"Nobody speak ..."

Von Elch zu Fisch

Andreas Mertin

Sehr geehrte Ilona Nord,
in der Zeitschrift für Pastoraltheologie haben Sie mir geantwortet, obwohl ich Ihnen doch gar keine Fragen gestellt hatte. Das ist anscheinend seit Paul Tillichs Zeiten eine charakteristische Trope christlicher Apologetik. Die Theologie hat selbst dann vorformulierte Antworten, wenn ihr von der autonomen Kultur gar keine Fragen gestellt werden.

Nun hätte ich selbst bei einer nicht erbetenen Antwort erwartet, dass Sie diese mir auch hätten zukommen lassen. Das war aber nicht der Fall, ich wurde ‚über die Bande‘ von der Existenz einer Antwort an mich informiert. Es scheint Ihnen also nicht wirklich an einer inhaltlichen Auseinandersetzung zu liegen, ich wurde literarisch nur als Popanz aufgebaut und missbraucht.

Das finde ich schade, denn eigentlich ist ja bereits Ihre Titelformulierung unmittelbar eine Resonanz auf meine Notizen: "Was Digitalisierung in der Kirche nicht heißen kann" hieß es Anfang 2018 bei mir, "Was Digitalisierung in der Kirche heißen kann" heißt es Mitte 2019 bei Ihnen.

Nun unterstellen Sie Ihren Text in der Zeitschrift für Pastoraltheologie einem berühmten Zitat von F. W. Bernstein, das da lautet:

"Die schärfsten Kritiker der Elche
waren früher selber welche".

Heute wird dieser Satz in aller Regel ziemlich pauschal dazu genutzt, Kritiker als sozusagen Abgefallene bereits vorab lächerlich zu machen. Das macht dem kritischen Geist F.W. Bernstein keine Ehre. Nun hätte dieses Zitat in meinem Fall auch nur Sinn, wenn ich mich von der Digitalisierung der Kirche wirklich abgewandt hätte. Das wäre mir freilich neu und ich muss es eigentlich am besten wissen.


Sehr geehrte Ilona Nord,
denn wenn Sie das glauben, haben Sie meinen Text nicht (zu Ende) gelesen oder nicht verstanden. Um im gewählten Sprachbild zu bleiben: ich bin und bleibe Elch, betreibe die Theologie und Ästhetik im Digitalen seit nun 30 Jahren und werde es auch weiterhin tun. Mit anderen Worten: ich bin nicht einmal ansatzweise ein Renegat des Digitalen. Ich kritisiere nur einige andere Elche, weil sie nicht das Beste aus dem Prozess der Digitalisierung herausholen, sondern im Trivialen und Oberflächlichen stecken bleiben. Oder bloß mit Plattitüden hausieren gehen und nicht einmal gute Gründe für ihr oberflächliches Verhalten angeben können.

Tatsächlich bin ich gegenüber dem Kosmos des Digitalen kritischer geworden. Denn was man meines Erachtens nicht mehr machen kann, ist heute noch in der gleichen naiven Weise über die digitalen Welten zu sprechen, wie noch 2013 vor Edward Snowden. Die digitalen Welten haben die Phase ihrer Unschuld schon lange hinter sich gelassen. Tag für Tag offenbaren sie zurzeit eher einen dystopischen als einen utopischen Wesenszug. Die früher noch laut riefen "Don't be evil", haben sich längst von ihrem Verhaltenskodex verabschiedet und bekämpfen nun jene, die eine verantwortete, gesellschaftsbezogene und sozialverpflichtete digitale Welt wollen, sie sind, wie Sascha Lobo schrieb, Arschlochkonzerne geworden. Das will und muss mitbedacht werden, wenn man über die digitalen Welten nachdenkt. Dennoch kann man trotz aller notwendigen (die Not zu wenden trachtenden) Kritik weiterhin ein Vertreter des Digitalen (also ein Elch) sein. Das jedenfalls nehme ich für mich in Anspruch. Ich möchte nur nicht so wonnetrunken bzw. hexadezimalbesoffen durch die digitalen Welten torkeln wie manche anderen Elche in der evangelischen Kirche.


Sehr geehrte Ilona Nord,
normalerweise lese ich angesichts der knappen Zeit, über die wir heutzutage nur noch verfügen, und der vielen Texte, die wir weiterhin lesen müssen, einen Artikel nur so lange, bis ich auf den ersten groben Fehler stoße. In Ihrem Text war das nun freilich gleich der erste Satz.

Im Herbst vergangenen Jahres setzte Andreas Mertin, Publizist und Medienpädagoge, einer der Pioniere auf dem Gebiet der deutschsprachigen theologischen Online-Zeitungen (theomag.de), einen bissigen Artikel über Digitalisierung und Kirche gleich in einigen evangelischen Pfarrblättern der Republik ab.

Wie heißt es schon bei Robert Gernhardt: „Paulus schrieb den Irokesen: Euch schreib ich nichts, lernt erst mal lesen"! Nun, mein Text erschien nicht im Herbst 2018, sondern im Frühjahr 2018, er erschien nicht in einem analogen Print-Magazin, sondern in einer digitalen Zeitschrift, einem E-Zine, und er wurde von mir auch nicht in mehreren Pfarrblättern der Republik "abgesetzt".

Ich weiß nicht, wie Sie persönlich zu Ihren publizierten Artikeln kommen, aber ich pflege Zeit­schriften zunächst einmal überhaupt keine Texte von mir anzubieten. Manchmal erbitten Zeitschriften neue Texte aus meiner Feder, manchmal fragen sie nach vorhandenen Texten, die ich normalerweise in meiner eigenen Zeitschrift publiziere. Der von Ihnen benannte Text aus sechs nationalen und internationalen Pfarr-Blättern war ein Nachdruck, zwei Mal sogar ein Raubdruck eines von mir in meiner eigenen Zeitschrift publizierten digitalen Textes. Das ist nicht unwichtig.


Sehr geehrte Ilona Nord,
als Theologinnen und Theologen haben wir einmal im Grundstudium mühsam gelernt, dass es nicht gleichgültig ist, wo ein Text zuerst erschienen ist, in welchem Kontext und mit welchen Kon-Texten, für welche Adressaten, mit welchem Sitz im Leben usw. Die Adressaten des Lukas sind andere als die des Johannes. Das hat Folgen für die Art der Argumentation und die Theologie. Auch Datierungsfragen sind nicht nur in den exegetischen Wissenschaften wichtig. Das sollte auch für Theologinnen und Theologen in der Gegenwart weiter erkenntnisleitend sein. Da haben Sie nun einigermaßen gepfuscht.

Die Adressaten meines Original-Textes im Theomag, das sollten Sie als praktische Theologin wissen, sind kultur- und religionsinteressierte Menschen, und das sind nicht zwingend nur Pfarrerinnen und Pfarrer, und sicher auch nicht ‚die Kirche‘. Das Magazin für Theologie und Ästhetik wendet sich seit 20 Jahren an eine breite Öffentlichkeit, nicht nur an Mitglieder oder Funktionäre jenes von Tag zu Tag kleiner werdenden Ghettos, das sich Kirche nennt.

In der 112. Ausgabe von tà katoptrizómena, die Anfang 2018 erschien und die Digitalisierung zum Thema hatte, stand ein langer Text von Thomas Melzl zur Digitalisierung in der Kirche, der auch Ihre Arbeiten berücksichtigte, auf den Sie aber überraschenderweise nicht eingehen. Warum eigentlich nicht? Ein anderer Text stammte von Wolfgang Vögele und ging intensiv theologischen Fragen des Digitalen nach. Auch das spielt für Sie überraschenderweise überhaupt keine Rolle. Sie interessieren sich nur für meine, wie Sie schreiben „bisschen frechen“ Überlegungen.

Es ist immer gut, bürstet einer einmal ein bisschen frech die Dinge gegen den Strich.

Mit „frech“ charakterisieren wir in der Alltagssprache vor allem anmaßendes und unverschämtes Benehmen und das hauptsächlich als Vorwurf gegen Kinder. Ich weiß nicht, was Sie berechtigt, derart herablassend über mich zu schreiben, in der Sache ist es in Nichts begründet, im Tonfall ist es eine Unverschämtheit, aber das müssen Sie für sich selbst verantworten. Meine explizit als "kursorisch" benannten Notizen waren keine theologische Thesenreihe, kein wissenschaftlicher Aufsatz, es waren Notizen, die nach und nach bei der Vorbereitung eines Themenheftes entstanden waren. Diese im Verlauf eines halben Jahres entstandenen Notizen stießen nun – auch für mich überraschend – auf ein breiteres Interesse, weshalb sie in sechs Pfarr-Blättern nachgedruckt wurden, national und international. Und das scheint Sie geärgert zu haben.


Sehr geehrte Ilona Nord,
ich kann Ihren Ärger verstehen, dass, obwohl Sie doch so viel Fachliches zum Thema publiziert haben, wie Sie ja nicht müde werden in Ihren Fußnoten zu betonen, Sie dennoch nicht von den Pfarrer-Blättern zum Thema eingeladen, sondern stattdessen nur „ein bisschen freche“ Überlegungen eines Kulturwissenschaftlers nachgedruckt wurden. Dafür kann ich nur nichts.

Aber müssten nicht auch Sie sich fragen, warum das so ist? Die Reaktionen, die ich bisher gelesen habe, erschöpfen sich nach meinem Gusto zu häufig im Hinweis darauf, dass man schließlich zum Thema publiziert habe, man/frau also der eigentliche Experte, die eigentliche Expertin sei. Das nennt man wohl gekränkte Eitelkeit. Ist das aber nicht ein bisschen zu sehr narzisstisch? Im Blick auf die mir unterschobenen frechen Überlegungen könnte ich replizieren: schreiben Sie demnächst einfach interessantere Texte. Vielleicht klappt’s dann auch mit den Pfarrblättern.

Zugleich sollte er wissen, dass die wenngleich nicht große, aber doch intensiv geführte deutschsprachige praktisch-theologische Diskussion zu Digitalisierungs- und Mediatisierungsprozessen bereits auf einige gute Beiträge verweisen kann, dass ein Netzwerk Religion und Medien im Aufbau ist und international bereits eine große Gruppe von Praktischen Theologinnen und Theologen das Thema Digitalisierung bearbeitet. [Anmerkung: Kristin Merle – Ilona Nord (Hg.), Mediatisierung religiöser Kultur. Praktisch-theologische Standortbestimmungen im interdisziplinären Kontext, Berlin/Leipzig 2019]

Ich muss schon sagen, es zeugt schon von sehr viel Chuzpe, einem kulturwissenschaftlichen Text, der 2017 geschrieben und Anfang 2018 im Internet veröffentlicht wurde, vorzuwerfen, er habe theologische Texte nicht zur Kenntnis genommen, die immer noch nicht erschienen(!) und die aktuell für Anfang 2020 angekündigt sind. In Ihrem Text wird das nur mühsam kaschiert, indem einfach 2019 als Publikationsjahr angegeben wird. Das macht es nicht besser, es ist dreist, ja Scharlatanerie.

Und noch einmal: es handelt sich bei meinem Text überhaupt nicht um einen praktisch-theologischen Text im Wissenschafts-Kontext, sondern um Notizen eines Gemeindeglieds zu dem, was er in seiner Kirche wahrnimmt. Ehrlich gesagt, ich kann dieses autoritär-professorale Gehabe und gleichzeitige Glasperlenspiel (wer zitiert wen) schon seit langem nicht mehr ab. Das alles hat mir zu viel vom Kuchen der Marie Antoinette.

Dass man einem Text, der sich damit beschäftigt, was Digitalisierung nicht heißen kann, vorwirft, er wende sich nicht dem zu, was Digitalisierung heißen kann, offenbart nun ein merkwürdiges Textverständnis. [In einfacher Sprache: wenn jemand darüber schreibt, was alles nicht blau ist, dann ist es jedenfalls keine Antwort, wenn man sich in der Entgegnung nun all dem zuwendet, was blau ist. Nur Hegelsche Dialektiker haben ihre Freude daran.]


Sehr geehrte Ilona Nord,
ich brauche auch deshalb nicht extenso darüber zu schreiben, was Digitalisierung der Kirche bedeuten kann, weil dies seit 20 Jahren konstitutiv in dieses E-Zine eingeschrieben ist. Ausgabe für Ausgabe zeigt das Magazin für Theologie und Ästhetik, was Theologie treiben im Raum des Digitalen positiv leisten kann. Wie Theologen wie zum Beispiel Wilhelm Gräb, Filmwissenschaftler wie Hans Jürgen Wulff hochkulturelle und popkulturelle Phänomene lesen und auslegen, wie sie sie nicht nur in religiös-kultureller Perspektive deuten oder anreichern. Das begründet den Erfolg der Zeitschrift. Mit der populärkulturellen Wikipedia sind wir bestens vernetzt, die Korrespondenz mit Menschen aus der gesamten Breite unserer Gesellschaft dürfte umfassender sein, als es die Zeitschrift für Pastoraltheologie oder andere einschlägige Fachzeitschriften je werden leisten können. Unser Magazin mag sprachlich anspruchsvoll sein, aber es ist jedermann jederzeit kostenfrei zugänglich, es kommuniziert Theologie und Ästhetik in die und mit der Breite der Bevölkerung. Wir halten wenig von der weitgehend geschlossenen Binnen-Kultur theologischer Zeitschriften. Auch die Zeitschrift für Pastoraltheologie ist erst seit kurzem Open Source.

Und als derartig einschlägig ausgewiesene Elche erlauben wir uns auch Kritik an manchen Digital-Aktivitäten unserer Kirche zu üben, die irgendwie eher an Brunftschreie als technologische Fortschritte erinnern. Historisch etwa an der seinerzeitigen Suchmaschine crossbot. Oder an der späteren überaus naiven Twitterei der Bibel. Oder aktuell an all den durch und durch kommerzialisierten Web-Angeboten, die auf Corporate Design und kircheninterne Vereinheitlichung hinauslaufen, statt die typisch protestantische Diversifizierung und Individualität zu pflegen. Da sagen wir als alte Elche: überlegt euch genau, was ihr da tut, denn uns scheint das wenig protestantisch zu sein.


Sehr geehrte Ilona Nord,
Sie empfehlen nun im Gegenzug zur zersetzenden ‚frechen‘ Kritik des Verfassers einen heilsamen Blick auf gelungene Beispiele, solche, in denen sich, wie Sie meinen, Gemeinde zeige. Si Tacuisses – würde ich da nun sagen. Sie empfehlen mir ausgerechnet Communi als gelungenes Beispiel aus dem doch eher evangelikalen Bereich und berufen sich vor allem auf Zeugnisse von Beteiligten und auf Quellen, die in ihrem Schreibtisch schlummern. Ernsthaft?

Zu den wissenschaftlichen Standards seit der Moderne gehört die Überprüfbarkeit der Argumente. Da hilft es nicht, wenn etwas auf Ihrem Schreibtisch liegt oder im privaten Gespräch empfohlen wurde. Mich wundert auch eine Schriftleitung, die das durchgehen lässt [und noch nicht erschienene Texte als Quellen zulässt] – das lässt einen an heutigen wissenschaftlichen Standards zweifeln.

Aber im Kern geht es darum, wie das von Ihnen genannte Beispiel eigentlich funktioniert. Mit anderen Worten, ob seine Qualität hier und jetzt wissenschaftlich überprüfbar bzw. evaluiert ist. Zu den großen Sorgen, die die Menschen heute in Sachen Digitale Welten umtreiben, gehört zum Beispiel, ob und wie auf ihre Daten zugegriffen wird, ob ihre Kommunikation einer End-zu-End-Verschlüsselung unterliegt, ob sie digitale Freiheiten haben und die Betreiber nicht auf die Daten der Beteiligten zugreifen können. Man würde gerne wissen, welche Daten auf amerikanischen Servern gespeichert werden, welche Aktivitäten verfolgt werden etc. Zu all dem informiert das von Ihnen beworbene Programm kaum. Wenn das alles keine Rolle spielt, kann man auch WhatsApp nutzen. Wenn es aber eine Rolle spielt, würde man vorab gerne wissen, worin die besondere Form der Datensicherheit liegt, zum Beispiel, dass keine Informationen auf amerikanischen Servern bei Google-Analytics landen.

So aber, wie die App jetzt in Ihrem Text vorkommt, würde ich es ganz simpel als Schleichwerbung bezeichnen. Das nicht validierte Produkt ist ein klar kommerzielles Produkt, das nicht kritisch befragt, sondern ziemlich direkt beworben wird. Mir kommt das komisch vor, Ihnen nicht? Ist das das Verhalten der neuen Elche? Und berechtigt das nicht zur Kritik? Es kann doch nicht Ihr professorales Wort sein, dass kommerzielle Produkte ganz unkritisch in göttlichem Glanz erscheinen lässt. Da könnte man ja gleich Jerome Boateng fragen und um etwas Werbung bitten.


Sehr geehrte Ilona Nord,
in der jüngst erschienenen Ausgabe der Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte zum Thema Bildung und Digitalisierung schreibt Felicitas Macgilchrist Bedenkenswertes zum Prozess der Digitalisierung:

„speziell historische und ethnografische Studien zur Einführung von sogenannten neuen Bildungsmedien zeigen ein Scheitern an hohen Erwartungen als wiederkehrendes Muster weltweit.“

Ausgerechnet Kinder, die an den technologisch fortgeschrittenen Schulen unterrichtet wurden, waren im Falle des Wechsels an konventionelle Schulen weit hinter dem Stand der anderen Schülerinnen und Schüler hinterher. Die Gründe dafür liegen zwar außerhalb der Technik, hängen aber mit ihr zusammen.

Noch gravierender finde ich aber eine andere Beobachtung:

„Mit digitalen Technologien entstehen neue Parallelen zum Kolonialismus: Ähnlich wie globale Ressourcen wie Land und Mineralien von europäischen Ländern extrahiert worden sind, werden die wichtigsten gegenwärtigen Ressourcen, wie etwa persönliche Daten, von Technologie-Giganten wie Google (Alphabet), Apple, Facebook, Amazon und Microsoft extrahiert und monetarisiert.“

Ich kann nun in den skizzierten positiven Beispielen aus den Gemeinden im Dunstkreis der Evangelischen Kirchen in Deutschland nichts anderes erkennen, als die Fortsetzung dieser Tendenz zur Kolonialisierung der Menschen. Schon das alte Projekt „crossbot“ war ein klares Kolonialisierungsprojekt, das die Menschen an die Ideologie der Auftraggeber (der Kolonialherren) binden sollten, alle weiteren Projekte der EKD setzten dies fort. Die neueste Volte, die Kirchen-App, ist nun ebenfalls ein Kolonialisierungsprojekt: es dient der Stärkung der Bindung an den Kolonialherrn. Communi ist nur eine trivialisierte Variante davon. Nicht der Freiheit eines Christenmenschen dienen diese Programme, sondern ihrer Klerikalisierung. Ich finde es nur schrecklich.

Der feine, aber entscheidende Unterschied zwischen dem Communi-smus, den Sie in Ihrer Antwort an mich empfehlen, und dem Neomarxismus der kritischen Theorie bzw. den Cultural Studies, zu denen ich mich zähle, war immer die Freiheit des Subjekts. Das hätte selbst die berühmte Neue Frankfurter Schule so gesehen.


Sehr geehrte Ilona Nord,
jeder Autor, jede Autorin hat vermutlich so seine Lieblingsdichter und seine Lieblingszitate. Mein Lieblingsgedicht hat nun keinen Elch zum Inhalt, sondern einen Fisch. Es stammt von dem wichtigsten Dichter meiner Heimatstadt Hagen, Ernst Meister, einer der großen hermetischen Lyriker Deutschlands im 20. Jahrhundert.

Und dieser Fünfzeiler behandelt etwas Wunderbares und dann doch Triviales, er handelt von überaus großen Erwartungen und bitteren Enttäuschungen:

Am Meer
ein Lachen, sie haben
den Fisch gefangen, der spricht.
Doch er sagt,
was jedermann meint.

Ich will nicht verhehlen, dass mir die Mehrzahl der Digitalisierungsenthusiasten in meiner Kirche wie dieser Fisch vorkommt. Da ist man mit etwas Wunderbarem beschenkt und dann erweist es sich als etwas überaus Triviales. Ist das nicht tragisch? Und ist das nicht ein treffendes Sinnbild für all das, was die Digitale Kirche bisher geleistet hat? Ich glaube, ja.

Und deshalb, sehr geehrte Ilona Nord, wiederhole ich: all das kann Digitalisierung in der Kirche nicht heißen!


Postskriptum

Sehr geehrte Illona Nord,
ich will dieses Widerwort nicht ohne eine gewisse Perspektivierung beenden. Jöran Muuß-Merholz hat in der schon erwähnten Ausgabe von Aus Politik und Zeitgeschichte vorgeschlagen, für die neue Situation des Menschen angesichts der Digitalisierung mit der Metapher des Pinguins zu operieren, denn: der Pinguin kennt zwei Medien. Das hat den Charme einer intuitiven Metapher und verhilft zugleich dazu, bestimmten Verkürzungen (im Sinne der Neuen Medien als bloß technischen Instrumenten) zu entkommen.

[Freilich hätte man statt des sympathischen Pinguins auch das amphibische Flusspferd als Metapher wählen können. Vielleicht nicht ganz so sympathisch, aber wenigstens ein Säugetier.]

Der Pinguin jedenfalls lebt konstitutiv in und mit zwei Medien: an Land (Muuß-Merholz nennt es das grüne Medium) und im Wasser (das blaue Medium). Beide Medien erfordern anderes Verhalten und andere Bewegungsformen. Man kann sozusagen die Erfahrungen des blauen Mediums nicht einfach auf das grüne Medium übertragen, es wäre kontraproduktiv. Angesichts der Lebensform des Pinguins wäre es auch nicht sinnvoll, ihm zu raten, sich auf ein Medium zu beschränken.

Übertragen auf den Menschen bedeutet das (wenn die Metapher stimmig ist), dass es gerade nicht sinnvoll ist, die Bedingungen des einen Mediums (der Gutenberggalaxie) auf das andere Medium (der Digitalwelt) zu übertragen. Vielmehr müssen wir überlegen, was dem einen Medium entsprechend ist (z.B. Gottesdienste feiern) und was dem anderen (z.B. offene, zeitungebundene Kommunikation). Es kann, wenn man die Metapher recht bedenkt, nicht darum gehen, das Analoge durch das Digitale zu substituieren bzw. im Digitalen zu simulieren, sondern das je Eigene zu entdecken. So wie es der Pinguin ja vormacht.

Freilich sollte uns die gewählte Metapher auch daran erinnern, welchen Preis wir manchmal für Medienwechsel bzw. Medienerweiterungen bezahlen müssen.

Denn der Pinguin war ursprünglich ein Vogel (weißes Medium), der ab und an nach Fischen tauchte (blaues Medium) und seine Kinder an Land aufzog (grünes Medium).

Im Laufe der Evolution war dann das Tauchen wichtiger als das Fliegen und so bildeten sich die Flügel um und er verlor seine Flugfähigkeit. Auch seine Fortbewegung an Land war zunehmend eingeschränkt, was er sich leisten konnte, weil er dort keine Feinde hatte. Fliegen und richtig laufen aber kann er heute nicht mehr.

Nun kann man das im Rahmen einer Evolutions-Ideologie des „Whatever is, is right“ akzeptieren, der Mensch ist freilich ein Wesen, das sein Schicksal gestalten kann.

So muss die Metapher der zwei Medien, in und mit denen wir leben, uns danach fragen lassen, was das langfristig für die Entwicklung des Menschen bedeutet. Diesen Gedanken scheinen mir vor allem die Digitalisierungsskeptiker stark zu machen. Denn im Augenblick bedeutet Digitalisierung für eine Vielzahl von Menschen mehr Überwachung, weniger Freiheit, mehr Konformität. Wenn es Antworten darauf gibt (und nicht nur ein Schau’n wir mal), wären viele beruhigter.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/120/am671.htm
© Andreas Mertin, 2019