Schöpferische Spiegelungen

Impulse aus einem Werk des Meisters MS

Andreas Mertin

In einem Essay über „Die sechs Werktage“[1] hat der tschechische Medienphilosoph Vilém Flusser (1920-1991) die Kunst mit der Schöpfung verglichen und beide mit der Naturwissenschaft in Beziehung gesetzt. Dabei schreibt er unter Bezug auf das Theaterstück „Sechs Personen suchen einen Autor[2] des Nobelpreisträgers Luigi Pirandello (1867-1937) Folgendes:

„Nicht Pirandello, sondern der Bibel haben wir die folgende surrealistische Idee zu verdanken: Wir sind Werke, Geschöpfe, und haben einen Autor, einen Schöpfer. Wir befinden uns mitten in einem Gesamtkunstwerk, der Schöpfung, und das ist eigens unserthalben hergestellt worden. Und der Schöpfer hat uns mit einem Rückspiegel, dem Bewusstsein, ausgestattet, der uns erlauben soll, rückblickend den Vorgang unserer eigenen Herstellung einzusehen und derart auf unseren Autor zu kommen. Dieser Rückspiegel kann in zwei Richtungen eingestellt werden: Drehen wir ihn nach außen, dann sehen wir die Erzeugungsmethode, nach der wir selbst hergestellt wurden. Beide Einstellungen, die extrospektive wie die introspektive, müssen, wenn erfolgreich, Einsicht in unseren Autor gewähren. Daher sind sowohl naturwissenschaftliche Symposien als auch in Kontemplation versenkte Mönchsgemeinschaften im Grunde genommen pirandellische Zusammenkünfte von Personen auf der Suche nach ihrem Autor.“

Schon allein dieser kleine Textabschnitt ist zumindest religionspädagogisch betrachtet ein Juwel, mit dem man die Leistung biblischer Texte gut in den Blick nehmen kann. Nun reflektieren die biblischen Texte selbst in ihrer Entstehungszeit noch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sie stehen im Einklang mit der damaligen Sicht der Welt. Als Eingedenken sind sie Deutung der Welt, sie suchen die vorhandenen, wahrnehmbaren Dinge einer religiösen Erklärung zu unterziehen. Die Differenz zur Naturwissenschaft hat sich an dieser Stelle und zu dieser Zeit noch nicht aufgetan.

Die Lutherbibel 1534

Vilém Flussers Beschreibung des Menschen als ein Wesen, das über einen inneren Rückspiegel (die Reflexion / das Eingedenken) und einen äußeren Beobachtungsspiegel (die Wahrnehmung / die Erforschung) verfügt, könnte als Inspiration für das Verstehen des Aufbaus des ersten Bild-Blattes der Bibel Martin Luthers von 1534 verstanden werden.

Luther Bibel 1534, TASCHEN Verlag Köln

Dieses be­rühmte Vorsatzblatt stammt aus der überaus produktiven Werkstatt von Lukas Cranach dem Älteren und wird einem anonymen Meister mit dem Notnamen „Meister MS“ zugeschrieben.  

Heute ist die Lutherbibel von 1534 als schöne einfache Faksimile-Ausgabe im TASCHEN-Verlag zugänglich und zwar als Nachdruck einer kolorierten Ausgabe aus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Stiftung Weimarer Klassik.[3] Während in dieser Zeit die Lutherbibel auf den Massenmarkt zielte, waren die handkolorierten Ausgaben schon wieder wertvolle Kunstobjekte.

Dem Faksimile beigegeben ist eine höchst informative kulturhistorische Einführung von Stephan Füssel. Er schreibt zur Illustrierung:

Die vollständig neue Illustrierung der ersten Gesamtausgabe hatte noch der Verleger Döring 1532 einem in Cranachs Werkstatt arbeitenden Monogrammisten MS übertragen (Versuche, diese Initialen einer bekannten Person zuzuordnen, konnten bisher nicht überzeugen). Luther selbst hat an den Illustrationen regen Anteil genommen, wie wir durch einen überlieferten Bericht eines Korrektors aus Hans Luffts Setzerei, Christoph Walthers (um 1515-1574), erfahren: „Luther hat die Figuren in der Wittenbergischen Biblia zum Teil selber angegeben, wie man sie hat sollen reißen oder malen, und hat befohlen, dass man aufs einfältigst den Inhalt des Texts sollt abmalen und reißen, und wollt nicht leiden, dass man Überlei [überflüssige] und unnütz Ding, das zum Text nicht dienet, sollt dazu schmieren." (WA Bibel, Band 6, Seite 87). Neben dem zweimal wiederholten Gesamttitelblatt und dem ganzseitigen, vor Blatt 1 im Alten Testament stehenden Schöpfungsbild schnitt MS 117 Textbilder und zehn Bildinitialen …

Alle Holzschnitte haben ein einheitliches Format von 10,8 x 14,7 cm und ragen damit etwa 1 cm über den Satzspiegel hinaus … Ein Kennzeichen des Meisters MS ist die muntere Bewegtheit der Figuren, die allen Illustrationen eine gewisse Dynamik verleihen.[4]

Halten wir fest: Wir kennen den Künstler nicht genau, er muss zur Werkstatt von Cranach gehören und zeichnet sich durch einen charakteristischen Stil aus. Zumindest die Größe der Bilder im Text steht fest: 10,8 x 14,7 cm. Das ist nicht besonders groß. Man sollte sich einmal einen Zettel in den entsprechenden Maßen zurechtschneiden, um einen Eindruck davon zu bekommen.  Das Vorsatzblatt zur Schöpfung ist aber deutlich größer, im Original ist es 14,4 x 21,8 cm groß (etwa DIN A 5). Im Vergleich zum digitalen Zugang, der uns heute einen detaillierten Blick auf das Geschehen erlaubt, ist das natürlich immer noch wenig.

Was aber expressiv verbis beschrieben wird, sind die Vorgaben, die Martin Luther seinerzeit dem Monogrammisten machte: Er sagt, wie man die Bilder gestalten soll, und fordert, dass man exakt den Inhalt des Textes abmalen soll und er duldet vor allem keine Zusätze im Bild. Das spiegelt Luthers fokussiert illustratives Bildverständnis und ist deshalb bemerkenswert, weil bis in die Gegenwart behauptet wird, das Schöpfungsbild sei eine quasi persönliche Stellungnahme Martin Luthers bzw. des jungen Protestantismus zu der Mitte des 16. Jahrhunderts sich entwickelnden Ausein­andersetzung um das heliozentrische Weltbild. Aber erkennbar handelt es sich hier nicht um ein „Modell“ eines geozentrischen Weltbildes (wie wir es etwa nebenstehend aus der Schedelschen Weltchronik vom Ende des 15. Jahrhunderts abgebildet finden), sondern um eine weitgehend getreue Umsetzung des biblischen Textes.

Geozentrismus?

Nicht nur bei reaktionären Publizisten[5], sondern leider auch bei sehr vielen Wissenschaftshistorikern findet man das Argument, die Reformatoren hätten das heliozentrische Weltbild nicht nur abgelehnt, sondern auch dessen Verbreitung konsequent unterbunden. Nun hat man bei einer derartigen Argumentation schon das Problem, erklären zu müssen, warum die entscheidende Schrift von Kopernikus 1543 ausgerechnet in Nürnberg von lutherischen Druckern hergestellt wurde. Und warum gerade Wittenberger Professoren entscheidend zur Verbreitung der Lehre des Kopernikus beitrugen. Tatsächlich handelt es sich aber bei dieser Darstellung des reformatorischen Widerstands gegen das heliozentrische Weltbild um eine „handgreifliche Geschichtslüge“ wie der Wissenschaftshistoriker Andreas Kleinert schreibt.[6] Kopernikus kommt in Luthers Schriften nicht vor, das Einzige, was es gibt, ist ein (angeblicher) Kommentar während eines Mittagsessens, als jemand auf eine neue astrologische (sic!) Lehre zu sprechen kommt, und Luther darauf reagiert. Die Überlieferungsgeschichte von Luthers Tischgesprächen ist diffizil. Die hier inkriminierte Form, nach der Luther diesen namenlosen Astrologen als Narren bezeichnet habe, ist nicht von einem Augenzeugen niedergeschrieben, sondern Jahre später aus anderen Quellen kompiliert und ergänzt worden. Luthers Etikett „Narr“ erscheint in den frühen Quellen nicht und ist eine spätere Zufügung. Man wird die Haltung Luthers, wenn sie sich denn auf Kopernikus bezieht, eher als desinteressiert beschreiben können. Aber, wie der Wissenschafts­historiker Wilhelm Norlind schon 1953 hervorhob, war Luther naturwissenschaftlich natürlich gebildet:

[Luther] had studied logic and psychology, spherical astronomy, metaphysics, mathematics and arithmetic, was well acquainted with the theory of music and perspective, natural and moral philosophy, politics and economics. It is true that he closely followed the ancient cosmological views, but this is quite natural, because his age was wholly dominated by the doctrines of Aristotle and Ptolemy.[7]

Aber er folgte nicht unbedingt den Konzeptionen seiner Lehrer:

Luther did not share the views of his Erfurt teachers, namely in the conception of the eleven or twelve heavens (spheres). He further denied that God resides in the outermost heaven, the "empyrean" or "fire" heaven. God is, Luther says, omnipresent, in nature and in man.[8]

In der Sache weist Luther jeder Wissenschaft ihre eigene, autonome Sprache zu, argumentiert hier also konsequent modern kulturwissenschaftlich:

Luther’s writings show that he considered different disciplines, for example, astronomy and Biblical interpretation, as each having an autonomous technical language.[9]

Man sollte das folgende Bild also konsequent als Illustration und Interpretation eines biblischen Textes auffassen und deuten und sich davor hüten, es als zeitgenössische naturwissenschaftliche Aussage zu missverstehen. Und das sollte auch in Schule und Gemeinde deutlich werden.

Bildvergleich

 

Vor der narrativen bzw. erfahrungsorientierten Rekonstruktion könnte daher die vergleichen­de Einordnung mit vorgängigen Entwürfen stehen. Dazu bietet sich die 1493 erschienene Schedelsche Weltchronik an, die ebenfalls als koloriertes Faksimile im Taschen-Verlag erschienen ist.[10] Die Bilder finden sich alle auch in der ursprünglichen und der kolorierten Form auf den Wikimedia Commons.[11] Deutlich wird im Bildvergleich, dass die Schedelsche Weltchronik den Schöpfungsakt in die Konzeption des geozentrischen Weltbildes und die Idee der himmlischen Sphären einordnet.

Die Bilder zeigen Religion eher als Adiaphoron, man könnte die Manus Dei auch weglassen. Keinesfalls zeigen die Darstellungen von 1493 ein Bild, dass sich an den subjektiven Erfahrungen des Menschen, also dem menschlichen Blick orientiert. Genau das macht die Stärke des Bildes des Meisters MS aus. Es kann nicht nur als illustrative Darstellung der in der Bibel beschriebenen Schöpfungsgeschichte gelesen werden, sondern Schritt für Schritt als subjektiver Erfahrungsprozess dieser Welt, der dann mit einem religiösen Deutungsakt seinen Abschluss findet. Es ist geradezu religionspädagogisch auf Evidenz angelegt. Das gilt es im Folgenden zu zeigen.

Das Schöpfungsbild

Das Bild ist in vielerlei Hinsicht interessant, vor allem, weil es sozusagen wie ein modernes offenes Kunstwerk[12] dem Betrachter ganz unterschiedliche Perspektiven eröffnet.

Zum einen, da es – wenn man es konsequent von außen nach innen liest – den Schöpfungsakt quasi aus der Perspektive Gottes darstellt, fast so, wie er im Buch Genesis im ersten Kapitel beschrieben wird. Am Anfang ist da allein Gott (hier als Gottvater dargestellt) mit der Leere unter ihm, aus der er dann mit seinem Wort nach und nach, Tag für Tag, alles Weitere entfaltet. So wie es der biblische Text auch vor dem Auge des Lesers entfaltet.

Und zum anderen, da es – wenn man es konsequent von innen nach außen liest – die Perspektive zunächst ganz allgemein des Menschen, dann des religiösen Menschen und seiner Weltdeutung spiegelt. Wie finden wir uns in der Welt vor und wie nehmen wir die Welt um uns herum wahr und wie deuten wir sie (religiös)?

Das Bild entspricht mit anderen Worten durchaus einer modernen, ja liberalen Theologie, wenn man es von innen nach außen liest und einer traditionell-narrativen Theologie, wenn man es von außen nach innen liest. Und das Bild lässt als offenes Kunstwerk dem Betrachter die Wahl, wie er es lesen möchte.

Diese beiden gerade genannten Lektüreformen schlage ich für die Deutung der Bildaussage vor. Daneben ließen sich aber durchaus andere, vielleicht nicht anthropozentrische Lektüren entwickeln. Es ist ja auffällig, dass der Monogrammist MS offenkundig in Absprache mit Luther den Menschen nicht in das Zentrum der Erde bzw. des Gartens Eden stellt, sondern ihn etwas de-zentriert im Bild verortet.

Ebenso ließe sich erörtern, wie eine konsequent an­thropozentrische Schöpfung bzw. eine Schöpfung ohne den Menschen aussehen würde. Oder wie das Bild gestaltet sein müsste, wenn es Genesis 2,4bff. wiedergeben würde. Mit Hilfe von Photoshop oder einem analogen Programm ließe sich hier viel experimentieren, was zugleich Einsicht in die verschiedenen Lesarten der biblischen Überlieferung verschafft.

Der Text (Lutherbibel 2017)

1   Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.

2   Und die Erde war wüst und leer, und Finsternis lag auf der Tiefe; und der Geist Gottes schwebte über dem Wasser.

3   Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.

4   Und Gott sah, dass das Licht gut war. Da schied Gott das Licht von der Finsternis

5   und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. Da ward aus Abend und Morgen der erste Tag.

6   Und Gott sprach: Es werde eine Feste zwischen den Wassern, die da scheide zwischen den Wassern.

7   Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah so.

8   Und Gott nannte die Feste Himmel. Da ward aus Abend und Morgen der zweite Tag.

9   Und Gott sprach: Es sammle sich das Wasser unter dem Himmel an einem Ort, dass man das Trockene sehe. Und es geschah so.

10 Und Gott nannte das Trockene Erde, und die Sammlung der Wasser nannte er Meer. Und Gott sah, dass es gut war.

11 Und Gott sprach: Es lasse die Erde aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringe, und fruchtbare Bäume, die ein jeder nach seiner Art Früchte tragen, in denen ihr Same ist auf der Erde. Und es geschah so.

12 Und die Erde ließ aufgehen Gras und Kraut, das Samen bringt, ein jedes nach seiner Art, und Bäume, die da Früchte tragen, in denen ihr Same ist, ein jeder nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.

13 Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag.

14 Und Gott sprach: Es werden Lichter an der Feste des Himmels, die da scheiden Tag und Nacht. Sie seien Zeichen für Zeiten, Tage und Jahre

15 und seien Lichter an der Feste des Himmels, dass sie scheinen auf die Erde. Und es geschah so.

16 Und Gott machte zwei große Lichter: ein großes Licht, das den Tag regiere, und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu auch die Sterne.

17 Und Gott setzte sie an die Feste des Himmels, dass sie schienen auf die Erde

18 und den Tag und die Nacht regierten und schieden Licht und Finsternis. Und Gott sah, dass es gut war.

19 Da ward aus Abend und Morgen der vierte Tag.

20 Und Gott sprach: Es wimmle das Wasser von lebendigem Getier, und Vögel sollen fliegen auf Erden unter der Feste des Himmels.

21 Und Gott schuf große Seeungeheuer und alles Getier, das da lebt und webt, davon das Wasser wimmelt, ein jedes nach seiner Art, und alle gefiederten Vögel, einen jeden nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.

22 Und Gott segnete sie und sprach: Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet das Wasser im Meer, und die Vögel sollen sich mehren auf Erden.

23 Da ward aus Abend und Morgen der fünfte Tag.

24 Und Gott sprach: Die Erde bringe hervor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art: Vieh, Gewürm und Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art. Und es geschah so.

25 Und Gott machte die Tiere des Feldes, ein jedes nach seiner Art, und das Vieh nach seiner Art und alles Gewürm des Erdbodens nach seiner Art. Und Gott sah, dass es gut war.

26 Und Gott sprach: Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf Erden kriecht.

27 Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie als Mann und Frau.

28 Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht.

29 Und Gott sprach: Sehet da, ich habe euch gegeben alle Pflanzen, die Samen bringen, auf der ganzen Erde, und alle Bäume mit Früchten, die Samen bringen, zu eurer Speise.

30 Aber allen Tieren auf Erden und allen Vögeln unter dem Himmel und allem Gewürm, das auf Erden lebt, habe ich alles grüne Kraut zur Nahrung gegeben. Und es geschah so.

31 Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.

Quelle: Lutherbibel 2017

Der Blick auf den Bibeltext zeigt schnell, dass er wesentlich dialektischer aufgebaut ist als eine nur rekonstruktive Darstellung von außen nach innen.

Das Bild des Meisters MS kann das ursprüngliche Geschehen nicht erfassen, weil es ja vom Ende her (von der fertigen Erde) entworfen ist.

Man müsste die Erde auf der Grafik daher mit einer Satelliten-Aufnahme der Sahara füllen, um dem Erzählten näher zu kommen. Also ist es nicht möglich, die Grafik des Meisters MS von außen nach innen quasi parallel zur Lektüre des Bibeltextes zu betrachten.

Das folgende Schichtenmodell ist daher eher eine abstrakte Form der Re-Lektüre.

Von außen nach innen

In dieser Logik, die den Blick von außen nach innen lenkt, sehen wir zunächst Gott(vater). Das ist für die Auseinandersetzungen der damaligen Zeit insofern interessant, als dass im Protestantismus die Auslegung des Bilderverbots anfangs ja durchaus kontrovers war (Karlstadt). Luther scheint hier viel Wert auf die Abbildbarkeit Gottes gelegt zu haben. Matthäus Merian wird 100 Jahre später andere Bildlösungen schaffen, die auf die explizite Darstellung Gottes verzichten.

Nachfolgend lenkt die Darstellung die Aufmerksamkeit des Betrachters dann Schicht für Schicht auf den Aufbau der Welt, ja des Universums: vom Entferntesten, dem nur noch diffus Erkennbaren, bis zum Nächsten, der Mensch der mir gegenüber steht.

Der konstruktive Charakter unterstellt eine Logik, die wir erstmalig in der so genannten Bible moralisée aus dem beginnenden 13. Jahrhundert finden: Gott in Gestalt des prä-existenten Christus wird gezeichnet als Architekt, der die Welt wie ein mittelalterlicher Baumeister konstruiert. Nur dass der Meister MS auf den Zirkel des Baumeisters als Accessoire verzichtet und das Wort Gottes stärker in den Vordergrund der Darstellung stellt.

Von innen nach außen

Bei der alternativen Lektüre beginnt die Erschließung der Welt so, wie wir sie unmittelbar vor unseren Augen vorfinden, also der subjektiven Weltwahrnehmung und Deutung. In dieser Blickrichtung ist das einzelne Individuum der Ausgangspunkt. Auch hier gibt es ein anderes Bild, das den Vorgang in geradezu moderner symbolistischer Form zur Darstellung bringt. Heinrich Furck hat in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Frankfurter Katharinenkirche ein überdimensionales menschliches Auge dargestellt, das durch ein Fernrohr zu den Gestirnen blickt und parallel dazu den Gläubigen in seiner Wahrnehmung des Unsichtbaren. Auch hier geht es um das ganz Nahe und das ganz Ferne, ein populäres Motiv der damaligen Zeit.[13]

Im Zentrum des Bildes des Meisters MS aus der Lutherbibel von 1524 finden wir ausgehend vom Menschen(paar) zunächst die fruchtbare Erde. Dieser Bereich wird dann mit Tieren reich gefüllt, er wird von einem Fluss durchteilt, dem Meer und einem Gebirge gesäumt. Unter den Tieren finden wir Störche, Affen, Elefanten, Kamele und einen riesigen Fisch. Das Erste, was die Menschen darüber hinaus erblicken, ist der Himmel mit den Vögeln. Erst dann kommt das Firmament mit den Gestirnen. Was dahinter ist, kann der Mensch nur ahnen, aber die Annahme des persönlichen Schöpfers geht noch darüber hinaus – und gehört dann in den Bereich des Glaubens. Auch hier geht die Logik vom Nächsten zum Fernsten.

Abschließende Notizen

In der Abfolge der unterschiedlichen Bildsequenzen ergibt sich so auch ein gutes Gesprächsangebot darüber, was wir wahrnehmen und was wir annehmen (= für wahr nehmen), d.h. was eigentlich Religion ist. Das Bild des Meisters MS geht also weit über die bloße Illustration eines biblischen Textes hinaus. Zugleich kann mit seiner Hilfe auch ein Stück weit Medienkompetenz eingeübt werden, das Studium des Aufbaus eines mittelalterlichen Bildes. Von der Komplexität her eignet es sich ab der Grundschule, mit zunehmendem Alter können andere Bilder der Kunstgeschichte zum Vergleich bzw. zur Erweiterung der Perspektive herangezogen werden.

In einer Erläuterung zu den Illustrationen von Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christenthum“ fand ich folgende Beschreibung, die in der Sprache der Frömmigkeitskultur des 18. Jahrhunderts vielleicht ganz gut die Intention der Bilder widergibt:

Hier ist ein Tubus oder großes Perspektiv und Fernglas, wodurch das Auge des Sternsehers siehet, und die sehr weit entfernten Sterne als ganz nahe und zu-gegen ziemlich deutlich erblicket und erkennet: Also hat auch die Hoffnung eines gläubigen Christen sehr helle Glaubens­augen, mit welchen sie durch das Sichtbare in dieser Welt gar weit hinsiehet auf das Unsichtbare, in Gottes liebreiches Vaterherz und in die ewige Herrlichkeit hinein, und sich damit erfreuet. Ephes. Kap. II. v. 18. Gott gebe euch erleuchtete Augen eures Verstandes, dass ihr erkennen möget, welche da sei die Hoffnung eures Berufs, und welcher sei der Reichtum seines Herrlichen Erbes an seinen Heiligen.

Das ist nicht mehr unsere Sprache, aber die Intention, das Wahrnehmbare (und sei es noch das Fernste) religiös zu deuten, ist bestehen geblieben.

Anmerkungen

[1]    Flusser, Vilém (1991): Die sechs Werktage. In: Kunstforum International (115), S. 78.

[2]    Pirandello, Luigi (2012): Sechs Personen suchen einen Autor. [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 8765).

[3]    Luther, Martin (2012): Die Luther-Bibel von 1534. Hg. v. Stephan Füssel. Köln: TASCHEN.
Vgl. auch https://www.youtube.com/watch?v=RJ3uwyHECxY

[4]    Ebd., Kulturhistorische Einführung von Stephan Füssel, S. 43f.

[5]    „‘Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren‘, hatte etwa Doktor Luther über den Ermländer Astronomen geurteilt.“ https://www.welt.de/kultur/history/article110550586/Galileo-Galilei-uebereifrig-skrupellos-verwildert.html. Seit fast 100 Jahren ist allen Wissenschaftlern klar, dass dieser Satz eine spätere Überarbeitung ist. In Wirklichkeit, so berichten Ohrenzeugen, wurde Kopernikus nicht benannt und der korrekte Satz lautet: „sicut ille facit, qui totam astrologiam invertere vult“. Und Luther wies darauf hin, dass jeder junge Wissenschaftler dazu neige, mit seinen Thesen die Welt auf den Kopf zu stellen.

[6]    Kleinert, Andreas (2003): "Eine handgreifliche Geschichtslüge." Wie Martin Luther zum Gegner des copernicanischen Weltsystems gemacht wurde. In: Berichte zur Wissenschafts-Geschichte 26 (2), S. 101–111.
DOI: 10.1002/bewi.200390032

[7]    Norlind, Wilhelm (1953): Copernicus and Luther: A critical Study. In: Isis 44 (3), S. 273–276.

[8]    Ebd., S. 275.

[9]    Kobe, Donald H. (1998): Copernicus and Martin Luther: An encounter between science and religion. In: American Journal of Physics 66 (3), S. 190–196. DOI: 10.1119/1.18844.

[10]   Schedel, Hartmann (2013): Weltchronik 1493. Kolorierte Gesamtausgabe. Hg. v. Stephan Füssel. Köln: TASCHEN.

[12]   Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk. 2. Aufl. Frankfurt a.M: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 222).

[13]   In den verschiedenen illustrierten Ausgaben von Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christenthum“ findet sich ebenfalls das Motiv des Auges vor dem Fernrohr ergänzt um den Satz „Entfernet und doch zugegen“. Man kann sich die verschiedenen Ausgaben auf archive.org anschauen. Vgl. Arndt, Johann; Diecmann, Johann (1706): Johann Arnds Vier Büchern vom wahren Christenthum … Samt einem aus 2 Th. bestehenden Anh. … mit e. ausführl. Vorr. Johann Dieckmanns. Stade: Howein. S. 638.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/121/am676.htm
© Andreas Mertin, 2019