymus selbst wird hier nicht zuletzt zu einem humanistischen Sinnbild für den Leser / Übersetzer, der konsequent den Dingen auf den Grund gehen will, der die alten Texte und ihre Übersetzungen kritisch studiert, um Einsicht auch in die eigene Welt und das eigene Leben zu erhalten.


Hieronymus: Ein Vorbild lesenden Lernens

Bevor danach das Pendel wieder zur allegorischen Auslegung im Sinne des Vanitas-Motivs ausschlägt, soll noch einmal der lesende Intellektuelle Hieronymus hervorgehoben werden. John Willinsky ist in seinem nicht ganz zufällig „The Intellectual Properties of Learning. A Prehistory from Saint Jerome to John Locke”[8] betitelten Buch der Bedeutung des Hieronymus für die Lese- und Lernkultur der Neuzeit nachgegangen:

More than any other of those who were later designated fathers of the church, Jerome was a figure of scholarly labor-without-end, preparing translations, compiling and composing commentaries and prefaces, and offering guidance and learned reflection to his patrons through extended letters. Numerous Renaissance portraits depict Jerome as a solitary scholar-monk at his desk, surrounded by a smattering of books, in what is often a stately study of the High Middle Ages, far removed from the modest monastic cell that he actually occupied outside Bethlehem. A lion is often sitting peacefully on the floor, as Jerome was said to have removed a thorn from a lion's paw with his pen, representing the power and diligence of learning to undo the violent beastliness of the world.[9]  

Mit der Hilfe von reichen römischen Gönnern (und Gönnerinnen) gelingt es Hieronymus eine veritable Bibliothek auf die Beine zu stellen:

… rich not only in Christian literature but with Plato, Aristotle, Cicero, and Virgil, as well as Roman and Jewish histories. He was able to hire secretaries and scribes, operating the equivalent of a scholarly publishing house and a center for advanced studies in scripture, unequaled in late antiquity and for many centuries to follow. If he carried a good deal of his learned manner from Rome to Bethlehem, he also ensured that the fruits of that learning made their way back. He arranged for annual manuscript shipments to Rome, where his friends and patrons would help see the work copied, placed in libraries, and spoken about in ways that were conveyed back to him.[10]

Der verbreiteten Vorstellung, als Mönch müsse man auf alles verzichten, entgegnete Hieronymus, dass er mit Hilfe seiner Bibliothek anderen dabei helfe, aus Gottes Weisheit zu lernen. 

"I am writing not a panegyric or a declamation but a commentary, … consequently I hope that my own words receive no praise but that others' sage words be understood as they are originally written down. The task is to elucidate obscure points, to touch only briefly on what is already clear, and to linger over things that are difficult to figure out!”[11]

Sorgfältiges Lesen schafft nach Hieronymus ein Verantwortungsgefühl für die Überlieferung der Gestalt eines Werkes, für das Verstehen seines ursprünglichen Sinns. Dieser soll nicht in den Text eingetragen, sondern ihm entnommen werden. Das ändert erst die allegorische Auslegung.


Das Memento Mori des Hieronymus

Es ist Albrecht Dürer selbst, der auf seiner Reise nach Antwerpen 1521 die Grundlage dafür schafft, dass das Thema des lesenden Hieronymus nun einen stärker moralisierenden Einschlag bekommt. Er kombiniert geschickt das ihm vertraute Motiv des Hieronymus im Gehäuse mit dem Schulterporträt des Hieronymus und verwendet einen 93-jährigen Antwerpener als ‚Model‘. Das Bild schenkt er dem örtlichen Vertreter der portugiesischen Handelsvertretung Rodrigo Fernandes de Almada.[12] Und nun entfaltet dieses Bild eine Wirkungsgeschichte, mit der wohl auch Dürer nicht gerechnet hatte. Denn die flämischen Maler stürzen sich geradezu auf das Motiv und beginnen es serienweise zu reproduzieren und zu variieren. Allein aus der Werkstatt des geschäftstüchtigen Joos van Cleve soll es 13 Varianten geben. Er passte das Motiv immer wieder geschickt an die Bedürfnisse seiner Kunden an. Und die wollten zunächst weniger Bibliothek und mehr Memento mori. (links 1521; rechts 1528)

HOMO BULLA steht auf dem Schild hinter dem Kirchenvater an der Wand: „Der Mensch ist eine Luftblase.“ Und vor dem Gelehrten liegt das Matthäus-Evangelium aufgeschlagen: „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr die Becher und Schüsseln außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier!“ Dann aber wendet sich das Blatt wortwörtlich und wir finden eine Seite mit einer Darstellung des Jüngsten Gerichts in der aufgeschlagenen Bibel. COGITO MORTI steht an der Wand und der Blick wird auf das Letzte Gericht gelenkt. Nun sind alle jene Elemente versammelt, die wir 1540 auch bei Marinus von Reymerswaele finden werden: der alte Mann, das Kruzifix, die vielen Bücher, die aufgeschlagene Bibel mit der Illustration des Jüngsten Gerichts, die Vanitas-Symbole Totenschädel, erloschene Kerze, Stundenglas.

Die Vielzahl der themengleichen Bilder von Joos van Cleve macht aber auch deutlich, wie sehr dieses Motiv von der Kundschaft seiner Zeit gewünscht wurde. Es waren Zeiten im Aufbruch und Umbruch, ganz Europa war in Verwirrung darüber, was gültig war und was nicht. 1521 ist Luther gerade exkommuniziert worden und wird im gleichen Jahr auf dem Reichstag in Worms seine Lehre verteidigen. Man weiß nicht, woran man sich halten soll, was man lesen darf und was besser nicht, welche theologischen Aussagen noch Gültigkeit haben und welche nicht. Noch 1543 wird eine Nichte eines Künstlers nach einem Prozess lebendig begraben, weil sie es gewagt hatte, selbstständig in der Bibel zu lesen, was ihr als Laie nicht zukam. Ihr Ehemann, auch ein Künstler, wurde aus dem gleichen Grund enthauptet.[13] Jan Beyaert und seine Frau Catherine Massys, eine eifrige Protestantin, waren Verwandte des Malers Quentin Massys.[14]  


Der vor-letzte Schritt: Quentin Massys

Und mit dem Hieronymus dieses Quentin Massys kommen wir ziemlich nahe an das zuerst betrachtete Bild von Marinus von Reymerswaele. Das obige Bild muss, wenn es denn von Quentin Massys stammt, vor 1530 entstanden sein, denn er starb in diesem Jahr an der Pest. Und Massys hat auf Marinus von Reymerswaele großen Einfluss gehabt, wenn Marinus nicht sogar Mitarbeiter in seiner Werkstatt war. Bei Massys ist – wie später bei Reymerswaele – das Moralisierende wieder etwas zurückgenommen und der Lese-Akt wird stärker betont.

Der Finger trommelt nicht mehr auf den Totenschädel, vielmehr liegt die Hand in einer Schwebebewegung über ihm (bei Reymerswaele zeigt der linke Zeigefinger nur noch wie zufällig auf den darunter liegenden Schädel). Hieronymus hat eine Seite einer illustrierten Bibel aufgeschlagen, auf der das Weltgericht zu sehen ist. Aber es nicht eine Weltgerichtsdarstellung nach Albrecht Dürer, die man sieht, sondern ein anderes Werk. Der konkrete Text, den Hieronymus gerade gelesen hat und den er nun bedenkt, ist nicht lesbar. Hier wird Marinus von Reymerswaele sehr viel mehr darauf achten, dass man weiß, um welche Texte es sich handelt. Dafür wirkt der Hieronymus von Massys emphatischer und persönlicher.


Bilanz

Lesen bildet – das ist der Grundkonsens aller betrachteten Bilder. Nur wozu das Lesen bildet – darüber gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten. Bei Marinus von Reymerswaele können wir die Texte beinahe mitlesen. Am Anfang steht die allgemeine Erinnerung an den belesenen Kirchenvater Hieronymus, der die Bibel übersetzte und textkritisch erschloss. Dann trat in der Kunst der asketische Zug in den Vordergrund (den wir in diesem Text ausgelassen haben). Hier wird Hieronymus vor allem mit Totenschädel und Löwe beim Gebet in der Einöde gezeigt. Mit Jan van Eyck und den ersten Ölgemälden, die eine detailreichere Darstellung ermöglichten, treten wir in den Kosmos des lesenden und belesenen Intellektuellen ein. Immer mehr Elemente des Triviums und Quadriviums tauchen in seiner Schreibstube auf. Und die Bilder werden – der sich entwickelnden humanistischen Kultur entsprechend – immer anspielungsreicher und immer symbolischer. Bei Antonello da Messina haben wir dann erstmals ein Bild, das den komplexen Zusammenhang von Lesen, Auslegen und Weltbezug in den Blick nimmt. In der Folge, nicht zuletzt den nordeuropäischen turbulenten Zeiten geschuldet, konzentriert sich die Aufmerksamkeit verstärkt auf das Memento Mori, die Bedeutung der Lektüre angesichts der Endlichkeit der Existenz: weniger im Sinne des „Es ist alles eitel“, als vielmehr im Sinne des Woraufhin lesen wir.


Anmerkungen

[1]    Schivelbusch, Wolfgang (1983): Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. München: Hanser (Hanser Anthropologie).

[2]    Seidel, Katrin (1996): Die Kerze. Motivgeschichte und Ikonologie. Hildesheim: Olms (Studien zur Kunstgeschichte, 103).

[3]    Vgl. vor allem Mackor, Adri (1995): Marinus van Reymerswale: Painter, Lawyer and Iconoclast? In: Oud Holland - Quarterly for Dutch Art History 109 (4), S. 191–200. DOI: 10.1163/187501795X00287. Mackor, Adri (2017): On Marinus van Reymerswaele's St. Jerome in his Study, with special Attention for the Brukenthal Version. In: Brukenthal Acta Musei 12 (2), S. 241–261.

[6]    Vgl. WiBiLex, Stichwort Rhizinus, https://www.bibelwissenschaft.de/de/stichwort/33530/

[8]    Willinsky, John (2018): The Intellectual Properties of Learning. A Prehistory from Saint Jerome to John Locke. Chicago: University of Chicago Press.

[9]    Ebd., S. 25f.

[10]   Ebd., S. 26.

[11]   Ebd., S. 27.

[13]   „Als Strafen für Ketzerei, und dazu genügte der Besitz oder das Lesen verbotener Bücher, konnte man sich beim ersten Male meist durch Abschwörung retten. Wurde dies verweigert, so gab es „Leib oder Gut, je nach Umständen“ (1524), Androhung der Verbannung (1526) und die Todesstrafe (1529, 1531). Bei Letzterer seien Männer zu enthaupten und die Köpfe auf Pfähle zu stecken, Frauen lebendig zu begraben. Rückfällige wurden verbrannt.“      https://de.wikipedia.org/wiki/Bibelverbot
#Reformation_bis_etwa_zum_Augsburger_Religionsfrieden

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/119/am667.htm
© Andreas Mertin, 2019