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Magazin für Theologie und Ästhetik


Bilder sind wie erlegte Häute

Zur Kunst von Thom Barth

Gerhard Mack

Über THOM BARTH als Maler, genauer: als Verfertiger von Bildern zu schreiben, mag Kopfschütteln auslösen. Ist der Künstler bisher doch vorwiegend mit Installationen an die Öffentlichkeit getreten und über seine Kuben aus Montagefolie im Palais Liechtenstein des Wiener Museums für moderne Kunst, im Kunstraum Wuppertal oder in der Zürcher Galerie Schedle & Arpagaus, um einige wichtige Arbeiten zu nennen, wahrgenommen worden. Dass dabei die Auseinandersetzung mit dem Bild im Zentrum steht, verdeutlichten Folienbahnen derselben Herkunft, die BARTH zuletzt bei Installationen für den neuen Aachener Kunstverein, das Brüsseler Goethe-Institut und den Kunstverein Konstanz in Reihen von der Decke hängen ließ.(1) Sie wirkten wie Informations- oder Bildwände, die bald transparent, bald dunkel und bedruckt die jeweiligen Räume segmentierten, als seien sie großdimensionierte Lager für Bildscheiben wie die Holzkästen, in denen früher Photographen ihre Glasnegative aufbewahrten.

Doch bereits bevor man diese Installationen auf ihre Bildaspekte zurückzuführen sucht, rücken die verwendeten Materialien und Gestaltungsvorgänge THOM BARTHS Arbeiten in den Kontext der Malerei, der Bildverfertigung, der Auseinandersetzung mit der darstellenden Fläche. Bei den skeptisch als "Flachwaren" bezeichneten Bildern im konventionellen Sinn gibt es malerische Partien in Acryl, die in eine Auseinandersetzung mit Farbe eingebunden sind. Fleckenstrukturen in der Art von Leopardenfellen wirken biomorph abstrakt. Schwarzweißkopien auf Folie und Papier sind aufgetackert und geklebt wie Materialcollagen. Motive wie Typoskripte, Pflanzen, Stadtmuster oder Gehirnpartien lassen sich ausmachen. Zeichnerische Eingriffe führen vorgegebene Elemente weiter und verbinden Aktionsebenen von unterschiedlicher Unmittelbarkeit (Gemaltes, Geklebtes, Kopiertes). Eingekritzelte Wörter weiten und konfrontieren den bildhaften, synchronen mit dem begrifflichen diachronen Diskurs der Sprache, wie die Moderne es etwa seit PICASSOS kubistischen Collagen oder MAGRITTES Ceci n'est pas une pipe kennt. Als Träger werden zumeist Pressspanplatten verwendet oder Offsetfolien über Keilrahmen gespannt. Der Farbauftrag erfolgt in der Regel mit (gelegentlich gemusterten) Walzen. Bei den vorherrschenden aufkopierten Schwarzweißstrukturen übernimmt die Maschine die Funktion der traditionellen Instrumente wie Pinsel, Rakel, Spachtel etc., Farbmarkierungen auf der Fläche zu hinterlassen. Zugleich schließt sie die beiden tradierten Merkmale individuellen künstlerischen Ausdrucks, Neuschöpfung und Handschrift, aus. Und die bedruckte Montagefolie erinnert schließlich als Erdölprodukt an das alte Material Ölfarbe.

Diese materialen Eigenschaften wären gleichwohl ein schwaches Argument für die Sache eines konzeptuell ausgerichteten Malers, wenn sie nicht als Ausdruck einer Auseinandersetzung mit dem bildnerischen Denken, der Bildverfertigung und dem Status der Bilder in der eigenen Gegenwart gelten dürften. Der zeitgenössische Kontext von THOM BARTHS Bilderschaffen ist das Zurücktreten der äußeren und inneren Welt hinter eine Unzahl von Bildern, die sich exponentiell zu beschleunigen scheint. Das Familienfest, der Matchball, die Erde aus dem Weltall, die verstümmelten Körper aus Bosnien, die Mona Lisa LEONARDOS, der "Terminator", die neueste Margarine: Die verschiedensten Realitäten treten gleichwertig neben- und nacheinander ins Bild der Medien und durchdringen unser Erleben von Welt. Selbst das erste Rendezvous in der tiefsten Provinz folgt einem Drehbuch, das irgendwo andere entworfen haben. NIETZSCHES Diktum, unser Jahrhundert sei eine einzige "Nachspiel-Farce", ist auf grausame Weise real geworden. In einem weit höheren Ausmaß als zuvor machen wir unsere Erfahrungen über den Filter von anderen, fremden Bildern. Die öffentliche Sicht des Körpers von der Kosmetik bis zur plastischen Chirurgie liefert das bekannteste Beispiel.

Die Beherrschung der Menschen braucht die Herrschaft über die Bilder. Das galt sicherlich auch für die visuellen Programme von der Antike bis zum christlich-absolutistischen Ordo-Denken weit ins 18. Jahrhundert hinein. Aber seit diese festen, kosmologisch untermauerten Hierarchien eingestürzt sind und bis heute ihre Trümmer zu Staub zermahlen werden, ist auch die Bildgewalt allgemein verfügbar geworden, bis zum privaten Fotoalbum und der eigenen Version von Geschichte. Dass Bilder in beliebiger Menge technisch reproduzierbar wurden, ist nur der äußere Ausdruck dieses Verlustes an "Aura", wenn man diese als die Einmaligkeit eines Schnittpunktes von Raum und Zeit im tragenden Weltbild einer Epoche verortet. Wir sind von den Produkten konkurrierender Bildproduzenten umgeben. Erfahrung und Eigensinn müssen sich dagegen ausbilden. Mit der Bebilderung droht sich unsere Wahrnehmung auf die gemachte, künstliche Welt zu beschränken. Einfälle der Natur wie Krankheit und Tod werden hinter Technik und Telebild zurückgedrängt bis hin zum Abschied vom Verstorbenen über den Videomonitor. Die Eckdaten unserer Orientierung liefert nicht mehr eine Auseinandersetzung mit der Natur, sondern mit den Organisationsformen der Gesellschaft. Nicht eine Kuh melken, sondern die Farben- und Textaufdrucke auf den diversen Beuteln lesen und deuten zu können ist wichtig, um an Milch heranzukommen. Das Panorama, die umlaufenden 3-D Kinoleinwände werden visueller Ausdruck einer umfassenden Vergesellschaftung.

Die Bebilderung der Welt hat längst die Kunst erfasst: Wie sollen noch eigene Bilder, die ja immer auch Ausdruck einer Welt-Sicht sind, entstehen, wenn Erfahrung kaum mehr gemacht werden kann, wenn Entfremdung, der erste Eckstein des Moderne-Diskurses, bereits wie Schönfärberei anmutet, indem er die Illusion wach hält, es gäbe ein Eigenes, Heiles, Ganzes und Subjekte, denen dieser Zustand erreichbar wäre? Wenn die Menschen zu Behältern geworden sind, zu Durchlauferhitzern, Black Boxes (ein Titelbegriff einer Installation THOM BARTHS), in denen bald das eine, dann das andere Bild vor die Linsen des Bewusstseins steigt und Handlungen auslöst, wird es dann nicht schwierig für eine Kunst, die sich gut aufklärerisch noch immer die Erhellung der Dominanten unserer Sinneswahrnehmungen zum Ziel gesetzt hat, quasi aus dem Zustand einer Unschuld heraus, den selbst der fünfjährige Comic-Freak nicht mehr kennt, in die Konkurrenz der Bildverfertiger einzutreten und naiv eigene Darstellungen hinzuzufügen? In den achtziger Jahren reagierten viele Künstler auf diesen Allgemeingut gewordenen Befund entweder mit der Geste einer Wahrhaftigkeit beanspruchenden Expressivität, mit fernöstlich imprägnierten Mythenmetamorphosen, mit bildnerischen Beteiligungen am semiotischen Diskurs der Geisteswissenschaften oder, nicht weniger theoretisch versiert, mit einem umfassenden Bilder-Recycling, das sich durch einen bestenfalls unhistorisch verstandenen DUCHAMP ermutigt und exkulpiert sah, das zwischen Museumskatalog und Werbewand sich alles einverleibte und gegenwärtig bei der allerjüngsten Generation von Kunstschaffenden verheerende Deja-vu-Folgen zeitigt, so dass der Werk-Begriff einer dringenden Diskussion bedürfte.

THOM BARTH sieht sich in dieser Situation mit seinem bildnerischen Projekt in einem doppelten Dilemma. Wenn unsere Lebenswelt im Begriff ist, sich von ihrer ersten, äußeren Natur abzulösen und an ihre Stelle eine zweite, menschengemachte zu setzen, die an jener nur mehr Bilder abgreift, um damit - bis hin zu Cyberspace - einen eigenen Welt-Raum zu bauen, so ist diesem Vorgang Rechnung zu tragen. Zugleich aber will er, mit durchaus kosmologischem Anspruch, nicht darauf verzichten, die primären Koordinaten des Lebens mitzudenken, die in Situationen der Leibgefährdung immer wieder in die synthetische Welt des Homo Faber eindringen; der Tod ist schließlich der verdrängte Fixpunkt auch des künstlerischen Denkens der Moderne. Wie soll ich eine gute Klosterfrau sein, wenn der Kongo mich nicht loslässt zitiert die Satzinschrift eines Bildes von 1991 das Problem. Der gestirnte Himmel, diese archaische Navigationskarte, dehnt sich gleichwohl undurchdringlich weit über den ängstlich kleinen und höchst zerbrechlichen Glashauben unserer gebauten Weit. Ein Knopfdruck am Stromschalter genügt, und der ganze Zauber eines Cyberspace verschwindet; solche infrastrukturellen Anfälligkeiten kennt ironischerweise die Atomindustrie weit besser als der träumende Tüftler am Computer. Wie lässt sich angesichts dieses Gegensatzes die Bildgenerik aufzeigen, ohne in gegenstandslose (Farb-) Rhythmen auszuweichen oder in detailfreudiger Gegenständlichkeit zu versinken? Und von welchem Blickpunkt aus wäre sowohl die vergesellschaftete Welt als solche wie auch ihre fortdauernde Abhängigkeit von Koordinaten der äußeren Natur ins Visier zu bringen? Die "Perspektive", die visuelle Ordnungsform der Neuzeit, entlarvt schon eine Übersetzung des Begriffs als fragwürdig: "Durchblick" von einem und auf ein Zentrum hin setzt eine stabile Geographie voraus; in einer Situation der frei gewordenen, interagierenden Bilder ist sie nicht mehr zu gewinnen.

Zunächst einmal reagiert THOM BARTH auf die Bildproduktion in der Moderne: mit der Darstellung ihrer Struktur. Wenn unsere Gesellschaft sich aus Bildern ihren Raum baut, nimmt sie Lebenswelt in die Zweidimensionalität zurück und fasst sie als Abbild. Diese Verbindung von Bild abgreifen und als Abbild vervielfältigen demonstriert eine kleine Arbeit von 1992 in BARTHS Atelier: Eine in mehreren Tönen schimmernde Farbfläche ist teilweise mit einer Folie überklebt, auf der, schwarz und weiß, ihre Photokopie zu erkennen ist. Wie sich aus diesem Übergang ein eigendynamischer Prozeß entwickelt, zeigt ein Teilbereich des großen Bildes Stromland-3. Durch die obere Hälfte läuft ein Band aus kleinen rechteckigen Papierfeldern. Es beginnt neben einer Fläche des frei belassenen Pressholzträgers und zeigt eine Abfolge von Vergrößerungskopien. Die erste wurde direkt vom Träger gemacht. Aus dem grauschwarzen Feld mit einigen weißen Fehlstellen des Kopiergerätes ist ein rot umrandeter Zentralbereich wieder in einer Vergrößerung von 1:2 kopiert, von diesem wieder die markierte Mittelfläche und so fort. Die Abfolge lässt die weißen Punkte anwachsen, bis das Verhältnis kippt, schließlich das ganze Papier weiß ist und der einstmals dunkle Holzgrund sozusagen gar nicht mehr vorkommt, um dann, auf der nächsten Kopie, wieder schwarz zu werden mit kleinen weißen Fehlflecken, die anwachsen, wie beschrieben, ad infinitum. Eine Verbindung zur Vorlage, dem Holzgrund, besteht nur bei der ersten Kopie. Mit ihr kommt ein Ablauf in Gang, der sich zyklisch selbst reproduziert wie ein Perpetuum mobile und nie eine Lücke entstehen lässt. "Nichts" gibt es dabei nicht. Gleich nach dem ersten Schritt hebt sich eine perfekte zweite Bildrealität von der Vorlage ab, die ihre eigene Gesetzlichkeit erzeugt und sich völlig losgelöst lesen lässt. Ein Blick über das bisherige Oeuvre THOM BARTHS zeigt auch, dass diese Struktur ganz unabhängig von der jeweiligen Vorlage gleich verläuft: Ob das ein gefundenes Ölbild im Goldrahmen, ein Rotgrund wie bei den sechsteiligen Arbeiten rot, der Bildträger, die Glasplatte des Kopierers, bereits gebrauchte Montagefolie oder Motive wie Stadt, Treppe, Himmel, Gehirn sind, immer setzt das Abbild eine eigene Realität, die sich ablöst und in der Folge der Vergrößerungen schnell nicht mehr erkennen lässt, wovon sie gewonnen wurde. Genau diesem Modell folgt die oben beschriebene verbildernde Aneignung von Welt. Kein Wunder, dass BARTH die Kopiermaschine zu seinem vorzüglichsten Werkzeug gemacht hat.

Neben der Versinnlichung dessen, was es heißt (sich) heute ein Bild zu machen, wie es auf Vorgegebenes Bezug nimmt und wie es darauf zurückwirkt, impliziert das Verfahren auch einen Reflex auf die spezifische Binnenstruktur der Weltaneignung im Zeitalter der dritten technologischen Revolution: Der Kopierer arbeitet wie die Informatik nach einem binären System. Die Computer zerlegen und reduzieren die Welt in Speicher aus Bits. THOM BARTHS Kopien sind schwarz auf weiß oder im Fall der Folien opak auf transparent. Schwarz umfasst die physikalischen Farben, die gelegentlich durch die Acrylflächen schimmern. Weiß ist die Summe der Lichtfarben. Beide markieren Ganzheit als Dualität. Die Vergrößerung führt zu MANDELBROTS selbstähnlichen Strukturen. Himmel wie Erde, Treppe oder Farbe erhalten nach wenigen Vergrößerungsschritten im Prozeß "der Kopie der Kopie der..." dieselbe, an ein Leopardenfell oder einen zerreißenden Ölfilm erinnernde Musterung, als sei es ein Ziel, auf völlig künstliche Weise ein Phänomen der Natur analog zu produzieren. Künstlich und Natur wären dabei allerdings nur heuristisch eine Antithese, denn bereits das Gehirn selbst, das die Abbildmaschine so gut wie das Speichersystem hinter den synthetischen Bildwelten ersonnen hat, funktioniert, biochemischen Erkenntnissen zufolge, binär. Die erdachte, konstruierte Lebenswelt bleibt Teil der als natürlich bezeichneten, die Gelenkstelle ist das Gehirn.

Wie sehr THOM BARTH diese Einbindung in die Koordinaten einer primären Erfahrungswelt im Blick hat, zeigen die wenigen, in den verschiedensten Zusammenhängen wiederkehrenden Motive, die die Gebrauchsbilder der Druckereifolien wie existentielle Landmarken überlagern. Da sind neben dem Gehirn, dessen gekröste Oberfläche die kubischen Installationen Kopie statt (Friedrichshafen) und Der Natur und ihren Verehrern (Zürich)(2) bestimmte, vor allem Pflanzen, Erde und Himmel. Die direkt auf Transparentfolie kopierten, an Nervenbahnen erinnernden Stengel und Fasern vermitteln auf Stromland-3 zwischen den beiden angrenzenden Bereichen. Im Rückgang auf die organische Form, in der Bewältigung der äußeren Natur finden die Felder von Pragmatik und Theorie - als Schwarz und Weiß in einer Yin Yang-Dualität einander zugeordnet - eine gemeinsame Naht. Auf einer anderen Version des Stromland-Themas sind die Verästelungen der Stengel als "Erinnerung" und "Vorstellung" besetzt, wo sie in der Gabelung zusammentreffen, wird Ich-Identität möglich. Und bei der Installation Whitebox - Blackbox im Kunstverein Salzburg(3) zieht sich die direkte Pflanzenkopie wie ein archaischer Code durch die bedruckten Folienbahnen, als wollte BARTH in Erinnerung bringen, auf welches Außen sich der selbsterhaltende Kreislauf der Bilder und Zeichen im gesellschaftlichen Binnenraum zu beziehen habe.

Identität lässt sich denn auch nur als Reaktionsform auf die verschiedenen Zeichen fassen. Ein Bild gleichnamigen Titels von 1991/92 versammelt Farb- und Papierflächen in Weiß, kopierte Blätter von Typoskripten, die seitlich ausgerichtet sind, so dass die Schriftzeilen als vertikale Linien verwirren, aufgekrakelte Worte, Kopien mit Balkenfolgen und Wischbewegungen. Immer wieder tritt der Holzträger hervor. Wie bei den Stromland-Arbeiten vermitteln einander überlagernde Folienblätter mit Pflanzenkopien zwischen zwei Bereichen. Übersetzbar ist das nicht, Identität im klassischen Sinne von Eindeutigkeit ist nicht herstellbar. Man verfolgt die Assoziationsbewegungen, die unterschiedlichen Grade an Abstraktion und Unmittelbarkeit, die Schrift, Farbe, Papier, Kopie, Holz auslösen. Die Wahrnehmung springt wie eine Grille auf den verschiedenen Plateaus eines Geröllfeldes. Der Fülle auf der einen steht die Reduktion der anderen Seite gegenüber. Da sind auf Papier die Ringe einer seitlich sich fortbewegenden, der Fläche verhafteten Spirale aufgezeichnet, der eine weitere Arbeit Bilder erinnern den Weg als Vorstellung weiße, sauber voneinander abgesetzte Felder zuordnet als Speicher für die Bilder des Tages und sie fortsetzt mit Glasnegativen von Gefäßen. Die leere Fläche, das Photo-Negativ, das Gefäß, sie bewahren so gut wie sie evozieren; Vorstellung und Erinnerung werden zur Deckung gebracht in den Bildern, die sie produzieren, deren Abfolge die zahllosen Stationen der Geschichten ergibt, oft austauschbar wie die ausgeteilten Karten eines Spiels. Man ist wieder bei der Reihe von Vergrößerungen aus Stromland-3, die sich vom "Original" des Trägers - übrigens ein Haschee aus gehäckselten und vermanschten Holz- und Pappespänen ablöst und ihre eigene Bilderwelt produziert, zur projektiven Deutung freigegeben und dennoch nicht mehr als eine lose, inhaltlich unbesetzte Struktur.

Der Himmel, dieser andere Ankerpunkt einer rudimentären Grammatik basaler Orientierungen in THOM BARTHS Bildwelt, ist wie die Erde und Pflanzen zunächst einmal als Motiv vorhanden, das auf den Installationsfolien im Kunstraum Wuppertal(4) oder im Umspannwerk des Kunstmuseums Singen(5) zur unerkennbaren Musterung hochkopiert wurde. Das Bildrelief Membran von 1990 entdeckt daneben den metaphorischen Bezug zur Bildthematik. Zwei Rahmen sind so übereinander gesetzt, dass der Blick nach oben geleitet wird. Die Folie mit Himmelskopien ist eher herumgewickelt als aufgetackert, als müsste der Kunsthimmel wie schützendes Packpapier den entstehenden Innenraum umhüllen. Himmel verwendet THOM BARTH der etymologischen Herleitung entsprechend als Decke, die sich vor die Unendlichkeit des Alls legt und den Menschen Geborgenheit suggeriert. Mit dieser Bedeutung imprägniert, wölbt sich das Bild als bergende Folie über unsere metaphysischen Sehnsüchte. Der Himmel ist ein Bild und das Bild wird zum Himmel.

Erde und Himmel hat THOM BARTH bei Installationen wiederholt ununterscheidbar nebeneinander gesetzt, als sei die Blickrichtung (nach oben oder nach unten) aufgehoben. Ein in jüngster Zeit eingebrachtes Motiv zeigt (zum Teil mit einer Frau anspielend auf DUCHAMP und GERHARD RICHTER) eine Treppe, deren Verlauf nicht auszumachen ist. Unsere Welt wird da zum Bild in einem ganz anderen Sinn. THOM BARTH reklamiert einen bisher nur wenig beachteten Aspekt der Moderne. Die schwarze Kopierfläche nimmt auch Bezug auf MALEWITSCH. In der Zeit, als dieser seine ersten Quadrate malte, vollzog sich ein fundamentaler Perspektivenwandel. Der neuzeitliche Mensch, der sich vom hierarchischen Ordo befreit hatte, verließ den zentralperspektivisch beherrschten Raum, stieg in die Lüfte und sah die Erde von oben. Die ersten Luftphotographien entstanden. Mit dem Blick von außen war die Raum-Einheit von Betrachter und Gegenstand durchtrennt. Der feste Boden unter den Füßen schwand. Der horizontale Blick wich der Vertikalen. Das Bild war nicht länger Fenster in eine Welt hinein, sondern Ausschnitt. Was zu sehen war, verlor seine Raumtiefe und schnurrte in die Fläche, die wie eine bedruckte Hülle das Erdvolumen umspannte oder mit den Augen abzugreifen war wie die Relieftafel eines Relais durch die Finger eines Blinden. Der Abstand, das Niveau, von dem aus man schaute, wurde entscheidend für die Umkehrung der neuzeitlichen Zentralperspektive: Wachsende Distanz brachte nicht mehr Raumtiefe, sondern Flachheit, bis die Erdoberfläche auf Satellitenphotos aus dem All zur bunten Folie wurde. Mit dem Verlust des direkten Kontaktes boten sich dieser Aufsicht in durchaus doppeltem Sinn ganz andere Möglichkeiten der Beherrschung und Planung; das Lebensgewirr der Details entschwand dem Blick. Von der kartographischen Landschaftsaufteilung bis zum Bombenabwurf begegnen wir Folgen daraus im Alltag.

Diese Verlagerung des Blickpunktes hat erste Vorläufer in PETRARCAS Beschreibung seiner Besteigung des Mont Ventoux. Sie kündigt sich an in GOETHES panoramatischem Hochgefühl während seiner Schweizer Alpenreisen oder JEAN PAULS Schrift "Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch". Sie ist zu beobachten in der Entwicklung der geographischen Karten und im Sinken der Horizontlinie in der Malerei der Romantik. MALEWITSCHS Quadrate setzten ihr eine erste Ikone, die sowohl vertikal wie horizontal lesbar war. Von hier an lässt sich diese Ambivalenz durch die Bildgeschichte des Jahrhunderts beobachten. Bei EL LISSITZKY kehrt sie mit schwebenden Raumkörpern wieder. LUDWIG MEIDNER setzt sie ein als formales Irritationsmittel seiner Apokalyptischen Stadt ebenso wie GEORGE GROSZ für sein metropolitanes Sündenbabel. Sie bietet sich an bei den entgrenzten Riesenflächen eines JACKSON POLLOCK, CLIFFORD STILL oder SAM FRANCIS mit ihren richtungslos fließenden Farbstrukturen. Sie ist naheliegend bei JASPER JOHNS Grey Target, YVES KLEINS blauem Schwammrelief RE 21 (bleu) oder DONALD JUDDS kadmiumrotem Sperrholzband zwischen in den Raum gewelltem Blech. Sie wird thematisiert in Ellsworth Kellys Eckstücken. POLKE spielt gelegentlich damit. Und GERHARD RICHTER hat, vielleicht nach der Erfahrung seiner Stadtbilder, immer wieder, z. B. mit den Rakelbildern, gezeigt, dass eine "Malerei von oben" Geschichte als Schichtung, als Flächenunterschied, nicht mehr als lineare Horizontallinie in den Raum hinein erzählt. Vom ersten bis zum letzten Farbauftrag sind die verschiedenen Stadien eines Bildes zu sehen. Oben und Unten korrespondieren. Auf der Tafel 1024 Farben bieten sich dem Betrachter je nach individueller Disposition die unterschiedlichsten Vernetzungsmöglichkeiten an.

Bei THOM BARTH bestimmt diese Thematik auf vielfältige Weise die Struktur der Bilder, als gelte es, der Bilderflut, für deren Generik er eine visuelle Metapher fand, in einem zweiten Schritt auf einen sicheren Beobachtungsplatz außerhalb zu entkommen. Unmittelbar handwerklich ist Farbe geschichtet und abgeschliffen, werden Platten auf den Bildträger gesetzt oder Materialien übereinander geklebt. Das Konkrete und das Abstrakte verlieren ihre Unterscheidbarkeit. Nähe und Ferne, die gewohnten Größenverhältnisse geraten in Bewegung. Das Auge des Betrachters springt. Die zuletzt entstandene Serie der sechsteiligen rot-Arbeiten legt mit ihren unterschiedlichen Kopievergrößerungen der Farbe die verschiedensten Umgangsweisen nahe: Detail, Übersicht, Ausschnitt, Vergleich, Grenze, Bewegung (vertikal im Sinne der Aufsicht), Sistierung erstellen eine vielfältige Relationalität. Mit Farbe eingezogene Umrandungen werden statt klassischer Rahmen zu Markierungen von Operationsfeldern. Etablierte Denkfiguren werden irritiert: Wenn der Richtungsverlauf einer Treppe in exakter Aufsicht nicht mehr erkennbar ist, darf das auf den Fortschrittsaspekt der Moderne, etwa in DARWINS Evolutionstheorie, bezogen werden. Wenn bei Aufsicht-1 sich über Vergrößerungskopien schnell eine Strukturähnlichkeit zwischen der Luftaufnahme eines Stadtsegmentes und der Leiterplatte eines Computers herstellt, wird das Verhältnis von Organisationsformen der Lebenswelt und ihrer Verarbeitung umspielt.

Aufsicht statt Perspektive, das hat auch eine Rangordnung der Bildgenres zur Folge. Das Porträt kommt nur einmal, auf einer Einladungskarte, vor; Individualität verschwindet im Allover ins Anekdotische. Zum Stilleben erstarrt tendenziell alles, was von oben gesehen wird. Dominant ist die Landschaft als Reservoir archetypischer visueller Formen wie Insel, Delta, Ufer, Strom. Mit ihnen lassen sich Relationen anders beschreiben. "Liest" man z. B. Stromland-3 horizontal, entsteht sofort eine Hierarchie. Der (weiße) Bereich des Geistigen dominiert den (schwarzen) der Materie. Der eine hängt am andern, Last und Träger gesellen sich mit ihren eigenen Assoziationsfeldern dazu. Während in der Aufsicht die Transparenz der verbindenden Folien mit ihren Pflanzenkopien hervortritt und die angrenzenden Bereiche gleichwertig belässt: Welche Uferbank ist für den Strom wichtiger, die rechte oder die linke? Die Aufsicht bannt die Welt in die Fläche, sie scheint den adäquaten Blickwinkel für eine Zivilisation zu bieten, der alles zweidimensional zum Bild verflacht. Die Folie aus Bildern lässt sich ablösen und verwenden für die Ummantelung von Räumen einer neuen Welt. THOM BARTH hat das mit seinen Kuben-Installationen immer wieder vorgeführt, angefangen am historischen Beispiel des Marmorsaales im Wiener Palais Liechtenstein, dessen Bildprogramm er auf Folie kopierte, zum Würfel verklebte und als zweiten, einsichtigen, aber verschlossenen Kunstraum in den ersten des Palais stellte. Die letzten Bildarbeiten rot von 1993 verweisen mit ihren sechs Tafeln auf diese Deiktik des Raumes. Der Bildermacher THOM BARTH bezeichnet sich auch als Jäger und seine Bilder als Häute, als Trophäen in einem ganz archaischen Sinn. Mit ihnen soll, neben aller Reflexion unserer alltäglichen Bildproduktion, gebannt und beschworen werden, als hätten die Bilder ihre alte Kraft nicht verloren, wärmende Decken der Phantasie zu sein und uns die fremde, bedrohliche Welt ein Stück weit heimischer zu machen.


Der Text von Gerhard Mack wurde mit freundlicher Genehmigung des Autors entnommen aus:

Thom Barth. Im Heimatring. Wandarbeiten 1988-1993, Stuttgart 1993, Edition Cantz, S. 51-80


Anmerkungen
  1. Vgl. Martin Hentschel, Aus den Netzen (Out of the Web), Thom Barth, Arbeiten 1987-1992. Edition Cantz Stuttgart 1992.
  2. Ebd.
  3. Ebd.
  4. Ebd.
  5. Ebd.

© Gerhard Mack 2001
Magazin für Theologie und Ästhetik 12/2001
https://www.theomag.de/12/gm1.htm