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Magazin für Theologie und Ästhetik


Videoclips VII

Kunst-Geschichten

Andreas Mertin

Betrachtet man das Vorkommen von Bildender Kunst in der Videoclip-Produktion der letzten zehn Jahre, so fällt auf, dass sowohl die Werke der Kunstgeschichte und hier insbesondere jene aus der Zeit um das Jahr 1500 und aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, als auch Werke der neueren Moderne eine wichtige Rolle spielen. Bedenkt man die jugendlichen Adressaten, muss - zumal angesichts des deutlich wahrnehmbaren kulturellen Traditionsabbruchs in der jüngeren Generation - der Bezug auf Pieter Breughel, Hieronymus Bosch, Michelangelo, Andreas Mantegna, Jackson Pollock, Amedeo Modigliani, Rembrandt, René Magritte, El Lissitzky, Wladimir Tatlin, Joseph Beuys, Hermann Nitsch oder Pierre & Gilles doch überraschen. Spiegelt sich hier mehr als eine Marotte einiger Kunstliebhaber unter den Videoclip-Regisseuren? Und könnte es sein, dass Produzenten und Konsumenten künftig hoffnungslos auseinanderdriften? Ist der artifizielle ästhetische Bezug im Clip nur noch ein Appetithappen für die Happy Few bzw. ein autoreferentielles Spiel der Clip-Regisseure?

Im Folgenden möchte ich in einem Rück-Blick und einem Aus-Blick der Thematisierung von Kunst in den Videoclips und den Videoclips als neuer Kunstform nachgehen.

Rück-Blick

Videoclips, die Bildende Kunst in den Blick nehmen, ironisieren oder verfremden, sind nicht nur ein Faible bestimmter Regisseure wie Mark Romanek, der selbst bekundet, es reize ihn, einmal die neuere Kunstgeschichte in verschiedenen Clips durchzubuchstabieren. Inzwischen gehört der kunsthistorische Bezug zum Standardrepertoire.

Relativ konventionell ist die Bezugnahme noch im Videoclip "One of us" von Joan Osborne, in dem Michelangelos "Erschaffung der Gestirne" aus dem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle verfremdet als Freizeitattraktion eine Rolle spielt. Im Videoclip können die Besucher eines Freizeitparks das Gesicht Gottes durch ihr eigenes ersetzen und so für einen Augenblick Gott sein. Das passt zum Text des Liedes, der die Gottesebenbildlichkeit zum Inhalt hat.

Unkonventionell, aber natürlich nicht unerwartet, ist der Bezug auf die Kunst in David Bowies "The heart's filthy lesson". David Bowie ist selbst Performancekünstler und greift im Clip zu seinem Lied auf verschiedene Impulse der europäischen Fluxus-Bewegung zurück. Deutlich erkennbar ist der Einfluss von Joseph Beuys und des Wiener Aktionisten Hermann Nitsch. Daneben treten künstlerische Zitate wie etwa der Bezug auf den spanischen Surrealisten Luis Buñuel und seinen Film "Viridiana". "The heart's filthy lesson" agiert schon jenseits der Grenze zwischen Kunst-Stück und Promotion (was ja die genuine Zweckbestimmung der Videoclips ist).

Der Clip zu R.E.M.'s "Losing my Religion" ist eine perfekt konstruierte Collage verschiedener künstlerischer Stilbildungen aus Vergangenheit und Gegenwart. Man könnte eine Analyse des Videoclips geradezu als Prüfungsaufgabe für den Kunstunterricht stellen. Der Clip beginnt mit Anspielungen auf das Werk von René Magritte und setzt sich fort in der Gegenüberstellung dreier Kunstepochen: der holländischen Malerei aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, der Kunst der kommunistischen Oktoberrevolution und der postmodernen ironischen Bearbeitung/Brechung der Kulturgeschichte in der Gegenwart. Im Gegeneinander von Rembrandt, Tatlin und Pierre & Gilles ergeben sich interessante Bezüge, obwohl sie jeweils unterschiedlichen biographischen, religiösen kunsthistorischen "Konfessionen" zuzuordnen sind.

Eine Performance eines mittelalterlichen künstlerischen Oeuvres ist der Clip zu Metallicas "Until it sleeps". Was mit einer Performance nach Motiven aus Hieronymus Boschs Hauptwerken "Garten der Lüste" und "Versuchung des Hl. Antonius" beginnt, steigert sich zu einer bewegenden/bewegten Umsetzung des "Ecce homo" aus dem Frankfurter Städel. Dazwischen zahlreiche Anspielungen auf Pieter Breughel, Andrea Mantegna, aber auch auf William Shakespeare.

Gegenüber "konventionellen" Zitaten der Kunstgeschichte fällt vor allem der inszenatorische Charakter auf: die Bilder hängen nicht einfach nur an der Wand oder werden als Ausstattungsstücke gebraucht, sondern sie werden zum einen in die Geschichte des Clips einbezogen und zum anderen quasi "videodramatisch" animiert. Kunstgeschichte wird zum aktuellen Livedrama.

Anders ist dies bei dem Clip zu Janet und Michael Jacksons "Scream", routiniert-aufwendig gemacht von Mark Romanek. In dieser Inszenierung hängen die Kunstwerke tatsächlich an der Wand, genauer: sie erscheinen in einer Abteilung des Raumschiffs der Jacksons, das den Namen "Gallery" trägt und hier hängen - ganz im Stil des Privathauses von Bill Gates - auf Monitoren an der Wand. Dementsprechend können sich Janet und Michael jeweils ihre Lieblingskunstwerke herbei zappen. Und dabei stoßen wir im Bereich der modernen Kunst auf Andy Warhol, Jackson Pollock, René Magritte sowie Amedeo Modigliani.

Aus-Blick

Natürlich gibt es in Videoclips nicht nur den Rück-Blick auf die etablierten Werke bildender Kunst, das Genre "Videoclip" selbst kann ja als Teil der jüngsten Kunstentwicklung begriffen werden. Spätestens dort, wo nicht mehr Mainstream-Publikum bedient werden muss, toben sich junge Regisseure mit avantgardistisch-ästhetischen Ambitionen aus. Wo sich die ästhetischen Inszenierungen von den Vor-Bildern der Kunstgeschichte und des Alltags befreien, wird es erst richtig interessant. Auffallend in diesem Bereich ist vor allem die Mediatisierung. So wie es sich auch in der aktuellen Kunstszene beobachten lässt (etwa bei jungen Künstlern wie Bjørn Melhus), spielt eine mit den Neuen Medien aufgewachsene Generation mit deren vielfältigen Möglichkeiten: synthetische Bilder, Zeitraffer, computergenerierte Verdoppelungen, Verfremdungen, Verfälschungen etc.

Im Clip zu "Let forever be" der Chemical Brothers überlagern sich die Medienbilder alptraumhaft. Imaginäre Spiegelungen, wie sie bereits die Werke von René Magritte vorausahnten, werden nun im Medium des computerbearbeiteten Films vor Augen geführt und fortentwickelt. Aus realistischen Filmszenen aus dem Tagesablauf einer Verkäuferin brechen immer wieder optisch geklonte Doppelgängerinnen hervor, die kaleidoskopartig neue Konstellationen ausbilden und so auch den Alltag der Verkäuferin verändern. Linearität und Nicht-Linearität der Bilder werden kunstvoll miteinander verwoben.

Um die Linearität der Zeit und ihre Aufhebung, um Geschwindigkeit und Bewegung geht es auch in "Brown Paper Bag" von Roni Size unter der Regie von Nick Gordon. Für Diebe, Geschäftsleute, Verabredete geht es vor allem um eins: berechenbare lineare Zeit. Was aber, wenn die Zeit aufgehoben, nichtlinear wird und so die Verhältnisse, Dinge und Beziehungen zum Tanzen bringt? Im Prinzip wird so der Umgang der DJs mit der Vinylplatte zum Paradigma des Zeitablaufs.

Der Schlusspunkt dürfte jedoch die vollständige Befreiung der Bilder sein. So gibt es bereits Videoclips, die sich nahezu vollständig von ihrem Initialpunkt - dem Lied eines Interpreten - gelöst haben. Diese Clips werden zwar anlässlich des Erscheinens einer CD gespielt, begleiten aber weder Musik noch Text.

Der Videoclip wird autonom.


© Andreas Mertin 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 12/2001
https://www.theomag.de/12/am31.htm