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Magazin für Theologie und Ästhetik


Choreografien durch Raum und Zeit

William Forsythe und das Ballett Frankfurt

Gesine Kleinschmit

"Welcome to what you think you see"

Kaum Licht auf der Bühne, alles ist schwarz und leer. Quer über die Fläche, schreitet langsam eine silbergrau bemalte und bekleidete Gestalt. Gezielt setzt sie den Fuß und führt die Arme wechselweise zur Seite und nach oben.

Eine Dame in einem Rokoko-Kostüm taucht auf. Gestenreich eilt sie umher, redet vom Sehen, Denken, Erinnern und Vergessen und würfelt diese Verben in verwirrenden Kombinationen durcheinander. "You think you thought you see you saw".

Zwischen diesen beiden Figuren - zu denen sich noch eine dritte, ein Mann mit einem Megaphon, gesellt - tanzt bald darauf das Ensemble des Frankfurter Balletts. Oder anders gesagt: Die drei Figuren finden irgendwie ihren Weg zwischen den Tanzenden, gestikulierend, schreitend, redend.

Ein seltsames Neben- und Ineinander von theatralischer Handlung, deren Sinn im Dämmerlicht bleibt; von Rede, der offensichtlich ein Gegenüber fehlt und von Tanz, den man am liebsten für sich sehen möchte, weil er doch seine eigene Logik und Schönheit hat. Nur langsam erschließen sich Bezüge: Die silberweiße Frau, die zwischendurch wie ein Gespenst aus dem Boden steigt, scheint dem Ensemble Bewegungen vorzumachen und den Rhythmus durch Klatschen anzugeben. Und jene exaltierte barocke Dame bezieht sich in ihrem endlosen Reden wohl auch auf das, was um sie herum geschieht: "Welcome to what you think you see".

"Artifact" aus dem Jahr 1984 ist das erste Stück, das William Forsythe als Intendant des Ballett Frankfurt inszenierte. 1949 in New York geboren, studierte er Tanz an der Jacksonville University in Florida und an der Joffrey Ballet School, bevor er 1973 nach Deutschland kam. Sieben Jahre war er Mitglied des Stuttgarter Balletts. Schon während seiner Zeit als aktiver Tänzer schuf er eigene Choreografien, arbeitete dann freischaffend und wurde schließlich zum Intendanten in Frankfurt berufen, nachdem er dort mit der Gastinszenierung "Gänge" für heiße Kontroversen gesorgt hatte. Seit 17 Jahren hält es den Choreografen mittlerweile in der Stadt am Main. Mit ihm ist das Ballett Frankfurt weltbekannt geworden.

"Artifact" ist mittlerweile ein Klassiker im Repertoire des Frankfurter Ensembles. Im Rückblick ist es ein Stück, in dem Forsythe den Ausgangspunkt und die Grundlinien seines in den folgenden Jahren entwickelten choreografischen Projekts vorführt. In "Artifact" geht es um die Geschichte des Balletts als Kunstform, in die es sich zu blicken lohnt, um ihre Grenzen auszureizen und neue, zeitgenössische Bewegungsformen zu finden.

Unterbrechungen

Einer, in dessen Balletttradition Forsythe steht, ist George Balanchine (1904-1983). Der russische Tänzer und Choreograf kam 1933 nach Amerika und hat dort nicht nur das New York City Ballett gegründet, sondern auch seine Neuerungen des klassischen Balletts zur Reife entwickelt. Balanchine war am ästhetischen Puls seiner Zeit, wenn er die Handlungsballett, das im 19. Jahrhundert beheimatet war und einen eigenen Kanon ausgebildet hatte, für überkommen hielt und in einem "abstrakt" entworfenen Tanz ohne jegliche Narration die Musik "sichtbar" machen wollte. Ihm ging es um eine Erweiterung und Veränderung des klassischen Vokabulars aus dessen eigener Logik heraus.

Der neoklassische Stil, den Balanchine geprägt hat, findet sich in Forsythes Inszenierungen wieder. "Artifact" ist voll davon: Im ersten und zweiten Akt große Formationen des Corps de ballet, Tanz auf der Spitze und kompliziert geführte Pas de deux. Doch "abstrakt", schlicht auf das pure Bewegungsrepertoire des Balletts reduziert, bleibt diese Choreografie nicht. Die ästhetische Geschlossenheit der neoklassischen Ballettwelt wird hier auseinander genommen. Dafür sorgen schon die genannten drei Gestalten, die Informationen eingeben, kommentieren und den Raum durchkreuzen. Zudem verhindert das dämmrige Licht vor allem zu Beginn der Inszenierung einen klaren, ungestörten Blick auf das Bühnengeschehen. Und als es dann im zweiten Akt lichter wird, fällt abrupt und ohne vor dem Bühnenboden abgebremst zu werden, ein schwerer schwarzer Vorhang herab. Die Musik, die Charconne aus Bachs Violinpartite in d-Moll, ist weiter zu hören und nach einigen Sekunden geht der Vorhang wieder hoch, ermöglicht den Blick auf neue Tanzformationen, bevor er wieder recht rücksichtslos fällt. Die Kontinuität ist zerbrochen, aus der Gesamtschau werden einzelne Fragmente.

Abstrakt ist "Artifact" schließlich deswegen nicht, weil in diesem Stück das Erzählen ja kaum ein Ende nimmt. Zwar erschließt sich keine Geschichte im chronologischen Sinne. Dieses Stück tritt vielmehr einen Schritt zurück von der geschlossen inszenierten Illusion. Eine Figur, die dem alten Handlungsballett entsprungen sein könnte, redet vom Erinnern und Vergessen einer Geschichte und von dem, was dem Erzählen vorausgeht: Hinzusehen, zu denken und sich ein Bild zu machen.

In den Blick gerät damit gerade auch die Geschichte des Balletts. Allerdings wird sie nicht selbst erzählt - der Zugang ist hier vielmehr ein archäologischer: Die tradierten Codes des klassischen Balletts werden offengelegt, sein Interesse, Geschichten zu erzählen und auf diese Weise Wirklichkeit illusionär zu verdichten, wird selbst zum Thema. Die Zuschauer sind damit angesprochen in ihren Erwartungen und Wünschen. Und sie werden aufgefordert, das, was sie vom Ballett zu wissen glauben zwar nicht zu vergessen, aber - auf die Gefahr der Enttäuschung hin - offen zu halten für neue Perspektiven.

"Step outside!"

Der dritte Akt von "Artifact" unterscheidet sich tänzerisch sichtbar von den anderen drei Teilen. Über die Jahre der Wiederaufnahmen hat er sich zudem verändert. In den früheren Versionen vermittelte er den Eindruck einer Backstage-Situation, Tänzer in Trainingskleidung saßen auf dem Boden, dehnten sich und bewegten sich probehalber. Die jüngste Wiederaufnahme des Forsythe-Klassikers im Juni diesen Jahres in Frankfurt arbeitete nicht mehr mit diesem Bild der Wirklichkeit hinter der Bühne, sondern führt einen Tanzstil vor, der in jeder Hinsicht genau das Gegenteil der neoklassischen Parts zuvor ist. Nicht mehr die ballettspezifische Außendrehung der Gliedmaßen prägt nun die Bewegungen. Was jetzt dominiert, ist die Drehung nach innen. Daran nimmt auch die Schulter teil: Sie leitet nun selbst Bewegungen ein und ist - wie die Hüfte - nicht mehr nur der Fixpunkt weit gespreizter Arme und Beine. War in den neoklassischen Pas de deux eine genau austarierte und von den beiden Körperzentren gehaltene Außenspannung wichtig, um der Tänzerin traumhaft sichere Arabesquen zu ermöglichen, so scheinen das Frauen- und das Männerpaar im dritten Akt ineinander zu fallen, scheint die Ordnung von Oben und Unten zu zerfließen. Die Bodenfläche, zuvor in erster Linie fester Grund für den Spitzenstand, wird nun sitzend oder liegend mit dem Körper ausgemessen. Die aufrechte Haltung, Grundfigur des Balletts, erweist sich als nur eine von vielen möglichen Positionierungen des Körpers im Raum.

Zwischen der älteren und der neueren Version des dritten Aktes von "Artifact" gibt es somit nicht nur vom Bewegungsstil her Gemeinsamkeiten. Die Backstage-Situation der frühen Fassung verwies genau auf das Andere, die Außenseite der klassischen Bewegungssprache, die in der neuen Version systematisch umgesetzt wird. "Inside" und "outside" - dieses Gegensatzpaar spricht auch die Rokkoko-Dame in "Artifact" immer wieder an. In den Schlussteilen des Stücks gerät sie zunehmend aus der Fassung und disputiert wild mit dem Megaphon-Mann. Währenddessen wird von den Tanzenden die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen dem Bewegungskanon des Balletts und zeitgenössischen Tanzformen immer wieder überschritten. Mit deren Megaphon-verstärkten Worten "Step outside!" endet das Stück.

"Ballet is a body of knowlege, not an ideology", hat William Forsythe in einem Interview mit Roslyn Sulcas gesagt. Ihm geht es um eine Bewegungserforschung, die sich weder auf das Vokabular des klassischen Balletts beschränkt noch auf diesen "body of knowledge" verzichten will. Die Syntax des Balletts, sein hochorganisiertes Bewegungsrepertoire, bietet vielfältige Anknüpfungspunkte, ohne dass dabei der rhetorische Gestus des Balletts schlicht wiederholt werden müsste. Die klassisch ausgebildeten Tänzer und Tänzerinnen bringen ein Körperwissen mit, das selbst ein Schlüssel für kreatives Neuland ist. Dabei geht es Forsythe keineswegs darum, hinter den Disziplinierungen des Körpers eine verschüttete Unmittelbarkeit zu entdecken. Vielmehr sind durch den Code des klassischen Balletts Grenzen gezogen, die gerade dadurch, dass sie in den Blick genommen und systematisch erfasst, auch verschoben und überschritten werden können. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Balletts erliegt also nicht notwendig dessen "inhärentem Konservativismus" (vgl. Sulcas) Im Gegenteil: Die Befragung der eigenen choreografischen Wurzeln dient ihrer Überschreitung. Indem das Ballett in immer neuen Kontexten inszeniert, unterbrochen und verwandelt wird, gerät sein Anderes in den Blick und kann erkundet werden. Die dekonstruktivistische Lektürepraxis wird hier in Bezug auf Bewegungsrepertoires fruchtbar gemacht.

Improvisation Technologies

Über die Jahre hat Forsythe mit seinem Ensemble an choreografischen Methoden gearbeitet, die offen sind für neue Bewegungsformen und auch ermöglichen, diese systematisch zu erkunden. Inspirieren lassen hat er sich dabei auch von Rudolf von Laban, einem Pionier des Ausdruckstanzes, der ein System entwickelt hat, mit dem sich die Möglichkeiten menschlicher Bewegung erfassen und in eine schriftliche Notation übersetzen lassen. In der sogenannten "Labanotation" spielt die "Kinesphäre", der Raum um den Körper eine große Rolle. Er wird durchmessen von einer Vielzahl von Axen, die sich im Körperzentrum schneiden. Für Forsythe ist Choreografie zunächst schlicht die Organisation von Körpern im Raum. Um dieses komplexe In- und Miteinander zu erfassen, ist die Labansche Kinesphäre ein hilfreiches Modell. Der Raum um den Körper kann damit als strukturiert begriffen werden; er ist nicht einfach leer, sondern der Bewegungsraum, von dem sich der Körper als einzelner kaum isolieren lässt. Allerdings weist das Konzept Labans ähnliche Einschränkungen auf wie das klassische oder neoklassische Ballett: Auch bei ihm gehört zur Bewegung die Balance und deswegen ist der Körpermittelpunkt, von dem alle Bewegungen ausgehen, für ihn so wichtig. An dem Punkt, an dem der Körper aus der Balance gerät und das Fallen beginnt, hat die Labanotation ihre Grenze. Forsythes Choreografien aber suchen diese Grenzbereiche und erforschen ihre Überschreitung (siehe dazu auch Baudoin/Gilpin und Spier. Das geschieht dann, wenn das Zentrum der Bewegung sich aus der Körpermitte entfernt. Forsythe geht von einer Vielzahl solcher möglichen Bewegungszentren aus und muss entsprechend viele sich überlagernde Kinesphären annehmen. Jedes Körperteil kann als Ausgangspunkt der Bewegung dienen: der Kopf, das linke Ohr oder ein Fuß.

"Improvisation Technologies" heißt eine CD-ROM, die 1994 als ein gemeinsames Projekt des Ballett Frankfurt und des Zentrums für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe entstanden ist. Im Untertitel nennt sie sich "A Tool for the Analytical Dance Eye". Die CD-ROM ist gedacht als eine "interaktive Tanzschule", die das Projekt der Labanotation ins digitale Medium überträgt und die Besonderheiten des choreografischen Ansatzes von Forsythe anschaulich macht. Sie soll insbesondere auch für die Tänzerinnen und Tänzer ein Hilfsmittel sein, die sich die Bewegungstechniken des Ballett Frankfurt aneignen wollen.

Wer sich durch die Operationen hindurch klickt, erhält einen guten, teilweise überraschenden Einblick in die Art und Weise, wie beim Ballett Frankfurt mit System und fantasievoll Tanzpassagen entstehen können. Neben choreografisch festgelegten Parts finden sich diese in den Inszenierungen Forsythes immer wieder. Paradigmatisch ist der erste Teil von "Eidos:Telos", "Self Meant to Govern". Dieses Stück ist für die CD-ROM entstanden, um die Improvisationsmethode zu veranschaulichen.

Der theoretische Teil der CD-ROM präsentiert über 100 Kurzsequenzen, in denen Forsythe persönlich verschiedene "Improvisation Technologies", vorführt. Sie wurden dann von Nik Haffner, einem ehemaligen Frankfurter Tänzer und jetzigem Multimedia-Experten, sortiert und in Kapitel unterteilt. Die beiden ersten Tragen die Überschriften "Lines" und "Writing". Damit sind zwei Grundorientierungen angesprochen.

Gedachte Linien durchziehen den Körper und den Raum und liefern ein imaginiertes Grundgerüst der Orientierung. Mit der Körperbewegung werden die Linien in Bewegung gebracht, in Beziehung gesetzt zu anderen Körperteilen, können verlängert, gekippt, arretiert und zum Boden geführt werden. Dies sind einzelne Operationen, die auf der CD-ROM vorgeführt werden. Im klassischen Ballett stellen bestimmte Linien die Beziehungen zwischen einzelnen Körperteilen her, wie etwa beim Port de bras, dem Führen der Arme. Es sind Spannungslinien, die durch die Gliedmaßen gehalten werden. Dem klassischen Umgang widersprechend ist die Operation "collapsing lines": Denn hier geht es gerade um das Gegenteil: Die Spannung fahren zu lassen und die Körperpunkte, wie die Schultern oder die Unterarme, einander anzunähern.

Beim "Writing" und die vielfältigen Untergattungen dieser Operation geht es darum, mit dem Körper bzw. einzelnen Körperteilen bestimmte Formen nachzuzeichnen. Das können die Linien der eigenen Hand sein, die auf den Boden übertragen und nachgetanzt werden. Oder ein inneres Organ wie das eigene Herz dient als "Schreibwerkzeug", das die Umrisse einer Figur nachzeichnet. In dem Stück "Self Meant to Govern" werden über Monitore Informationen in Form von Buchstaben eingespielt und von den Tänzern mit den Körper nachgeschrieben. In dem Stück "Limb's Theorem" stehen am Anfang als "Quelle der Improvisation" zweidimensionale Architekturzeichnungen. Sie werden in dreidimensionale Bewegungen übertragen. Das Timing der Bewegung richtet sich dabei danach, wie und wie schnell die Zeichnung "gelesen" wird. "Room writing" nennt sich diese Technik (vgl. Haffner). Dabei werden auch imaginierte Tische und Stühle umkreist, hochgehoben oder weggeworfen und auseinander gerissen. In ALIE/N A(C)TION verwendet Forsythe zwei Spielfilme, Alien und Aliens. Ausschnitte aus diesen Filmen gaben den Tänzern eine Struktur, die sie wie eine Landkarte für die eigenen Bewegungen im Raum nutzen konnten (vgl. Haffner). Teilweise steht Forsythe selbst mit den Tänzern über Mikrophon in Verbindung und gibt während der Vorstellung " oft überraschend - Informationen an sie weiter.

Der Körper steht immer in Beziehung zu etwas: zu sich selbst als gegliedertem System, zu anderen Körpern, zu dem Raum, der ihn umgibt. Aus diesen Beziehungen ergeben sich Ansatzpunkte für die tänzerische Bewegung. Und je belebter die Kinesphäre ist, je mehr Bezüge, Isometrieen, imaginierte Formen, Linien und sogar Gegenstände darin sichtbar werden können, desto vielfältiger sind die Möglichkeiten, einen besonderen tänzerischen Ansatzpunkt zu finden. Eine solche choreografische Grammatik ist prinzipiell unabgeschlossen. Ihr Schlüssel ist - neben einer nicht zu unterschätzenden Körperbeherrschung - die Fähigkeit zur Imagination. Demgegenüber muss der Bewegungskanon des klassischen Balletts begrenzt erscheinen. Das ist er einerseits - andererseits bietet er selbst ein bestimmtes, sehr elaboriertes Beziehungsgefüge, das zu dem Bewegungsraum, der hier tänzerisch gestaltet werden soll, seinen Teil beiträgt. Die aufrechte Pose des klassischen Balletts, das sichere Führen der Arme und Beine aus einem fixierten Körpermittelpunkt heraus: es sind zwar nur bestimmte Linien und Kurven, die sich damit in den Raum zeichnen lassen. Aber sie liefern sozusagen eine Vorlage für weitere Einschreibungen: für Übermalungen und die Gestaltung ungesehener Zwischenräume.

Aufforderung zum Mittanzen

Das choreografische Projekt des Ballett Frankfurt ist ein Programm der Bewegungsforschung, das geschichtsbewusst bleibt, insofern es seine Wurzeln im klassischen Ballett nicht verleugnet. Man könnte sogar sagen, dass die geschichtliche Perspektive selbst wiederum einen Raum, nämlich den Blick in die Vergangenheit eröffnet, der dem konkret getanzten Raum eine weitere Facette hinzufügt und ihn so "vertieft". Eine ähnliche Bereicherung bietet das Material, das für Forsythe am Anfang neuer Choreografien steht und das den Tänzern Anknüpfungspunkte für ihre Arbeit bietet. Seien es Filmsequenzen, wie in "ALIE/N A(C)TION" oder sei es unter anderem Literatur wie in "Kammer/Kammer" oder in "Endless House".

Für mich sind die drei Figuren, die in "Artifact" den Wechsel von neoklassischen und improvisierten "modernen" Tanzpassagen begleiten, gleichsam Verkörperungen für das Netz an Bezügen, in denen sich das choreografische Projekt Forsythes bewegt: Da ist die Geschichte - und zwar nicht nur als die Historie des Balletts, sondern auch als die Narration, die vor allem das alte Handlungsballett trägt - für die die Frau in dem Rokkoko-Kostüm steht. Die silberne Gestalt bleibt fremd, unnahbar und stumm. Trotzdem kann sie das Ensemble zum Tanz anleiten. Sie könnte für den ungreifbaren Fluchtpunkt, das Neue und die Grenzbereiche körperlicher Bewegung stehen, die sowohl das Ballett als auch der zeitgenössische Tanz anstreben. Und schließlich ist da noch der Mann mit dem großen Megaphon. Für die Tänzer mag er wohl am ehesten Forsythe selbst darstellen, der Informationen übermittelt, die die Tänzerinnen und Tänzer kennen und auf die sie reagieren können. Dadurch sind Fixpunkte gegeben, die eine in sich verbundene Choreografie braucht und die zugleich der Anlass sein können für eine neue, unvorhergesehene Bewegung.

Beim Ballett Frankfurt bleibt jedenfalls alles im Fluss. Es lässt sich nicht auf den interpretatorischen Punkt bringen und entzieht sich methodisch einem eigenen Bewegungskanon. Nicht festlegen lassen darf sich auch das Publikum in seinen Wahrnehmungen und Erwartungen. Dafür sorgen schon die Inszenierungen selbst: etwa der fallende Vorhang in "Artifact" oder verschiebbare Wände und mediale Verdoppelungen wie in dem jüngsten Stück "Kammer/Kammer". In "Endless House", das im Oktober 1999 in der neuen Spielstätte im Bockenheimer Depot Premiere hatte, bleibt dem Publikum nichts anderes über, als sich selbst zu bewegen, um immer wieder einen neuen Ort, eine neue Perspektive zu finden und sich schließlich selbst als ein Teil der Inszenierung zu entdecken. Diese wird durch die "mittanzenden" Zuschauer noch unwägbarer - aber genau das ist wohl der Reiz, den Forsythe in seinen gleichwohl wunderbar fließenden und runden Choreografien sucht.


© Gesine kleinschmit 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 12/2001
https://www.theomag.de/12/gkl1.htm