Die Schwarzen Kanäle hat die bisherige Kolumne "Was ich noch zu sagen hätte - Ein Bloggsurrogatextrakt" nach 27 Folgen abgelöst. Ich fokussiere mich in der neuen Kolumne, das Projekt Netzteufel der Evangelischen Akademie Berlin als Anregung aufgreifend, auf Meldungen und vor allem Leserkommentare der Plattformen idea und kath.net. Weiterhin bleibt diese Kolumne eine ironische und satirische Kolumne. Auch wenn ich die Kritisierten beim Wort nehme, kann ich sie dennoch nicht ernst nehmen. Sie sind und bleiben ein Element der Kategorie Realsatire.


Vier Kurznotizen im Kontext der AFD

I - Kirchentag
Der Evangelische Kirchentag in Dortmund 2019 hat bewusst darauf verzichtet, Funktionäre der rechtspopulistischen AfD auf Veranstaltungen und in Foren einzuladen. Begründet wurde das mit der Förderung rechtsextremer Unkultur durch die Partei. Das hat einigen nicht gefallen, die meinen, der Laienprotestantismus habe nach dem Prinzip der Ausgewogenheit zu funktionieren. Dabei agiert der Protestantismus wie ein autonomer Künstler – wen er einlädt, worüber er diskutiert, wogegen er sich wendet, das lässt er sich nicht von fremden Mächten vorschreiben, sondern bestimmt er selbst. Der Evangelische Kirchentag ist eine von Laien entwickelte Veranstaltung, so sehr er inzwischen auch von der Amtskirche bestimmt ist. Und diese kritischen Laien sagen klar und deutlich: wir laden jeden Menschen ein, aber keine Funktionäre der AfD. Hier ist, so weit würde ich schon gehen, der status confessionis erreicht. Nicht einmal im Ansatz gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen Protestantismus und der menschenverachtenden Ideologie der AfD. Noch in ihren kirchenpolitischen Erklärungen basiert die Partei auf Grundsätzen, gegen die sich die Reformatoren Zeit ihres Lebens gewehrt haben.

II - AfD Kritik an der Kirche
Im Gegenzug hat die AfD ein kritisches Papier zur Evangelischen Kirche veröffentlicht. Das war insofern ganz lustig, weil die Mehrheit derer, die das Papier vorstellten, nicht einmal der evangelischen Kirche angehörten. Es war eine Erklärung von außen, Möchtegernpolitiker, die sich eine ihnen genehme Religion basteln wollten und nun enttäuscht waren, dass der Protestantismus, der inzwischen aus seiner Geschichte gelernt hat, nicht mehr dem völkischen Denken gegenüber aufgeschlossen ist. Aber es bleibt ja jedem AfD-Politiker unbenommen, eine Kirche der Deutschen Christen unter einem virtuellen Reichsbischof Müller zu gründen.

III - Forum Toitscher Katholiken
Der AfD deutlich näher als der Evangelische Kirchentag oder die Evangelische Kirche in Deutschland steht das Forum Toitscher Katholiken. Die haben es mit der Abschlusserklärung zu ihrem letzten Treffen geschafft, das Vokabular der AfD 1:1 zu übernehmen. Selten wurde eine sich katholische nennende Ideologiefabrik so entlarvt, wie diese Leute es selbst taten. Sie sind nicht einmal ansatzweise katholisch, sondern sind durch und durch reaktionär und labeln dies mit einem religiösen Etikett. Aber es hilft nichts: sie bleiben bloß ein Forum Bio-Toitscher Katholiken.

IV – Vogelschiss zum Zweiten
In einer Debatte hat der baden-württembergische AfD-Politiker Wolfgang Gedeon die politische Bedeutung des rechtsextremistischen Terrors in Deutschland relativiert:

„Aber wenn wir die Sache politisch sehen, dann müssen wir ganz klar sagen: Im Vergleich zum islamistischen Terror und auch im Vergleich zum linksextremistischen Terror ist politisch gesehen in Deutschland der rechtsextremistische Terror ein Vogelschiss.“

Da hat wohl jemand die falsche Brille auf.


Im Kontext

Wer sich darüber weiter informieren will, dem sei das Buch von Liane Bednarz empfohlen, das gerade bei der Bundeszentrale für politische Bildung als preiswerter Nachdruck erschienen ist:

Bednarz, Liane (2019): Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 10312).


Selbsternannte Generalisten. Oder: Und ich beschloss Historiker zu werden

Wir leben in einer Zeit, in der nahezu jeden Tag im Fernsehen so genannte Experten vorgestellt werden, die als Fachleute zu allem oder nichts etwas zu sagen haben – ohne dass ersichtlich würde, worin denn ihre Expertise eigentlich bestünde. Da kann dann jemand zehn Semester Geschichte studiert haben und stellt sich mit breiter Brust vor die Kamera und sagt: als Historiker würde ich dazu sagen ... Und dabei muss er nicht einmal ein Spezialist für den entsprechenden Abschnitt der Geschichte sein, nicht einmal das Teilgebiet, um das es konkret geht, als Studienfach belegt haben, es reicht der Hinweis: ich bin Historiker. Und dann äußert man sich zu Ufos, zu Päpsten, zur Apokalypse, zur Klimakatastrophe, zum Islam und was auch immer sonst einem vor die Nase kommt. Man ist ja Historiker und geschichtlich ist ja fast alles. Als Historiker ist man Universalgelehrter, man muss sich dem Phänomen nur zuwenden. Man hat zwar von wenig eine Ahnung, darf aber ‚als Historiker‘ zu allem etwas sagen. Und da ist einem keine Pathosformel, keine Überzeichnung zu schade.

In einem Gastkommentar der reaktionären Polit-Plattform kath.net hat ein „Historiker“ sich zunächst zum Rechtspopulismus und zum Islam, dann zum Etikett „Islamkritiker“ geäußert.

Kaum kritisierte ich Schönfärberei und Geschichtsklitterung in einer Arbeitshilfe der DBK zum Thema Rechtspopulismus, schon bekam ich ein Etikett angeheftet. Ich sei also auch ein „Islamkritiker“, hieß es. Bin ich das? Schlagworte wie dieses sind der erste Schritt zur Marginalisierung.

Nein, das ist nicht der erste Schritt zur Marginalisierung. Deutschland ist eines der freiesten Länder dieser Erde, man kann hier beinahe alles sagen, ohne irgendwelche Folgen fürchten zu müssen. Wer angesichts der sich häufenden Fälle von Missbrauch in seiner Erregung die katholische Kirche als „Kinderfickersekte“ bezeichnet, bekommt von unserer Gesellschaft das Recht dazu eingeräumt. Wer im Gegenzug muslimische Potentaten satirisch als „Ziegenficker“ bezeichnet, wird vielleicht ermahnt, bekommt es aber nicht verboten. Das ist Meinungsfreiheit.

Nein, Tatsache ist, wer heute als Islamkritiker bekannt ist, wird in Talkshows und vor Fernsehkameras eingeladen und bekommt Platz auf hetzerischen Plattformen, die um noch kritischere und schärfere Worte betteln. Man ist plötzlich ‚in‘ in einer Zeit, die sich dem Denken von Pegida in erschreckendem Maße angenähert hat.

Aber unser Islamkritiker sieht das nicht so, er sieht sich schon im Konzentrationslager, eingesperrt vom Mainstream:

Sie wollen sagen: „Mit dem brauche ich mich gar nicht mehr ausein­anderzusetzen, der ist ohnehin pfui!“ Und genau mit solchen Etikettierungen arbeiten auch totalitäre Systeme. „Konterrevolutionär!“ hieß es im Kommunismus. Im Nationalsozialismus mussten Juden den gelben Davidstern tragen, damit man sofort wusste: Da ist er, der Erzfeind. Gebt ihm keine Chance, sich als ganz normaler Mitbürger zu erweisen.

Dass er sich nicht schämt! Keinem Islamkritiker und auch nicht einem Islamophoben droht in Deutschland etwas dem Judenstern Analoges. So etwas auch nur anzudeuten, ist einfach infam gegenüber all den Millionen Opfern und all den überlebenden gepeinigten Juden, die einst den Davidstern tragen mussten. Ich kann nicht verstehen, dass jemand in solchen Kategorien denkt.

Unser Kommentator fährt nun fort:

Dabei ist Apokalypse, ja sogar Panikmache anderswo gerade angesagt. Uns wird ein Schreckensszenario präsentiert von dem, was in 30, 40 Jahren sein würde: Tropische Hitze in Deutschland, geschmolzene Gletscher und Eisdecken, erhöhter Meeresspiegel, „Land unter“ in Hamburg, Amsterdam und Manhattan. Da haben Schwarzseher Hochkonjunktur.

Interessant ist, dass unser Möchtegern-Kritiker keine Ahnung zu haben scheint, was „Apokalypse“ bedeutet. Obwohl er doch Historiker ist und es deshalb eigentlich wissen müsste. Selbst mein Word-Programm ist da schlauer. Wenn ich es um ein Synonym für „Apokalypse“ bitte, dann schlägt es zunächst die Übersetzung „Enthüllung“ vor, dann den sich aus der Lektüre des letzten Buches der Bibel ableitenden allgemeinen Gebrauch „Grauen“ und „Untergang“ und schließlich zusammenfassend „Offenbarung des Weltuntergangs“ vor. Der „Historiker“ hätte natürlich auch in der Wikipedia – dem Standardwerk populärkultureller Historiker – nachschlagen können:

griechisch ἀποκάλυψις „Enthüllung“, wörtlich „Entschleierung“ vom griechischen καλύπτειν „verschleiern“, im Christentum übersetzt als „Offenbarung“.

Apokalypse heißt: gegen alle verschleiernden Kräfte ansagen, was ist. Das wissen Christen genau. Und nichts Anderes machen die Klima-Aktivisten.

Und weiterhin zeigt sich, unser Gastkommentator liebt den teuflischen Vergleich, das rhetorische Spiel mit dem Nationalsozialismus:

Wendet man als Historiker ein, dass sich solche Wärmezyklen alle tausend Jahre wiederholen und Folgen der Sonnenaktivität ist, wird man schnell als „Klimaleugner“ abgestempelt, was ganz nah an „Auschwitzleugner“ herankommt und mittlerweile eine ähnliche gesellschaftliche Ächtung bedeutet.

Ja natürlich, „Klimaleugner“ kommt ganz nah an „Auschwitzleugner“ heran und bedeutet eine ähnliche gesellschaftliche Ächtung. Nur um es klarzustellen:

Mit Geld- oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren wird bestraft, „wer eine unter der Herrschaft des Nationalsozialismus begangene Handlung“, womit Völkermord gemeint ist, „in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, öffentlich oder in einer Versammlung billigt, leugnet oder verharmlost“.

Nichts dergleichen gilt für die Diskussion um den Klimawandel. Überspannte Menschen können gegen 97% aller Fachwissenschaftler in der Welt behaupten, es gäbe keinen menschengemachten Klimawandel und es passiert ihnen: nichts. Sie müssen es ja auch nicht ausbaden, das müssen erst ihre Enkel und Urenkel und vor allem Bewohner anderer Teile dieser Erde.

Was mich schon überrascht ist dieses um Respekt heischende „wendet man als Historiker ein“. Als Historiker? Historiker für was, fragt man sich da doch? Ich bin ausgebildeter Theologe, aber damit doch nicht zwingend Fachmann für Exegese oder Dogmatik, sondern nur für einen kleinen Teilbereich der Praktischen Theologie. Selbst wenn man irgendwann einmal ein Fach studiert hat, dann differenzieren sich die Forschungsgebiete heute so auf, dass man nur auf einem sehr kleinen Gebiet sich Experte nennen kann, aber dann ist auch schon Ende der Fahnenstange.

Was gar nicht geht und an Scharlatanerie grenzt, ist, wenn man bloß Geschichte studiert hat und meint, man könne nun ‚als Historiker‘ sowohl zur Ufologie, zum Papsttum, zum Islam oder zum Klimawandel sich als Experte ausgeben. Natürlich kann jeder zu allem seine Meinung verbreiten, er soll nur nicht so tun, als verstünde er etwas davon.

In der Wissenschaft gibt es simple Standards – da geht es um Fachwissenschaften, Forschungen und Publikationen in Fachzeitschriften mit Peer Reviews. Nichts davon kann unser „Historiker“ in Sachen Klimawandel vorweisen. Damit hat er noch nicht gleich Unrecht, aber er sollte doch wenigstens gute Argumente vorbringen. Aber leider muss sich der selbsternannte Fachmann für Klimageschichte – eine Disziplin, die er vermutlich nie studiert hat, obwohl es eine spezifische Fachrichtung ist – vorhalten lassen, dass er tatsächlich Unsinn verbreitet und dies nun schon seit Jahren jedem mit Vernunft und Verstand begabten Menschen einsichtig ist. Er kann in Fachzeitschriften wie Science seit Jahrzehnten nachlesen, warum sein Hinweis, es habe schon immer periodische Erderwärmungen gegeben, als Argument populär gesprochen Bullshit ist. Selbst Rezo ist da um Jahrzehnte in der Erkenntnis weiter und der behauptet nicht, Experte zu sein. Aber es würde reichen, einige Aufsätze aus der peer-review-gestützten Science zu lesen. Auch wenn kath.net Leser das vielleicht nicht wissen, Science und Nature gehören zu jenen Fachperiodika, in denen weltweit seriöse Wissenschaftler seit weit über 100 Jahren ihre Erkenntnisse austauschen.

In der Wikipedia hat jemand die Erkenntnisse der einschlägigen Fachperiodika und der Nobelpreisträger der letzten Jahrzehnte bündig zusammengefasst:

Die Erwärmung beschleunigt sich: Die über die Jahre 1956 bis 2005 berechnete Anstiegsrate ist mit (0,13 ± 0,03) °C pro Jahrzehnt fast doppelt so groß wie die über die Jahre 1906 bis 2005. Sie verläuft auch erheblich schneller als alle bekannten Erwärmungsphasen der Erdneuzeit, also seit 66 Millionen Jahren. So erwärmt sich die Erde beim Übergang von einer Eiszeit in eine Zwischeneiszeit binnen ca. 10.000 Jahren etwa um 4 bis 5 °C. Bei der menschengemachten globalen Erwärmung wird jedoch erwartet, dass die Temperatur vom Ende des 20. bis Ende des 21. Jahrhunderts um 4 bis 5 °C steigt; die Erwärmungsgeschwindigkeit wäre also etwa 100-mal größer als bei historischen natürlichen Klimaveränderungen.

Und alle diese Werte werden mit Aufsätzen aus Science bzw. Nature und mit Forschungsberichten belegt [Link 1] [Link 2].

Und auch der Hinweis auf die Sonnenaktivität ist simpel gesagt Blödsinn, denn in den letzten Jahren geht die Sonnenaktivität eher zurück. Es gibt keinen Zusammenhang zwischen aktueller Erderwärmung und Sonnenaktivitäten:

Aber unser ‚Historiker‘ weiß es besser:

Auch renommierte Wissenschaftler, die den Klima-Hype nicht mitmachen, werden einfach nicht angehört. Jetzt sollen die Steuern erhöht werden, um das Klima zu retten, was natürlich der allergrößte Unfug ist, denn am allerwenigsten lässt sich mit Steuergeldern das Klima beeinflussen.

Vielleicht sollte er wenigstens einen einzigen anerkannten Wissenschaftler benennen, der eine evaluierte und wissenschaftlich anerkannte, also peer review gestützte Studie vorgelegt hat. Wie gesagt: es besteht in dieser Frage ein Common Sense unter Fachwissenschaftlern und so etwas ist extrem selten.

Dass Steuererhöhungen zur Steuerung des Verhaltens durchaus geeignet sind, dürfte eigentlich kaum kontrovers sein. Damit kann die ja eigentlich bereits eingetretene Klimakatastrophe nicht abgewendet werden, aber jeder Schritt ist wichtig. Man kann nicht sagen: ich kann das Klima ja nicht alleine retten, darum versuche ich es erst gar nicht.

Dass er nicht einmal an seine eigenen Sätze glaubt, wird nun aus einem Satz deutlich, mit dem der Autor von der Klimakritik zur Islamkritik überleitet, also vom Klimahistoriker zum Islamhistoriker wird:

Doch wenn es um den Islam geht, hat Kassandra plötzlich Hausverbot.

Wie kann ein gebildeter Mensch, nachdem er gerade noch gegen die Mahner des Klimawandels gehetzt hat, so etwas schreiben ohne schamrot zu werden? Denn wir wissen doch alle: Kassandra (als Sinnbild der ProphetInnen des Klimawandels) stand immer auf der Seite der Wahrheit, aber weil sie verflucht war (d.h. weil sie den Verführungskünsten des Kapitalismus nicht nachgegeben hatte) schenkte niemand ihren Prophezeiungen Glauben (wie die Klimaleugner). Aber Recht hatte sie, wie die griechische Mythologie hervorhebt (ebenso wie die Vertreter des Klimawandels). Wenn die Apokalyptiker des Klimawandels also mit der Prophetin Kassandra zu vergleichen sind, müssten wir dann nicht sofort handeln? Aber wer nimmt schon religiöse Erzählungen ernst? Unser Gastkommentator sicher nicht.


Fake-News

Ich weiß nicht, ob es im Ostwestfälischen ein Ausbildungszentrum für Fake-News-Produzenten und journalistischen Unsinn gibt. Falls ja, könnte Peter Winnemöller sicher dort als Dozent arbeiten. Jedes Mal, wenn man einen seiner Beiträge liest, fragt man sich ob er wirklich so unbedarft oder wirklich so dreist ist. Zum wiederholten Male geht es um die Interpretation der Kirchenstatistik. Das ist ja für jeden, der gerne ideologisch argumentiert, ein gefundenes Fressen. Seht mal, mit der Kirche geht es bergab – und das liegt natürlich an ... und hier folgen dann in willkürlicher Weise irgendwelche Ereignisse, Institutionen oder Personen. Und selbstverständlich, ohne irgendeinen Beleg dafür zu liefern. Man darf frei fantasieren: Es kann der sexuelle Missbrauch sein, aber auch die zu offensive Meldung des sexuellen Missbrauchs; es kann der Religionsunterricht sein oder der Öffnungsprozess zu Diskussionen.

Ja, es kann alles sein und das Schöne daran ist, dass man es einfach nur zu behaupten braucht, denn Nachweise verlangen die Leserinnen und Leser nicht. Da kann selbst ein Ereignis, dass nach(!) den statistischen Erhebungen stattgefunden hat, noch für deren Ergebnisse verantwortlich sein. Das ist schon nicht mehr verschwörungstheoretisch, sondern wirklich böse. Es muss an der Leserschaft liegen, dass das funktioniert. Winnemöller wirft nun der Bischofskonferenz vor, absichtlich die statistischen Daten im Sommerloch veröffentlicht zu haben.

Denken Sie bitte nur einmal kurz über diesen Vorwurf nach. Was ist Ihres Erachtens der konkrete Inhalt des Vorwurfs? Wollte die DBK besonders viel oder besonders wenig Aufmerksamkeit für ihre Meldung? Was meinen Sie? Richtig, im Sommerloch bekommt man für Meldungen mehr(!) Aufmerksamkeit als üblich.

Die Rede vom Sommerloch besagt ja, dass in nachrichtenarmen Zeiten jede noch so absurde Meldung gesteigerte(!) Aufmerksamkeit bekommt. Dass heißt, gerade in nachrichtenarmen Zeiten (= Sommerloch) wird der DBK/EKD-Meldung besonders viel Aufmerksamkeit zuteil. Winnemöller macht daraus das pure Gegenteil. Im Sommerloch bekäme die DBK/EKD-Meldung weniger Aufmerksamkeit. Das ist Unsinn. Irgendwo habe ich gelesen, Winnemöller sei Journalist. Dann sollte er doch über die Wirkungsweise des Sommerlochs Bescheid wissen.

Aber auch der Vorwurf, DBK und EKD hätten bewusst das Datum der Veröffentlichung gewählt, machte nur dann Sinn, wenn die erhobenen Daten schon im April oder Mai vorgelegen hätten und auch aufbereitet gewesen wären, man (d.h. DBK und EKD) mit der Publikation aber bewusst bis Mitte Juli gewartet hätte. Das ist nachweisbar falsch. Und es ergäbe auch keinen Sinn, weil alle Daten dauerhaft auf den Seiten der beteiligten Institutionen abrufbar sind. Beide Institutionen haben Rubriken zur Kirchenstatistik.

Kommen wir von den formalen zu den inhaltlichen Behauptungen: Winnemöller schließt nun aus dem Umstand, dass im vergangenen Jahr besonders viele Katholiken ihrer Kirche den Rücken gekehrt haben, dass dies nur an den Missbrauchsfällen, und hier, das weiß er genau, am offensiven Umgang der Katholischen Kirche mit den Missbrauchsfällen gelegen habe.

Austritte ereignen sich nicht ad hoc. Die Entfremdung geht oft über Jahre. Irgendwann ist das Maß voll. Dann braucht es nur noch den konkreten Anlass: Die DBK hatte eine Studie zum sexuellen Missbrauch von Klerikern an - zumeist jungen - Menschen veröffentlicht. Nun haben 216.000 Katholiken gesagt: Jetzt nicht mehr mit mir. Das ist Fakt. Da gibt es kein Drumherum reden. Absurderweise war nicht der sexuelle Missbrauch selbst der Anlass, sondern die offensive Beschäftigung der Kirche damit. Das ist Fakt. Ob diese Art der Beschäftigung zielführend ist, darf und muss noch diskutiert werden.

Man möchte über den Inhalt des Gesagten gar nicht nachdenken, denn es ist eine perfide Argumentation. Seiner rhetorischen Verkleidung enthüllt heißt es ja schlicht, wenn die katholische Kirche die Missbräuche verschwiegen oder weniger thematisiert hätte, wären weniger Menschen ausgetreten. Da hat Winnemöller natürlich Recht und begeht zugleich ein Unrecht. Das Kartell des Schweigens bedingt mehr Opfer und wer eine Schweigekultur fördert, fördert zugleich die Kultur des Missbrauchs. Da muss man sich schon entscheiden, was einem wichtiger ist: das Leiden der Opfer oder die Mitgliedszahlen der katholischen Kirche. Was den Opfern in ihrer Not so erscheint ("Die katholische Kirche halte ich für eine Lügenfabrik"), wird hier implizit gefordert: „Ob diese Art der Beschäftigung zielführend ist, darf und muss noch diskutiert werden.“

Man muss aber auch hier einmal nachfragen, ob es überhaupt stimmt, was hier behauptet wird. Denn wie sollen wir uns das Geschilderte vorstellen? Die Formulierung lautet konkret:

„Die DBK hatte eine Studie zum sexuellen Missbrauch von Klerikern an - zumeist jungen - Menschen veröffentlicht. Nun haben 216.000 Katholiken gesagt: Jetzt nicht mehr mit mir. Das ist Fakt.“

Eher ist es wohl eine dummdreiste Behauptung und keinesfalls ein Fakt. Die Studie, um die es hier geht, wurde am 24. September 2018 (!) fertiggestellt und veröffentlicht. Wollte man in irgendeiner Form seriös die Studie (und nicht den Missbrauch selbst) für die Austrittszahlen verantwortlich machen, dann müssten bis zum 1. Oktober etwa 140.000 Katholiken aus der katholischen Kirche ausgetreten sein (14.000 im Monat wie im Jahr zuvor) und in den restlichen drei Monaten 76.000 Katholiken (mehr als 25.000 pro Monat). Für diese Vermutung ergeben sich aus den vorgelegten statistischen Daten der Kirchen keinerlei Hinweise, sie ist rein spekulativ. Viel mehr spricht dafür, dass die bereits zuvor bekanntgewordenen Missbrauchsfälle ein Motiv für die abermals erhöhten Austrittszahlen waren.

Da die Veröffentlichung der Studie bundesweit geschah, wäre auch erklärungsbedürftig, warum 2018 im Bistum Münster nur 0,6% der Katholiken ausgetreten sind, im Bistum München-Freising aber 1,34%, also mehr als doppelt so viel? Reagieren Westfalen anders auf qualitative und quantitative Studien als Bayern? Oder haben die Austrittswilligen erst mal in die Statistik geschaut, inwieweit ihr Bistum überhaupt betroffen ist? Aber gab es im Bistum Münster so viel weniger Missbräuche (oder Berichte über solche) als im Bistum München-Freising? Garantiert nicht. Nun sind zugegebenermaßen auch in Münster die Austrittszahlen 2018 dramatisch gestiegen, aber eben auf niedrigem Niveau. Es könnte also mehr damit zu tun haben, wie etwa das Stadt-Land-Verhältnis eines Bistums aussieht.

Aber vielleicht liegt es auch an ganz anderen Faktoren – wie der fortschreitenden Urbanisierung, der Ent-Institutionalisierung der Gesellschaft, der Individualisierung usw. … also durch und durch gesellschaftlichen Gründen? Das müsste erforscht werden, bevor man steile Thesen in die Welt setzt.

Ich habe einmal die Entwicklung der 'Kunden'bindung (gemessen an Mitgliedern bzw. Verkaufszahlen) von vier gesellschaftlichen und wertebildenden Institutionen zwischen 1998 und 2018 zusammengestellt. Ausgewählt habe ich die FAZ, die CDU und die beiden großen Kirchen:

Was erkennt man daraus? Offensichtlich gibt es in den hier betrachteten 20 Jahren eine Institutionenkrise (noch schlimmer sichtbar beim DGB oder der FDP). Weder die FAZ noch die CDU hatten eine Missbrauchskrise, aber verloren haben sie ihre Kundenbindung (Mitgliederzahlen bzw. Käufer) in ungleich höherem Maße.

Und schon bricht die Argumentation von Winnemöller in sich zusammen. Es macht offenkundig wenig Sinn, einzelne Faktoren wie die Veröffentlichung einer Studie für gesamtgesellschaftliche Prozesse wie der Entfremdung von der Institution Kirche verantwortlich zu machen. Ja, vor allem der Missbrauch und zum Teil auch die mediale Diskussion darum haben die Austrittszahlen steigen lassen, sie beschleunigt. Nein, der Missbrauch und seine Diskussion sind nicht verantwortlich dafür, dass immer mehr Menschen den Institutionen den Rücken kehren, sie sind nur ein weiteres Motiv. Wer anderes behauptet, missinterpretiert die gesellschaftlichen Tendenzen bewusst, um sein eigenes ideologisches Süppchen zu kochen.


Hätte, könnte, möchte, sollte, dürfte, müsste

Beide schwarzen Kanäle, idea und kath.net, publizieren eine Meldung, die die Christdemokraten für das Leben (CDL) [gibt es eigentlich auch Christdemokraten gegen das Leben?] den konservativen Portalen zur Weiterverbreitung übermittelt haben.

Idea setzt das Ganze unter die Überschrift „Gezielte Abtreibungen: wo bleibt der Aufschrei der Feministinnen?“. Nun ist schon diese Überschrift etwas sinnfrei, denn eigentlich wirft man Feministinnen ja gerade vor, sich für die Freiheit zur Abtreibung einsetzen. Gemeint ist aber hier, dass es um die gezielte Abtreibung weiblicher Föten gehe, den so genannten Femizid. Und hier wünschen sich die sonst so lautstarken Abtreibungsgegner ausgerechnet Unterstützung von den Feministinnen, die sie sonst so vehement angehen und sie beleidigend als Verrückte einstufen: siehe etwa „Gender-Gaga“. Sei’s drum. Worum geht es?

Hintergrund ist eine Meldung aus Indien, der zufolge in den vergangenen drei Monaten in 132 untersuchten Dörfern des nordindischen Bundesstaates Uttarakhand kein Mädchen das Licht der Welt erblickte. Die 216 geborenen Kinder waren Medienberichten zufolge ausschließlich Jungen. Örtliche Behörden sprachen von alarmierenden und verdächtigen Zahlen und ermitteln nun, ob gezielt Mädchen abgetrieben wurden.

Hintergrund ist gut. Halten wir fest: Bei einer Untersuchung wurden 132 Dörfer festgestellt in denen innerhalb von drei Monaten nur Jungen und keine Mädchen geboren wurden. Das ist statistisch extrem unwahrscheinlich, so funktioniert die Natur ‚natürlich‘ nicht. Noch nicht geklärt ist, woran das liegt. Es gibt die starke Vermutung, dass weibliche Föten gezielt abgetrieben wurden, die Behörden haben das aber noch nicht abschließend geklärt. So lautet die simple Meldung.

Und was machen nun die Lebensschützer daraus? Man sei „schockiert über diese gezielte und buchstäblich über Leichen gehende Diskriminierung von Frauen in traditionell patriarchalen Kulturen“, sagte das CDL-Vorstandsmitglied Petra Lorleberg.

Da hat sie natürlich Recht, Frauenverachtung begegnet man in tradionell patriarchalischen Gesellschaften häufiger. Frauen seien missratene Männer, behauptete etwa der Kirchenlehrer Thomas von Aquin im 13. Jahrhundert, ein prominenter Vertreter einer dieser traditionell patriarchalischen Religionen. Religionswissenschaftlerinnen sagen uns: „Immer dann, wenn Religionen Institutionen gründen und große Organisationen bilden, sind Frauen von den Leitungsämtern und religiösen Führungspositionen ausgeschlossen.“ Man könnte etwa fragen, wann im Hinduismus (z.B. Indira Gandhi), Judentum (z.B. Golda Meir) und Christentum (z.B. Angela Merkel) Frauen in leitende Staatsämter gekommen sind. [1966 - 1969 - 2005]

Aber inwiefern gehen die Inder buchstäblich über Leichen? In der Meldung sind keine Leichen erwähnt, geschweige denn wird irgendetwas positiv festgestellt, sondern es wird nur eine Ermittlungstendenz vorgestellt. Man weiß bisher nicht, ob in Indien geschlechtsspezifisch abgetrieben wurde. Die CDL schlussfolgern aus diesem Nicht-Befund: man müsse auch gegen geschlechtsspezifische Abtreibungen in Deutschland vorgehen.

Nun ist das Vorgehen gegen Geschlechterdiskriminierung weder spezifisch eine Aufgabe von Feministinnen noch für Lebensschützern, sondern von allen Menschen weltweit. Es geht darum für Verhältnisse zu sorgen, in denen Eltern sich über das Geschlecht ihres künftigen Kindes keine Gedanken mehr machen müssen. Nicht die Abtreibung ist das Problem, sondern gesellschaftliche Verhältnisse, die Jungen als Nachkommen wichtiger und wertvoller erscheinen lassen als Mädchen. Insofern ist die scheinbare Anklage gegen Feministinnen Unsinn, weil sie die Gruppe der Anzusprechenden künstlich verkleinert. De facto, so vermute ich mal, ist den CDL das Schicksal der Mädchen in Indien völlig egal. Sie wollen den Feministinnen wider besseres Wissen unterstellen, sie kümmerten sich nicht um das Schicksal von Frauen. Sie wollen Lug und Trug verbreiten.

Es wäre nebenbei bemerkt, auch gut gewesen, wenn die CDL die gesamte Nachricht verbreitet hätte und nicht nur selektiv einige Daten herausgegriffen hätte. Dabei ist die Quellenlage nicht einfach. CDL spricht von 132 Dörfer ohne Mädchengeburt in drei Monaten, India Today von 16 Dörfern ohne Mädchengeburt in sechs Monaten. In den sechzehn Dörfern seien in dieser Zeit 65 Jungen geboren worden.

Bei Al-Jazeera, die mit den Behörden vor Ort telefoniert haben, finden sich andere Daten. Danach umfasste die vorgenommene Erhebung 500 Dörfer mit insgesamt 947 neu geborenen Kindern. Wenn man die (Propaganda-)Meldung von CDL gelesen hat, müsste man annehmen, dass dies vor allem Jungen sind. Die Wirklichkeit sieht anders aus: es gab 479 Mädchen und 468 Jungen in Uttarakhand. Es muss also auch Gegenden mit einem deutlichen Mädchenüberschuss gegeben haben. Auffällig war in diesem statistischen Rahmen nur, dass einige Dörfer gar keine Mädchen gemeldet hatten. Und die Behörden, die die Daten der Öffentlichkeit vorstellten, bemerkten dazu gegenüber dem arabischen Sender: "As of now, we cannot confirm whether any female foeticide had happened in these villages." Es waren dann Feministinnen und Frauenrechtlerinnen, die die vorgelegten Zahlen kritisch bewerteten: "This is completely unheard of that for three months, no girl child was born in so many villages," sagte die Aktivistin Nivedita Menon. "There must have been some process by which sex determination was done illegally and abortions were carried out." Gut, dass es Feministinnen vor Ort gibt.


Symbolbilder

Man kann auf dem Internetauftritt von Al-Jezeera die Bilder von den Aktivistinnen vor Ort gut verfolgen. Immerhin: Al-Jezeera zeigt als Bilder eben auch Fotos von indischen Frauenrechtlerinnen.

Das ist bei Idea anders. Sie wählen ein auf pixabay.com gefundenes Symbolbild, das im Netz ganz gut zu diversen Anlässen zu finden ist: zu arbeitenden Frauen, zu Mikro-Krediten usw. aber niemals zu Abtreibungen und schon gar nicht zum Femizid. Damit hat es aber auch so etwas von gar nichts zu tun. Es zeigt Inderinnen bei der Ernte.

Für den korrekten Einsatz von Bildern bietet Pixabay Stichwörter bei den einzelnen Bildern an. Und was fällt auf? Es handelt sich um ein Symbolbild aus der östlichen Provinz Odisha am Golf von Bengalen. Die Untersuchung war aber eine, die die nördliche Provinz Uttarakhand an der Grenze zu Tibet betraf. Dazwischen liegen 1.800 Kilometer. Das ist die Strecke von Kiel nach Rom. Was wohl die Römer dazu sagen würden, wenn man die Nachrichten über sie mit Bildern aus Kiel garnieren würde – rein symbolisch? Ist doch alles Europa. Auf der Wikipedia gibt es eine eigene Bilderkategorie zum Thema „Women of Uttarakhand“. Ist es zu viel verlangt, daraus passende Symbolbilder auszuwählen? Oder als Nachrichtenagentur gleich Fotos von den protestierenden Frauen von Uttarakhand zu wählen?

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/120/am673.htm
© Andreas Mertin, 2019