Paris II / CONTAINER |
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Schöpferische SpiegelungenImpulse aus einem Werk des Meisters MSAndreas Mertin In einem Essay über „Die sechs Werktage“[1] hat der tschechische Medienphilosoph Vilém Flusser (1920-1991) die Kunst mit der Schöpfung verglichen und beide mit der Naturwissenschaft in Beziehung gesetzt. Dabei schreibt er unter Bezug auf das Theaterstück „Sechs Personen suchen einen Autor“[2] des Nobelpreisträgers Luigi Pirandello (1867-1937) Folgendes:
Schon allein dieser kleine Textabschnitt ist zumindest religionspädagogisch betrachtet ein Juwel, mit dem man die Leistung biblischer Texte gut in den Blick nehmen kann. Nun reflektieren die biblischen Texte selbst in ihrer Entstehungszeit noch naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sie stehen im Einklang mit der damaligen Sicht der Welt. Als Eingedenken sind sie Deutung der Welt, sie suchen die vorhandenen, wahrnehmbaren Dinge einer religiösen Erklärung zu unterziehen. Die Differenz zur Naturwissenschaft hat sich an dieser Stelle und zu dieser Zeit noch nicht aufgetan. Die Lutherbibel 1534Vilém Flussers Beschreibung des Menschen als ein Wesen, das über einen inneren Rückspiegel (die Reflexion / das Eingedenken) und einen äußeren Beobachtungsspiegel (die Wahrnehmung / die Erforschung) verfügt, könnte als Inspiration für das Verstehen des Aufbaus des ersten Bild-Blattes der Bibel Martin Luthers von 1534 verstanden werden. Luther Bibel 1534, TASCHEN Verlag Köln Dieses berühmte Vorsatzblatt stammt aus der überaus produktiven Werkstatt von Lukas Cranach dem Älteren und wird einem anonymen Meister mit dem Notnamen „Meister MS“ zugeschrieben. Heute ist die Lutherbibel von 1534 als schöne einfache Faksimile-Ausgabe im TASCHEN-Verlag zugänglich und zwar als Nachdruck einer kolorierten Ausgabe aus der Herzogin Anna Amalia Bibliothek der Stiftung Weimarer Klassik.[3] Während in dieser Zeit die Lutherbibel auf den Massenmarkt zielte, waren die handkolorierten Ausgaben schon wieder wertvolle Kunstobjekte. Dem Faksimile beigegeben ist eine höchst informative kulturhistorische Einführung von Stephan Füssel. Er schreibt zur Illustrierung:
Halten wir fest: Wir kennen den Künstler nicht genau, er muss zur Werkstatt von Cranach gehören und zeichnet sich durch einen charakteristischen Stil aus. Zumindest die Größe der Bilder im Text steht fest: 10,8 x 14,7 cm. Das ist nicht besonders groß. Man sollte sich einmal einen Zettel in den entsprechenden Maßen zurechtschneiden, um einen Eindruck davon zu bekommen. Das Vorsatzblatt zur Schöpfung ist aber deutlich größer, im Original ist es 14,4 x 21,8 cm groß (etwa DIN A 5). Im Vergleich zum digitalen Zugang, der uns heute einen detaillierten Blick auf das Geschehen erlaubt, ist das natürlich immer noch wenig. Was aber expressiv verbis beschrieben wird, sind die Vorgaben, die Martin Luther seinerzeit dem Monogrammisten machte: Er sagt, wie man die Bilder gestalten soll, und fordert, dass man exakt den Inhalt des Textes abmalen soll und er duldet vor allem keine Zusätze im Bild. Das spiegelt Luthers fokussiert illustratives Bildverständnis und ist deshalb bemerkenswert, weil bis in die Gegenwart behauptet wird, das Schöpfungsbild sei eine quasi persönliche Stellungnahme Martin Luthers bzw. des jungen Protestantismus zu der Mitte des 16. Jahrhunderts sich entwickelnden Auseinandersetzung um das heliozentrische Weltbild. Aber erkennbar handelt es sich hier nicht um ein „Modell“ eines geozentrischen Weltbildes (wie wir es etwa nebenstehend aus der Schedelschen Weltchronik vom Ende des 15. Jahrhunderts abgebildet finden), sondern um eine weitgehend getreue Umsetzung des biblischen Textes. Geozentrismus?Nicht nur bei reaktionären Publizisten[5], sondern leider auch bei sehr vielen Wissenschaftshistorikern findet man das Argument, die Reformatoren hätten das heliozentrische Weltbild nicht nur abgelehnt, sondern auch dessen Verbreitung konsequent unterbunden. Nun hat man bei einer derartigen Argumentation schon das Problem, erklären zu müssen, warum die entscheidende Schrift von Kopernikus 1543 ausgerechnet in Nürnberg von lutherischen Druckern hergestellt wurde. Und warum gerade Wittenberger Professoren entscheidend zur Verbreitung der Lehre des Kopernikus beitrugen. Tatsächlich handelt es sich aber bei dieser Darstellung des reformatorischen Widerstands gegen das heliozentrische Weltbild um eine „handgreifliche Geschichtslüge“ wie der Wissenschaftshistoriker Andreas Kleinert schreibt.[6] Kopernikus kommt in Luthers Schriften nicht vor, das Einzige, was es gibt, ist ein (angeblicher) Kommentar während eines Mittagsessens, als jemand auf eine neue astrologische (sic!) Lehre zu sprechen kommt, und Luther darauf reagiert. Die Überlieferungsgeschichte von Luthers Tischgesprächen ist diffizil. Die hier inkriminierte Form, nach der Luther diesen namenlosen Astrologen als Narren bezeichnet habe, ist nicht von einem Augenzeugen niedergeschrieben, sondern Jahre später aus anderen Quellen kompiliert und ergänzt worden. Luthers Etikett „Narr“ erscheint in den frühen Quellen nicht und ist eine spätere Zufügung. Man wird die Haltung Luthers, wenn sie sich denn auf Kopernikus bezieht, eher als desinteressiert beschreiben können. Aber, wie der Wissenschaftshistoriker Wilhelm Norlind schon 1953 hervorhob, war Luther naturwissenschaftlich natürlich gebildet:
Aber er folgte nicht unbedingt den Konzeptionen seiner Lehrer:
In der Sache weist Luther jeder Wissenschaft ihre eigene, autonome Sprache zu, argumentiert hier also konsequent modern kulturwissenschaftlich:
Man sollte das folgende Bild also konsequent als Illustration und Interpretation eines biblischen Textes auffassen und deuten und sich davor hüten, es als zeitgenössische naturwissenschaftliche Aussage zu missverstehen. Und das sollte auch in Schule und Gemeinde deutlich werden. Bildvergleich
Vor der narrativen bzw. erfahrungsorientierten Rekonstruktion könnte daher die vergleichende Einordnung mit vorgängigen Entwürfen stehen. Dazu bietet sich die 1493 erschienene Schedelsche Weltchronik an, die ebenfalls als koloriertes Faksimile im Taschen-Verlag erschienen ist.[10] Die Bilder finden sich alle auch in der ursprünglichen und der kolorierten Form auf den Wikimedia Commons.[11] Deutlich wird im Bildvergleich, dass die Schedelsche Weltchronik den Schöpfungsakt in die Konzeption des geozentrischen Weltbildes und die Idee der himmlischen Sphären einordnet. Die Bilder zeigen Religion eher als Adiaphoron, man könnte die Manus Dei auch weglassen. Keinesfalls zeigen die Darstellungen von 1493 ein Bild, dass sich an den subjektiven Erfahrungen des Menschen, also dem menschlichen Blick orientiert. Genau das macht die Stärke des Bildes des Meisters MS aus. Es kann nicht nur als illustrative Darstellung der in der Bibel beschriebenen Schöpfungsgeschichte gelesen werden, sondern Schritt für Schritt als subjektiver Erfahrungsprozess dieser Welt, der dann mit einem religiösen Deutungsakt seinen Abschluss findet. Es ist geradezu religionspädagogisch auf Evidenz angelegt. Das gilt es im Folgenden zu zeigen. Das SchöpfungsbildDas Bild ist in vielerlei Hinsicht interessant, vor allem, weil es sozusagen wie ein modernes offenes Kunstwerk[12] dem Betrachter ganz unterschiedliche Perspektiven eröffnet. Zum einen, da es wenn man es konsequent von außen nach innen liest den Schöpfungsakt quasi aus der Perspektive Gottes darstellt, fast so, wie er im Buch Genesis im ersten Kapitel beschrieben wird. Am Anfang ist da allein Gott (hier als Gottvater dargestellt) mit der Leere unter ihm, aus der er dann mit seinem Wort nach und nach, Tag für Tag, alles Weitere entfaltet. So wie es der biblische Text auch vor dem Auge des Lesers entfaltet. Und zum anderen, da es wenn man es konsequent von innen nach außen liest die Perspektive zunächst ganz allgemein des Menschen, dann des religiösen Menschen und seiner Weltdeutung spiegelt. Wie finden wir uns in der Welt vor und wie nehmen wir die Welt um uns herum wahr und wie deuten wir sie (religiös)? Das Bild entspricht mit anderen Worten durchaus einer modernen, ja liberalen Theologie, wenn man es von innen nach außen liest und einer traditionell-narrativen Theologie, wenn man es von außen nach innen liest. Und das Bild lässt als offenes Kunstwerk dem Betrachter die Wahl, wie er es lesen möchte. Diese beiden gerade genannten Lektüreformen schlage ich für die Deutung der Bildaussage vor. Daneben ließen sich aber durchaus andere, vielleicht nicht anthropozentrische Lektüren entwickeln. Es ist ja auffällig, dass der Monogrammist MS offenkundig in Absprache mit Luther den Menschen nicht in das Zentrum der Erde bzw. des Gartens Eden stellt, sondern ihn etwas de-zentriert im Bild verortet. Ebenso ließe sich erörtern, wie eine konsequent anthropozentrische Schöpfung bzw. eine Schöpfung ohne den Menschen aussehen würde. Oder wie das Bild gestaltet sein müsste, wenn es Genesis 2,4bff. wiedergeben würde. Mit Hilfe von Photoshop oder einem analogen Programm ließe sich hier viel experimentieren, was zugleich Einsicht in die verschiedenen Lesarten der biblischen Überlieferung verschafft. Der Text (Lutherbibel 2017)
Der Blick auf den Bibeltext zeigt schnell, dass er wesentlich dialektischer aufgebaut ist als eine nur rekonstruktive Darstellung von außen nach innen. Das Bild des Meisters MS kann das ursprüngliche Geschehen nicht erfassen, weil es ja vom Ende her (von der fertigen Erde) entworfen ist. Man müsste die Erde auf der Grafik daher mit einer Satelliten-Aufnahme der Sahara füllen, um dem Erzählten näher zu kommen. Also ist es nicht möglich, die Grafik des Meisters MS von außen nach innen quasi parallel zur Lektüre des Bibeltextes zu betrachten. Das folgende Schichtenmodell ist daher eher eine abstrakte Form der Re-Lektüre. Von außen nach innenIn dieser Logik, die den Blick von außen nach innen lenkt, sehen wir zunächst Gott(vater). Das ist für die Auseinandersetzungen der damaligen Zeit insofern interessant, als dass im Protestantismus die Auslegung des Bilderverbots anfangs ja durchaus kontrovers war (Karlstadt). Luther scheint hier viel Wert auf die Abbildbarkeit Gottes gelegt zu haben. Matthäus Merian wird 100 Jahre später andere Bildlösungen schaffen, die auf die explizite Darstellung Gottes verzichten. Nachfolgend lenkt die Darstellung die Aufmerksamkeit des Betrachters dann Schicht für Schicht auf den Aufbau der Welt, ja des Universums: vom Entferntesten, dem nur noch diffus Erkennbaren, bis zum Nächsten, der Mensch der mir gegenüber steht. Der konstruktive Charakter unterstellt eine Logik, die wir erstmalig in der so genannten Bible moralisée aus dem beginnenden 13. Jahrhundert finden: Gott in Gestalt des prä-existenten Christus wird gezeichnet als Architekt, der die Welt wie ein mittelalterlicher Baumeister konstruiert. Nur dass der Meister MS auf den Zirkel des Baumeisters als Accessoire verzichtet und das Wort Gottes stärker in den Vordergrund der Darstellung stellt. Von innen nach außenBei der alternativen Lektüre beginnt die Erschließung der Welt so, wie wir sie unmittelbar vor unseren Augen vorfinden, also der subjektiven Weltwahrnehmung und Deutung. In dieser Blickrichtung ist das einzelne Individuum der Ausgangspunkt. Auch hier gibt es ein anderes Bild, das den Vorgang in geradezu moderner symbolistischer Form zur Darstellung bringt. Heinrich Furck hat in der Mitte des 17. Jahrhunderts in der Frankfurter Katharinenkirche ein überdimensionales menschliches Auge dargestellt, das durch ein Fernrohr zu den Gestirnen blickt und parallel dazu den Gläubigen in seiner Wahrnehmung des Unsichtbaren. Auch hier geht es um das ganz Nahe und das ganz Ferne, ein populäres Motiv der damaligen Zeit.[13] Im Zentrum des Bildes des Meisters MS aus der Lutherbibel von 1524 finden wir ausgehend vom Menschen(paar) zunächst die fruchtbare Erde. Dieser Bereich wird dann mit Tieren reich gefüllt, er wird von einem Fluss durchteilt, dem Meer und einem Gebirge gesäumt. Unter den Tieren finden wir Störche, Affen, Elefanten, Kamele und einen riesigen Fisch. Das Erste, was die Menschen darüber hinaus erblicken, ist der Himmel mit den Vögeln. Erst dann kommt das Firmament mit den Gestirnen. Was dahinter ist, kann der Mensch nur ahnen, aber die Annahme des persönlichen Schöpfers geht noch darüber hinaus und gehört dann in den Bereich des Glaubens. Auch hier geht die Logik vom Nächsten zum Fernsten. Abschließende NotizenIn der Abfolge der unterschiedlichen Bildsequenzen ergibt sich so auch ein gutes Gesprächsangebot darüber, was wir wahrnehmen und was wir annehmen (= für wahr nehmen), d.h. was eigentlich Religion ist. Das Bild des Meisters MS geht also weit über die bloße Illustration eines biblischen Textes hinaus. Zugleich kann mit seiner Hilfe auch ein Stück weit Medienkompetenz eingeübt werden, das Studium des Aufbaus eines mittelalterlichen Bildes. Von der Komplexität her eignet es sich ab der Grundschule, mit zunehmendem Alter können andere Bilder der Kunstgeschichte zum Vergleich bzw. zur Erweiterung der Perspektive herangezogen werden. In einer Erläuterung zu den Illustrationen von Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christenthum“ fand ich folgende Beschreibung, die in der Sprache der Frömmigkeitskultur des 18. Jahrhunderts vielleicht ganz gut die Intention der Bilder widergibt:
Das ist nicht mehr unsere Sprache, aber die Intention, das Wahrnehmbare (und sei es noch das Fernste) religiös zu deuten, ist bestehen geblieben. Anmerkungen[1] Flusser, Vilém (1991): Die sechs Werktage. In: Kunstforum International (115), S. 78. [2] Pirandello, Luigi (2012): Sechs Personen suchen einen Autor. [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam (Reclams Universal-Bibliothek, Nr. 8765). [3] Luther, Martin (2012): Die Luther-Bibel von 1534. Hg. v. Stephan Füssel. Köln: TASCHEN. [4] Ebd., Kulturhistorische Einführung von Stephan Füssel, S. 43f. [5] „‘Der Narr will die ganze Kunst Astronomiae umkehren‘, hatte etwa Doktor Luther über den Ermländer Astronomen geurteilt.“ https://www.welt.de/kultur/history/article110550586/Galileo-Galilei-uebereifrig-skrupellos-verwildert.html. Seit fast 100 Jahren ist allen Wissenschaftlern klar, dass dieser Satz eine spätere Überarbeitung ist. In Wirklichkeit, so berichten Ohrenzeugen, wurde Kopernikus nicht benannt und der korrekte Satz lautet: „sicut ille facit, qui totam astrologiam invertere vult“. Und Luther wies darauf hin, dass jeder junge Wissenschaftler dazu neige, mit seinen Thesen die Welt auf den Kopf zu stellen. [6] Kleinert, Andreas (2003): "Eine handgreifliche Geschichtslüge." Wie Martin Luther zum Gegner des copernicanischen Weltsystems gemacht wurde. In: Berichte zur Wissenschafts-Geschichte 26 (2), S. 101111. [7] Norlind, Wilhelm (1953): Copernicus and Luther: A critical Study. In: Isis 44 (3), S. 273276. [8] Ebd., S. 275. [9] Kobe, Donald H. (1998): Copernicus and Martin Luther: An encounter between science and religion. In: American Journal of Physics 66 (3), S. 190196. DOI: 10.1119/1.18844. [10] Schedel, Hartmann (2013): Weltchronik 1493. Kolorierte Gesamtausgabe. Hg. v. Stephan Füssel. Köln: TASCHEN. [12] Eco, Umberto (1977): Das offene Kunstwerk. 2. Aufl. Frankfurt a.M: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 222). [13] In den verschiedenen illustrierten Ausgaben von Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christenthum“ findet sich ebenfalls das Motiv des Auges vor dem Fernrohr ergänzt um den Satz „Entfernet und doch zugegen“. Man kann sich die verschiedenen Ausgaben auf archive.org anschauen. Vgl. Arndt, Johann; Diecmann, Johann (1706): Johann Arnds Vier Büchern vom wahren Christenthum … Samt einem aus 2 Th. bestehenden Anh. … mit e. ausführl. Vorr. Johann Dieckmanns. Stade: Howein. S. 638.
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/121/am676.htm |