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PanameEin theologisches Feuilleton über Paris, zugleich Überlegungen zu einer Theologie des Flaneurs - Teil IIWolfgang Vögele GliederungTeil II: 13. Musée d’Orsay - 14. Parc des Buttes-Chaumont 15. Philharmonie de Paris 16. Père Lachaise 17. La Défense 18. Flaneur und Tourist 19. Saint-Germain-des-Prés 20. Hôtel de Cluny 21. Palais de Tokyo 22. Institut du monde arabe 23. Panthéon 24. Galeries Lafayette 25. Banlieue 13. Musée d’Orsay
Aus Calassos zu Unrecht wenig beachtetem Buch lässt sich lernen, wie sich bei diesen Reaktionen der Kunst auf die technischen Entwicklungen von Industrialisierung Kunst, Philosophie und Literatur (Baudelaire![5]) miteinander verknüpften: Sie traten ein in einen wechselseitigen Dialog. Aus der Sehnsucht nach Bildern und Fotografien entwickelte sich eine neue stumpfe und skeptische Metaphysik, die sich mit dem zufrieden gab, was vor Augen lag. Das aber können die impressionistischen Maler nicht gewollt haben: In ihrer Faszination für das Flüchtige, Atmosphärische, Momenthafte liegt noch ein Moment von Religion oder mindestens von Schleiermachers religiösem Gefühl, das sämtliche Spielarten des schnöden Empirismus und des vulgären Materialismus, die als Enkelkinder diese alte Debatte beerbt haben, unterläuft. 14. Parc des Buttes-Chaumont
Selten habe ich einen Park erlebt, der seine Besucher die Großstadt darum herum so sehr vergessen lässt. Karlsruhe, wo ich lebe, ist bestimmt vom Gegensatz zwischen der Fußgängerzone mit vielen Geschäften und Baustellen und dem Park, der sich hinter Schloss ausbreitet, das wie ein Puffer zwischen beidem fungiert.
Der Park überzeugt durch seine Selbstverständlichkeit und Unaufdringlichkeit. An diesem Pariser Ort drängt sich keine Sehenswürdigkeit auf, die man unbedingt gesehen haben muss. Und er bietet als gestaltete Natur einen Kontrast zu derjenigen Stadtlandschaft, die im Übermaß von Beton, Sandstein und Asphalt jeden Gedanken an alles nicht Gestaltete, nicht Geplante, nicht Produzierte vergessen lässt. Auf andere Weise leisten das nur noch die Pariser Friedhöfe. 15. Philharmonie de ParisWer von der Gare de l’Est in nordöstlicher Richtung geht, der findet ab der Métrostation Stalingrad eine ganz andere Stadt vor. Von dort läuft der Canal St. Martin in nordwestlicher Richtung, und die französische Metropole erinnert mit Wasserläufen, Kanälen und Brücken plötzlich an Amsterdam. Wer weiter geht und die Richtung beibehält (oder doch die Métro nimmt), kommt zum Parc de la Villette. Auch dieses Stadtviertel wäre eine eigene Betrachtung wert, aber mich interessiert die neu erbaute Philharmonie, die unmittelbar am Boulevard Périphérique eingerichtet wurde. Das silbrige, von vogelartigen Arabesken überzogene fensterlose Gebäude erklärt sich aus dem Wunsch ähnlich der Elbphilharmonie in Hamburg ein großen neuen Konzertsaal mit hervorragender Akustik zu besitzen, der aber bewusst nicht im Zentrum in der Nähe aller anderen bedeutenden Kulturinstitutionen, sondern an der Grenze zu den Banlieues errichtet werden sollte. Architekt war der französische Star- und Nationalarchitekt Jean Nouvel, der auch andere Pariser Gebäude von nationaler Bedeutung, zum Beispiel das Musée du Quai Branly oder das Institut du monde arabe[6] plante.
Im Vergleich zur aufgeführten Musik mag man das für eine Petitesse halten, aber mir scheint hier doch eine gewisse unbedachte Schnoddrigkeit am Werk. Eine Architektur, die sich durch Unnahbarkeit auszeichnet, ein Innenraum, in dem die Besucher mit Ausnahme der Dauer der Aufführung gänzlich gleichgültig sind, das ergibt im Resultat eine dem Gebäude inhärente Anstrengung, Konzertbesuche eher zu verhindern als zu ermöglichen.
16. Père Lachaise
Aber am bewegendsten fand ich den Besuch auf dem Friedhof Père Lachaise[8], außerhalb des Zentrums im Osten der Stadt. Unbedingt wollte ich das Grab von Marcel Proust sehen, das ich nach einigem Suchen auch entdeckte. Wie der Parc des Buttes-Chaumont liegt der Friedhof an einem Hügel, der allerdings nicht so hoch ansteigt wie der Hügel im Park. Schon am Eingang überwältigt die schiere Größe des Areals. Wenn der Ausdruck der Nekropole, der Totenstadt einen Sinn macht, dann hier. Auf Proust Grab, einer doppelstufigen polierten Steinplatte, lagen Rosen, Blumensträuße. Die Topfpflanze, die jemand auf den Stein gestellt hatte, hat der Schriftsteller auch im Sarg nicht verdient. Französische Gräber werden sehr viel seltener bepflanzt, weil man sich in der Regel für Platten bis zu kleinen Häuschen oder Kapellen entscheidet.
17. La Défense
18. Flaneur und Tourist
Ich will diese Unterscheidung nun so weiterführen, dass ich sie auf die Erfahrung der Großstadt anwende, zumal einer konzentrierten, komplexen Metropole wie Paris. Was intendiert ist, wird schnell deutlich, wenn man die Erfahrung und Wahrnehmung einer Großstadt mit anderen Erfahrungen und Wahrnehmungen vergleicht, mit der Erfahrung von Natur, von Landschaft, von idyllischen Dörfern. Insofern sind der Flaneur und der Tourist mit dem Wanderer zu vergleichen. Glaubt man den Analysen von Geert Mak[12], der so eindrucksvoll über die Veränderungen friesischer Dörfer in der Moderne geschrieben hat, so sind dörfliche Welten durch ihre Überschaubarkeit und Begrenztheit gekennzeichnet. Der Wanderer hat im kleinen Dorf schnell alles gesehen, was allerdings auch täuschen kann. Auch der begrenzte und befristete Blick auf das kleine Dorf kann durch Oberflächlichkeit charakterisiert sein. Was die Großstadterfahrung, gerade im Fall von Paris (oder anderen Metropolen wie London oder New York) von der Dorferfahrung unterscheidet, ist die Überfülle der Möglichkeiten, Beobachtungen und Wahrnehmungen zu machen. Der Tourist kann nicht alle Sehenswürdigkeiten besichtigen, und schon der Ausdruck Sehenswürdigkeit suggeriert, dass hier jemand eine Auswahl dessen getroffen hat, was in einer Stadt besichtigt werden könnte. Der Flaneur muss angesichts der überfordernden Fülle dessen, was er zufällig sehen könnte, eine Auswahl treffen.
Ähnlich wie der Radprofi am Berg blitzschnell den Spurt anzieht, steigert der Flaneur am Interessanten seine Aufmerksamkeit und richtet sie auf ein bestimmtes wie auch immer geartetes urbanes Phänomen. Und wie kein Radprofi die ganze Zeit spurten kann, sondern sich gelegentlich im Windschatten seiner Mitfahrer aufhalten wird, so ist Aufmerksamkeit ein knappes Gut, mit dem Flaneur sorgfältig umgeht.
19. Saint-Germain-des-PrésIn Stierles Sicht ist der Flaneur ein Intellektueller, denn die Erfahrungen seiner Spaziergänge, Promenaden verarbeitet er durch Reflexion, Deutung und Interpretation. Für das Intellektuelle steht in Paris neben dem Universitätsviertel, dem Quartier Latin, insbesondere Saint-Germain-des-Prés, auf dem linken Seine-Ufer, der rive gauche. Saint-Germain-des-Prés ist der Name sowohl einer alten Abteikirche als auch eines Stadtviertels wie auch einer Atmosphäre intellektuellen Aufbruchs, der das Paris der fünfziger Jahre kennzeichnete. Wenn dieser Aufbruch einen Ort hatte, dann waren es die Cafés, Redaktionsräume, Verlagsbüros, die in diesem Viertel ihren Standort hatten und haben. An den Bistrotischen des „Deux Magots“ und des „Flore“ saßen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir mit ihren Freunden und diskutierten, wenn sie nicht gerade zerstritten waren, ihre existentialistischen Thesen mit Albert Camus oder Maurice Merleau-Ponty bei einem Glas Wein, bei unzähligen Gauloises und zum Klang der Jazzmusik, die der amerikanische Trompeter Miles Davis spielte. Der Aufbruch der Intellektuellen nach dem Krieg ist selbst zum Mythos geworden, über den die Beteiligten selbst und viele Kulturhistoriker und Journalisten geschrieben haben[16]. Abseits von diesen philosophischen Debatten gilt, dass auch Künstler und Künstlergruppen zu solchen intellektuellen Gesprächsrunden zusammenfanden und sich so in ihren jeweiligen Werken gegenseitig inspirierten.[17] Die beiden genannten Cafés kann man heute noch besuchen, aber sie repräsentieren nicht die gegenwärtigen intellektuellen Debatten, sondern nur noch die nostalgische Erinnerung an die intellektuelle Atmosphäre der fünfziger und sechziger Jahre. Die intellektuellen Debatten, die damit verbundenen Habitusformen, haben im heute aktuellen Stadtbild keinen sichtbaren Niederschlag mehr. In dieser Hinsicht haben Architekten, Museumskuratoren und Maler mit ihren manifesten Werken einen Vorteil vor Schriftstellern und Journalisten.
Das von Sarah Bakewell so genannte „Café der Existenzialisten“ gehört als Kulturform der Vergangenheit an. Zwar existieren noch die berühmten Cafés in diesem Stadtviertel, aber schon die Preise zielen auf Touristen, nicht mehr auf mittellose Intellektuelle, die ihren täglichen Espresso anschreiben lassen müssen. Die Kulturform des Debatten-Cafés war an bestimmte Voraussetzungen und gleichzeitige Entwicklungen gebunden: Kulturzeitschriften wie „Les Temps modernes“, eine bestimmte polarisierende parteipolitische Konstellation unter Beteiligung von Kommunisten und Sozialisten, der Wunsch nach Rebellion, die Kritik des wohlgenährten bürgerlichen Lebens. All diese Voraussetzungen sind weggefallen, und an ihre Stelle sind Hass-Mails in den sozialen Medien, Fernseh-Talkshows und der Niedergang der Buch- und Lesekultur[18] getreten, die allerdings in Frankreich Nischen gefunden hat, um zu überleben. Der Niedergang betrifft allerdings trotzdem nicht nur den längst aus der Mode geratenen Existentialismus, er betrifft das Intellektuelle an sich, und damit eine bestimmte Debatten-, Text- und Lesekultur sowie einen bestimmten Modus der Öffentlichkeit wie das Café, den Vortrag im Auditorium maximum, das Seminar (von Lacan, Foucault, Barthes), die Buchhandlung. Wer also durch Saint-Germain-de-Prés geht, der sieht nicht mehr viel von dem, wofür es einmal stand. Und es überkommen den Spaziergänger nostalgische Gefühle, die sich in diesem Fall leider nicht durch einen denkmalschützenden Historismus lösen lassen, weil sie ein Gegenwartsproblem berühren, für das eine eigene Lösung gefunden werden muss. Darüber ist aber jetzt nicht nachzudenken. Das Thema des Niedergangs intellektueller Kultur, auch in den Kirchen, würde einen eigenen Essay verdienen.[19] 20. Hôtel de Cluny
Zu seiner Bekanntheit hat beigetragen, dass der Dichter Rainer Maria Rilke in seinem Tagebuchroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“[21] über diese Wandteppiche geschrieben hat. Er bezeichnet sie als Kunstwerke, die „alles preisen und nichts preisgeben“. Staunen vermischt sich mit Anerkennung, und das Deuten der Werke sinkt nicht zu einer simplen Erklärung herunter. Rilkes Roman ist kein Paris-Reiseführer, sondern eine Meditation über Wahrnehmung. Bis auf die Beschreibung von Museumsbesuchen, Spaziergängen und Pariser Alltagsszenen enthält er keine ‚äußeren‘ Handlungen, sondern der Tagebuch schreibende Malte Laurids Brigge beschäftigt sich mit seiner inneren, psychologischen Welt. Insofern verbindet sich die Meditation über Wahrnehmung des Pariser Lebens mit Gedanken über die Familie, über die eigene Herkunft und die prägende Kraft, die Familie und Kindheit auf den schreibenden und reflektierenden Autor hatten. Die Paris-Erfahrung wird dabei zum Katalysator der Reflexion: „Ich bin in Paris, die es hören, freuen sich, die meisten beneiden mich. Sie haben recht. Es ist eine große Stadt, groß, voll merkwürdiger Versuchungen. Was mich betrifft, ich muss zugeben, dass ich ihnen in gewisser Beziehung erlegen bin. Ich glaube, es lässt sich nicht anders sagen. Ich bin diesen Versuchungen erlegen, und das hat gewisse Veränderungen zur Folge gehabt, wenn nicht in meinem Charakter, so doch in meiner Weltanschauung, jedenfalls in meinem Leben. Eine vollkommen andere Auffassung aller Dinge hat sich unter diesen Einflüssen in mir herangebildet, und es sind gewisse Unterschiede da, die mich von den Menschen mehr als alles Bisherige abtrennen. Eine veränderte Welt. Ein neues Leben voll neuer Bedeutungen. Ich habe es augenblicklich etwas schwer, weil alles zu neu ist. Ich bin Anfänger in meinen eigenen Verhältnissen.“[22] Die Reflexionen von Brigge kreisen bei Rilke auch um die Religion, deren Einheit er mit der Entwicklung der modernen Massenkultur, die er in den Pariser Straßen und Krankenhäusern beobachtet, in einem Zerfallsprozess begriffen sieht. „Ist es möglich, dass es Leute giebt, welche ‚Gott‘ sagen und meinen, das wäre etwas Gemeinsames?“[23] Rilke verbindet diese religiöse Melancholie später im Roman mit einer neuen Deutung des Gleichnisses vom verlorenen Sohn, aber diese Spur soll hier nicht weiter verfolgt werden. Wie die Flaneure, mit denen sich Karlheinz Stierle beschäftigt hat, gehört Rilke zu den Intellektuellen, die aus ihrer Paris-Erfahrung innere Konsequenzen ziehen. Und Rilke hat nicht nur Beobachtungen und Beschreibungen notiert, sondern in der Figur des Malte ein alter ego geschaffen, das im Ausgang von wenigen äußeren Beobachtungen (Spaziergänge, Museums- und Krankenhausbesuche) die Stadt im Spiegel der Veränderungen des eigenen Bewusstseins zu beschreiben sucht. Die äußere Beobachtung der Wirklichkeit tritt gegenüber der Veränderung des Inneren in den Hintergrund. Dieses intellektuelle Programm einer Wendung des Flanierens ins Innere besitzt seine eigene Radikalität - und seine eigenen Gefahren. Nicht umsonst besucht Rilkes Malte ausgerechnet das Hôtel de Cluny und greift sich die Tapisserien der Dame mit dem Einhorn heraus. Denn letztere verschließt sich einer plumpen Deutung, es bleibt stets der Rest eines Geheimnisses. Und Rilkes Tagebuchschreiber muss feststellen, dass sich auch das durch die Paris-Erfahrung angeregte und nervös gewordene eigene Innere plumpen Deutungen entzieht und sein psychologisches Geheimnis bewahrt. 21. Palais de TokyoEine Stadt braucht nicht nur Sehenswürdigkeiten und Museen, wo ausgestellt wird, was gesammelt wurde, sondern auch Museen, in denen ausgestellt wird, was im Moment an aktuellen Entwicklungen der künstlerischen und intellektuellen Szene favorisiert wird. Auch dafür gibt es in Paris mehr Beispiele als hier beschrieben werden können. Will man nicht auf das pompöse Grand Palais und das genauso pompöse Petit Palais, obwohl es das ‚petit‘ im Namen trägt, zurückgreifen, bietet sich als Beispiel dafür das Palais de Tokyo an, an der rive droite gelegen, entstanden aus den Anstrengungen für eine Weltausstellung in den dreißiger Jahren. Das Ufer der Seine steigt dort steil an, und man hat vom Museum aus einen schönen Blick hinüber auf die rive gauche, den Eiffelturm, die Museen dort und die Gebäude, die die politischen Institutionen beherbergen. Die Ausstellungen wechseln von Quartal zu Quartal, die Räume sind groß, hoch und hell. An das Museum sind eine Buchhandlung und ein Restaurant angeschlossen. An bestimmte Orte, nicht nur in Paris, schließt sich die Zuversicht an, dort stets etwas Neues, Überraschendes und Unerwartetes zu sehen. Das Palais de Tokyo gehört unbedingt zu diesen Museen in Paris. Ich war nach meinen Besuchen nie enttäuscht. Und das muss nicht unbedingt theologisch gedeutet werden. 22. Institut du monde arabe
Die Anschläge auf die Redaktion der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auch die Anschläge später im Jahr auf das Fußballstadion und den Bataclan-Saal haben Frankreich und genauso die Stadt Paris tiefgreifend verändert. Überall sind die Plakate zu sehen, die Anweisungen für den Fall von Terroranschlägen geben. Auf den Bahnhöfen und vor den berühmteren Sehenswürdigkeiten patrouillieren kleine Gruppen von Soldaten in Kampfmontur. In den Tagen nach dem Charlie Hebdo Attentat, als die Täter noch nicht gefasst waren, befand sich die Stadt im Aufruhr. Ich war selbst erschrocken, als ich am Samstag nach dem Attentat in einem Restaurant in der Nähe des Musée d’Orsay eigentlich die Rechnung bezahlen wollte, aber stattdessen ins Hinterzimmer gebeten wurde, weil es an der Fensterscheibe, wo ich saß, zu gefährlich war. Draußen vor dem Fenster rasten Polizeifahrzeuge mit Blaulicht vorbei und bewaffnete Polizisten verfolgten Menschen, die man nicht sah. Nach einer halben Stunde schloss der Patron die Eingangstür wieder auf, und die Gäste durften das Hinterzimmer verlassen. Ich ging dann spazieren, wollte mit der Métro zurück zum Hotel fahren, aber die Métro hielt irgendwann an einer Station an und fuhr nicht mehr weiter. Alle Fahrgäste mussten aussteigen, und ich lief die restliche Strecke zu Fuß zum Hotel. Am Tag des Charlie Hebdo-Attentats erschien Michel Houellebecqs Roman „Soumission“ (Unterwerfung)[26], ein Buch, in dem der Autor in einer Art realistischer Utopie Frankreich eine islamisch-arabische Zukunft vorhersagt, mit Universitäten, die von Saudi-Arabien gesponsort werden, mit einem muslimischen Staatspräsidenten, mit Bürgerkriegen, die von rechten identitären Bewegungen angezettelt werden. Der Protagonist, ein Romanist, zögert zunächst, er gönnt sich einen kleinen ‚Rückfall‘ in den Fundamentalismus, lebt in einem katholischen Kloster und lässt sich dann auf das Angebot des Universitätspräsidenten ein, eine Professur an der Sorbonne zu übernehmen, unter der Bedingung, dass er zum Islam übertritt. Für einen Theologen ist das Gespräch am spannendsten, das der muslimische Universitätspräsident mit dem Romanisten führt, um ihn zur Übernahme der Professur zu bewegen. Der Präsident argumentiert, der muslimische Gottesglaube mit seinem strikten Monotheismus sei viel rationaler und ‚einfacher‘ als die komplizierte und undurchsichtige christliche Trinitätslehre. Der Romanist findet das, trotz seiner Sympathie für Huysmans, für die katholische Eucharistie und für das christliche Abendmahl durchaus plausibel. Was ihn aber endgültig zum Übertritt bewegt, ist das verlockende Angebot muslimischer Polygamie. Um auf das Institut du monde arabe zurückzukommen, es ist ein Museum und ein Ort der Lehre und Forschung, keine Moschee, kein Gegenpart zur Kathedrale Notre-Dame, die ganz in der Nähe stromabwärts liegt. Der französisch-muslimische Dialog ist von Abgründen und Widersprüchen geprägt. Er gehört zu dieser Stadt wie Notre Dame. Man sollte erwähnen, dass es neben dem Institut für den Dialog mit der arabischen Welt im Stadtviertel Marais ein Museum gibt, Musée d’art et de l’histoire de Judaisme, das der französisch-jüdischen Geschichte gewidmet ist. In seinem Innenhof steht ein Denkmal für den Offizier Alfred Dreyfuss, dessen ungerechtfertigte Verurteilung wegen Spionage in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Affäre auslöste, die das damalige politische und militärische Frankreich in seinen Grundlagen erschütterte. 23. PanthéonWer Paris als Tourist oder Flaneur entdecken will, der entdeckt auch die Spuren der Religionen in der Stadt. Man würde allerdings der französischen Religionskultur nicht gerecht, wenn man nicht auch eine besonders französische Form der Abwendung von Religion mit einbeziehen würde. Die laicité in Frankreich speist sich aus den anti-klerikalen Antrieben der Revolution, als man einen eigenen Kalender einführte und die Kathedrale von Chartres kurzerhand zu einem Tempel für ein höchstes Wesen umfunktionierte, und aus dem soziologischen Positivismus des 19.Jahrhunderts. Laicité steht für die Trennung von Kirche und Staat, für eine strikte Position in der erwähnten Kopftuchdebatte, steht für das Fehlen von Religionsunterricht in der Schule und auch für eine vereinfachte Form des Ehevertrags (PACS = Pacte civil de solidarité), die neben die standesamtliche Ehe im eigentlichen Sinn und vor allem auch neben die katholische Ehe tritt. Laicité findet ihren Ausdruck in Verfassungsbestimmungen, Gesetzen, aber auch in der Alltagskultur. Religiös gesehen, sind zwei Beobachtungen bemerkenswert. Zum einen hat es auch die Kultur der laicité nicht vermocht, das, was man die katholische Grundierung französischer Kultur nennen könnte zu beseitigen. Aus der laicité entwickelte sich nur die Kultur, über Religion in Politik und öffentlichem Raum nicht offen zu reden.
Die Aufnahme in das Panthéon begründet sich nicht wie in Saint-Denis durch die Zugehörigkeit zu einer Königsdynastie wie den Capetingern oder den Bourbonen, sondern durch Leistung und Erfolg auf den Gebieten der französischen Politik, der französischen Wissenschaft oder der französischen Literatur. Zivilreligiös daran erscheint mehreres: Das Konzept der Grablege ist offensichtlich eine christliches, es entstand aus der Verknüpfung von Christentum, Adel und Monarchie, und die Vorbilder sind das erwähnte Saint Denis oder der Speyerer Dom als Grablege der Salier oder das Kloster Lorch als Grablege der Staufer. Das Panthéon war ursprünglich eine Kirche, aber es ist keine Kirche mehr, und entsprechend wird der Totenkult nicht mehr verknüpft mit Auferstehungshoffnung, Reliquienverehrung, Heiligsprechungen (siehe Ludwig der Heilige). An die Stelle der Vorstellungen von Reich Gottes und universaler Kirche tritt die (französische) Nation als übergeordnete Einheit. Der liturgische Ernstfall ist nicht mehr der Gottesdienst, sondern die Parade und die Beerdigung bzw. die Überführung sterblicher Überreste einer Person in das Panthéon, was Parade und Totengedenken miteinander verknüpft. Die im Panthéon zusammen gelegten Gräber stiften keine christliche Hoffnung auf die Ewigkeit, sondern prägen diese um in eine säkulare Hoffnung auf Zukunft, die aber nichtsdestotrotz nach dem Muster christlicher Theologie, Liturgie und Rituale gebildet ist. Die laizistische französische Zivilreligion, wie sie sich im Panthéon symbolisch zeigt, und der französische Patriotismus, wie er seinen Ausdruck findet in den Feiern, Paraden und Feuerwerken zum Quatorze Juillet, im Bestehen auf der französischen Sprache (Académie francaise), in Marseillaise, Tricolore und anderem mehr, gehen bruchlos, wenn auch nicht ununterscheidbar, ineinander über. Der Universalismus des Christentums, der durchaus wahrgenommen wird, kann da als Störenfried erscheinen. Die Debatten darüber machen sich aktuell daran fest, ob die Kathedrale Notre Dame als Symbol des (katholischen) Christentums oder als Symbol Frankreichs (patrimoine) zu sehen ist. Ein berühmter Franzose fehlt übrigens im Panthéon, er hat seine letzte Ruhestätte im Dôme des invalides gefunden: Napoleon Bonaparte. 24. Galeries Lafayette
Die Kuppel ist das bestimmende Element des Innenraums. Wie im Panthéon geht der Blick wie von selbst nach oben. Die nicht-religiöse Moderne übernimmt bestimmende, entscheidende Elemente religiöser Architektur. Mit dem Centre Pompidou und der Fondation Louis Vuitton[28] werden noch Gebäude begegnen, die mit dem Kopieren religiöser Elemente in der Architektur rigoros Schluss machen. Der Anspruch von Frank Gehrys Fondation Louis Vuitton besteht sogar darin, ein Gebäude zu präsentieren, das mit sämtlichen Formen konventioneller Architektur gebrochen hat. Damit allerdings handelt er sich andere Probleme ein. 25. BanlieueVon der Tour Montparnasse waren auch diejenigen Pariser Stadtviertel zu sehen, die nicht auf den Spazierwegen und Touren von Touristen und Flaneuren liegen, die Wohnvorstädte jenseits der Stadtautobahn, die früher einmal Stadtmauer war. Banlieues stehen für trostlose Hochhäuser, marode U-Bahnstationen, Einkaufszentren mit riesigen Parkplätzen, brennende Autos an Silvester und am Nationalfeiertag, auch für die Gelbwesten, die seit dem Frühjahr 2019 an den Samstagen dort demonstrieren und protestieren, wo sonst die Touristen Fotos mit dem Smartphone schießen. Die Stadt Paris ist vom Gegensatz zwischen Zentrum und Banlieue bestimmt, wie sie auf anderer, nationaler Ebene bestimmt ist vom Gegensatz zwischen Metropole und Provinz[29]. In den Banlieues, insbesondere nach den Attentaten auf Charlie Hebdo, stellt sich der Konflikt zwischen muslimischen und anderen Immigranten und dem weiter erstarkenden, populistischen Rassemblement National (früher: Front National) ganz anders dar als unmittelbar rechts und links der Seine. Der Journalist George Packer hat diese Konflikte so auf den Punkt gebracht: „For two or three decades, a soft multiculturalism has been the default politics of the governing left, while France’s silent majority, more and more culturally insecure, has moved rightward, and the banlieues have been allowed to rot. The National Front voter and the radicalized Muslim feel equally abandoned.” Und Packer zitiert den Politikwissenschaftler Laurent Bouvet: „If there is a common French identity, it’s not an identity of roots, it’s not a Christian identity, it’s not cathedrals, it’s not the white race. It’s a political project. (…) If we let the National Front define French identity, it’s going to be by race, by blood, by religion.”[30] Bouvet sagte diese Sätze vier Jahre vor dem Brand von Notre Dame. In den Banlieues stellt sich die Frage nach der Verknüpfung eines menschenrechtlichen Universalismus, der französischen Zivilreligion der laicité und der interkulturellen Anerkennungsverhältnisse zwischen den Religionen nochmals ganz neu. Und rechte Populisten hängen offensichtlich weiterhin einer Erneuerung der alten identitären Projekte an, in der immer noch ein zum Ultrakonservativen neigender französischer Katholizismus eine besondere Rolle spielt. Eine Schülerin des erwähnten Pierre Bourdieu, die Schriftstellerin Annie Ernaux[31] hat das Lebensgefühl in den Banlieues von Paris und in den Satellitenstädten des Pariser Großraums in autobiographischen Romanen auf den Punkt gebracht. Sie verfolgt das Projekt einer nicht-subjektiven Autobiographie, welche Milieus beschreiben und Lebensverhältnisse in der aktuellen Zeitgeschichte formulieren will. Ernaux stammt aus der Provinz, aus der Normandie, und erzählt die Geschichte eines sozialen Aufstiegs, vom unscheinbaren Mädchen in einem Dorf zur Schülerin in einem katholischen Mädcheninternet, von dort zur Grundschullehrerin, zur Studentin und dann zur Lehrerin an einem Gymnasium. Ernaux‘ Weg führt aus der Provinz über Umwege in das Umland von Paris, wo sie zuletzt als geschiedene Pensionärin lebt. Sie vermeidet in ihrer Erzählung das subjektive Ich der Autobiographin, die von sich selbst eingenommen ist. Ihr geht es darum, eine Entwicklung zu schildern, die von den fünfziger Jahren in die Gegenwart und für eine große Zahl von Franzosen typisch ist. Charakteristisch dafür ist der Wechsel von der Provinz ins Zentrum, das Profitieren von dem mittelständischen Wohlstand der siebziger und achtziger Jahre und zuletzt die Ambivalenzen von Konsum (Einkaufszentren) und familiärer Bindung (patchwork Familie, Scheidung). Ihr Roman ist geprägt von der Erfahrung, dass die Gewinn- und Verlustrechnung sozialen und geographischen Aufstiegs nicht richtig aufgeht. In den Banlieues sammeln sich neben den Immigranten diejenigen Franzosen, die an den Aufstiegsversprechungen in den Mittelstand halb oder ganz gescheitert sind. Ihr Buch beeindruckt durch den schonungslosen Blick auf sich selbst. Anmerkungen[1] S.u. Kapitel 29. [2] Marc Augé, Nicht-Orte, München 2014 (4.Aufl., französ. 1992). [3] S.o. Kapitel 3. [4] Roberto Calasso, Der Traum Baudelaires, München 2012, 22. [5] Als Bild der alten Zeit diente Baudelaire unter anderem die zerbrochene Glocke (la cloche felée). Unter diesem Titel publizierte er ein Gedicht in den „Fleurs du mal“. Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Sono Auribus Viventium. Theologie und Kultur des Glockenläutens in der Reformation und in der Moderne, Ästhetik Theologie Liturgik 68, Münster u.a. 2016, 192ff. [6] S.u. Kapitel 22 und 32. [7] Volker Hagedorn, Der Klang von Paris. Eine Reise in die musikalische Metropole des 19.Jahrhunderts, Reinbek 2019. [8] Eine Bilderserie zum Friedhof Père Lachaise findet sich in den folgenden Einträgen meines Blogs: [9] A.a.O., Anm. 28. [10] Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1982; ders. (Hg.), Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens in der Gesellschaft, Konstanz 1997. [11] S.o. Kapitel 2. [12] Geert Mak, Wie Gott verschwand aus Jorwed. Der Untergang des Dorfes in Europa, Berlin 1999 (niederländisch 1996). [13] Tadeusz Dabrowski, Eine Cloud voll Möglichkeiten längst hat sich die Großstadt den Weg in das Hirn des modernen Menschen gebahnt, NZZ 29.6.2019, https://www.nzz.ch/feuilleton/and-who-are-you-talking-to-laengst-hat-sich-die-grossstadt-den-weg-in-das-hirn-des-modernen-menschen-gebahnt-ld.1485354. [14] Bernd Noack, Der Flaneur hat kein Ziel, keinen bestimmten Ort, von dem er kommt, und keinen Punkt, zu dem er strebt. Er ist einsam, doch geht er immer weiter, NZZ 20.1.2019, https://www.nzz.ch/feuilleton/themen-des-flaneurs-sie-sind-von-unserer-zeit-ld.1451370. [15] Karlheinz Stierle, Pariser Prismen. Zeichen und Bilder der Stadt, München 2016, 13. [16] Vgl. dazu Sarah Bakewell, Das Café der Existenzialisten. Freiheit, Sein und Aprikosencocktails, München 2016; Agnès Poirier, An den Ufern der Seine. Die magischen Jahre von Paris 1940-1950, Stuttgart 2019 (engl. 2018) sowie die Rezension Wolfgang Vögele, Das Sein und der Klatsch, in diesem Heft. [17] Vgl. dazu zum Beispiel: James McAuley, The Artists and their Alley, in Post-War France, New York Times 22.9.2016, https://www.nytimes.com/2016/09/22/t-magazine/art/impasse-ronsin-artists-montparnasse-constantin-brancusi.html. [18] Vgl. dazu das Themenheft „Lesen“, Nr.119, 2019, dieser Zeitschrift: https://theomag.de/119/index.htm. [19] Für den Standort intellektueller theologischen Kultur in den Kirchen vgl. Wolfgang Vögele, Kirchenkritik. Beiträge zu Kirchentheorie, praktischer und ökumenischer Theologie, KirchenZukunft konkret 12, Münster u.a. 2019. [20] N.N., La Dame à la licorne, o.O. o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/La_Dame_%C3%A0_la_licorne. [21] Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge, Frankfurt/M. 2009 (1910), 96ff.. [22] A.a.O., 58. Hervorhebungen wv. [23] A.a.O., 23. [24] S.o. Kapitel 15; s.u. Kapitel 32. [25] Vgl. diese Fotos https://wolfgangvoegele.wordpress.com/2019/07/09/calanques-xxxiv/. [26] Michel Houellebecq, Unterwerfung, Köln 2015. Vgl. dazu die Rezension Wolfgang Vögele, ‚Fortan wäre ich Muslim‘. Über Michel Houellebecq, Unterwerfung, Religion unterrichten. Informationen für Religionslehrer_innen im Bistum Hildesheim, Nr. 2, 2016, 19-20, https://www.bistum-hildesheim.de/fileadmin/dateien/PDFs/Schule_intern_Service/Publikationen_und_weitere_Schriften/Religion_Unterrichten_2_2016__l.Hd.__16-07-22.pdf. [27] Vgl. zur Einführung und Kritik des Konzepts der Lieux mémoires Cornelia Siebeck, Erinnerungsorte, Lieux de Mémoire, Docupedia-Zeitgeschichte, 2.3.2017, http://docupedia.de/zg/Siebeck_erinnerungsorte_v1_de_2017?oldid=126408. [28] S.u. Kapitel 29 und 33. [29] S.u. Kapitel 36. [30] George Packer, The Other France. Are the suburbs of Paris incubators of terrorism?, New Yorker 24.8.2015, https://www.newyorker.com/magazine/2015/08/31/the-other-france. [31] Annie Ernaux, Die Jahre, Berlin 2017 (französ. 2008). |
Artikelnachweis: https://www.theomag.de/120/wv54b.htm |