Entgleisung I [1]

In der Freigabeeinstufung der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) für den 2013 erschienenen Film „Fack ju Göhte“ heißt es:

Komödie über einen raubeinigen Kleinkriminellen, der bei der Suche nach verstecktem Diebesgut einen Job als Aushilfslehrer in einer Schule antritt. Die Dialoge und der Humor des Films sind von einer oftmals derben und zotigen Sprache geprägt, der "Lehrer" wendet mitunter sehr drastische Erziehungsmethoden an. Durch die klamaukhaft überzogene Inszenierung ist für Kinder ab 12 Jahren jedoch stets deutlich erkennbar, dass die Darstellungen nichts mit schulischer Realität tun zu haben. Auch passiert nie wirklich etwas Schlimmes und keine der Figuren wird denunziert oder ernsthaft psychisch oder physisch verletzt. Eine irritierende oder gar desorientierende Wirkung kann bei ab 12-Jährigen daher ausgeschlossen werden.[2]

Das Gleiche könnte man über den Text von Ralf Frisch auf zeitzeichen.net, der zunächst unter dem Titel „Fuck you Greta“ erschien, dann aber offenbar nach Protesten zu „Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie“ umbenannt wurde, nicht sagen.[3] Die derbe Sprache (allein Fuck You wird bewusst sieben Mal wiederholt) des Systematischen Theologen möchte keine Differenz zur Realität aufbauen, sondern ganz im Gegenteil als gegenwarts- und realitätsbezogen wahrgenommen werden. Zugleich möchte sie die zentrale Figur des Artikels, die 16jährige Greta Thunberg, denunzieren und psychisch verletzen. Sie gibt sich als Zeitdiagnostik und operiert doch mit dem moralinsauren Sprach-Instrumentarium des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.

Wer nur noch in den Alternativen von „Hysterie“ oder „Häresie“ denken kann, wer meint, zumindest mal probeweise den Aufkleber mit dem Text FUCK YOU GRETA! für sein Auto bestellen zu müssen, offenbart, wes Geistes Kind er ist. Und wer ernsthaft behauptet, FUCK YOU sei ein Schimpfwort ohne sexuelle oder herabwürdigende Assoziation wie es im Deutschen das legendäre „Leck mich im Arsch“ des Götz von Berlichingen sei, der hat keine Ahnung, was dieses bezeichnet. Da könnte er bei dem populären barocken Theologen Christian Gerber, dessen Buch ich in der vorletzten Ausgabe des Magazins vorgestellt habe, viel lernen. Der widmet dem Leck-mich-Schimpfwort 1719 im Kapitel über unchristliche Sprichwörter gleich mehrere Seiten. Ja, es ist unchristliche Rede!

Im Bereich der deutschen Sprache ist Fuck you zunächst bis in die späten sechziger Jahre überhaupt nicht beheimatet.[4] [Im amerikanischen Englisch hat es seine wahre Konjunktur noch später[5], ebenso wie im britischen Englisch.[6] Im Englischen wird es erst in den 80ern zu einem verbreiteten Topos. Vielleicht geht das mit der Durchsetzung der Rap-Kultur einher.] Im Deutschen scheint das frühe Aufkommen ein US-Import im Kontext der studentischen Auflehnung gegenüber bürgerlichen Werten in den 68er-Zeiten zu sein. Und erst sehr viel später wird es dann zum Mainstream-Begriff, dessen Empörungsgehalt damit schwindet. Aber nur weil die Verrohung der Sprache voranschreitet, muss man das nicht auch noch kultivieren. Man ist keinesfalls hip, nur weil man als erster Gangsta-Rap-Theologe „Fuck you“ schreibt.

Ich nenne das, was hier von Ralf Frisch zelebriert wird, die intellektuelle Verwahrlosung deutscher Theologie. Und man kann das nicht damit rechtfertigen, man wolle als Theologe doch nur „ein kleines Spiel mit dem Feuer“ spielen.[7] Theologen sollten niemals mit dem Feuer spielen. Nicht nur Jan Hus oder Jeanne d‘Arc, auch die Juden des Mittelalters wissen nur zu gut, wohin das führt.

An dieser Stelle könnte man eine paradoxe Intervention machen und im Rahmen der Kunstfreiheit zu einer spielerischen Performance aufrufen, die „Tötet Ralf Frisch“ heißt, so wie es Christoph Schlingensief 1997 auf der documenta X in Kassel mit Helmut Kohl machte.[8] Ob Frisch das auch vertretbar finden würde? Oder wenn ich seinen Kirchenchef mit dem Zitat „Fuck you in the knee Heinrich“ ansprechen würde, nur weil ich mich über dessen öffentliche Theologie geärgert habe? Ich fände das weder lustig, noch angemessen noch vertretbar. Aber wie man merkt, sagen und schreiben kann man alles, wenn man es nur geschickt als Zitat oder in indirekte Rede verpackt und ironisiert. Jan Böhmermann lässt grüßen. Theologen sollten das nicht tun, sondern es den Comedians überlassen.

Nun geht es Frisch vorgeblich um die Diskussion des Klimawandels. Tatsächlich argumentiert er aber kaum in der Sache, sondern zunächst einmal über weite Strecken ad hominem.

… Greta Thunberg, die Zeichenhandlung gewordene Jeanne d’Arc des 21. Jahrhunderts, die nun in See sticht, um Sturm und Wellen und den Mächten und Gewalten der Welt zu trotzen wie weiland unser Herr …

Ein bisschen viel pseudoreligiöses Metapherngestöber.

Nein, Jesus Christus war mitnichten ein Meeresbezwinger, ihm reichten die Stürme auf dem See Genezareth, die nur in extrem seltenen Fällen Viermeterwellen bewirken können. Angehörige eines Volkes, das kein Seevolk war (wie die Philister), musste das erschrecken. Jesu Jünger, das scheint bis in die Gegenwart zu gelten, waren besonders furchtsam und schreckhaft.

Während ich dies schreibe, segelt Greta Thunberg auf ein Meeresgebiet mit 4-5 Meter hohem Wellengang zu. Sie riskiert etwas, nicht nur einen Sturm im überschaubaren Seegebiet wie Petrus und seine Begleiter.

Und nein, Greta Thunberg ist keine schwertbewaffnete Jeanne d’Arc des 21. Jahrhunderts, sie kämpft mit den Mitteln des öffentlichen Protests und des besseren Arguments. Sie spricht - mit einfachen und klaren Worten. Das ist ihre Stärke. Und sie vertritt eine ernste Sache.

Und warum sollte die Prophetin des Klimagottes auch Humor haben, wo doch der heilige Ernst der Lage und das Allerheiligste selbst kein Lachen und nicht den Hauch einer reflektierten Relativierung dulden. Und nicht nur Greta Thunberg scheint in dieser Hinsicht keinen Spaß zu verstehen.

Jedes Wort dieser Beschreibung ist schlicht infam. Die Argumentation ist zunächst von hinten nach vorne konstruiert. Zunächst liest man nach, wodurch sich Menschen mit Asperger-Syndrom auszeichnen und strukturiert danach seine Wortwahl: kein Lachen, keine reflektierte Relativierung. Das nennt man Selffulfilling Prophecy. Und schwups wird daraus scheinbar ein Argument: die hat ja nicht mal Humor und kann nicht über sich selbst lachen.[9] Als wenn das ein Argument wäre. Es ist nur ein möglicher Ausdruck ihrer genetischen Disposition. Aber man bittet auch keinen Legastheniker zum Buchstabenrätsel und keine Diabetiker zum Schokoladenwettessen.

Und als Prophetin wird Greta Thunberg hier nur bezeichnet, um unterstellen zu können, sie fühle sich durch einen „Klimagott“ berufen, weil Propheten ohne Götter kaum zu denken sind. Die Trope vom „Klimagott“ stammt übrigens aus dem rhetorischen Arsenal der Rechten unserer Gesellschaft, insbesondere auf Tichyseinblick finden wir ihn, aber auch auf den pi-news.[10]

Um aber Greta Thunberg als Prophetin verstoßen zu können, muss sie sprachlich erst als Prophetin ins religiöse Lager eingepasst werden. Vom heiligen Ernst oder gar Allerheiligsten hat Greta Thunberg aber nie gesprochen. Sie wird hier zunächst mit Religiösem kontaminiert, um ihr anschließend das scheinbar Religiöse als unangemessen austreiben zu können. Das ist intellektuelle Taschenspielerei.

Die bestallten Hofpropheten, die derart gegen die alternativen Klima-Kritiker wettern, brauchen ja auch nicht für ihre Worte einstehen. Wenn sich erweist, dass sie Unrecht hatten, ist es zu spät. Man kann sich nun fragen, was Menschen so irritiert, dass sie sich zu derartigen Entgleisungen gegenüber einer Jugendlichen herausgefordert fühlen. Da kann man durchaus Gründe benennen.

In der TAZ schrieb Ingo Arzt m.E. zu Recht:

Klimaschutz ist ein moralischer Imperativ geworden, ein Dauerappell und die Beilage zu jedem verdammten Schnitzel. Niemandem ist der Döner aus dem Mund gerissen worden, keine Mallorcareise ist einen Cent teurer, aber ein Teil der Öffentlichkeit fühlt sich eben in seiner inneren Ruhe behelligt.[11]

Meines Erachtens trifft es das präzise: man bekommt ein schlechtes Gewissen ob seiner eigenen Handlungen bzw. Nicht-Handlungen und prügelt auf die Botin ein, die einem vermeintlich das schlechte Gewissen bereitet hat. In diesem Falle Greta Thunberg.

Am Ende seiner Invektive schreibt Frisch:

Und was heißt das nun für den FUCK-YOU-GRETA!-Aufkleber? Soll ich oder soll ich nicht? – Natürlich nicht. Ich würde ja den Teufel mit Beelzebub austreiben und an die Stelle des einen Wutbürgertums ein anderes Wutbürgertum, vielleicht sogar ein Trotzbürgertum setzen.

Da fragt man sich doch, wer hier der Teufel ist und was der Beelzebub. Letzteres ist offenkundig die öffentliche Herabsetzung der 16-jährigen Greta Thunberg. Ersteres ist aber eben nicht die von Frisch so benannte Klima-Hysterie oder die Klima-Häresie, sondern Greta Thunberg selbst. Sonst macht ja der Aufkleber keinen Sinn.

Man muss sich das wirklich einmal vor Augen halten: am Anfang des 21. Jahrhunderts bezeichnet ein lutherischer Theologe eine junge Klima-Aktivistin zumindest sprichwörtlich als Teufel. Und wir dachten, diesen mittelalterlichen Teil von Martin Luther hätten wir hinter uns gelassen. Nun liebäugelt ja auch der gegenwärtige Papst mit der Rede vom Teufel, aber so katholisch war mir die evangelische Kirche bisher nicht vorgekommen. Nun könnte man einwenden, Frisch habe doch nur eine bekannte Redewendung benutzt. Aber wer Sprache einsetzt, hat immer die Wahl. Er wird nicht gezwungen, ein bestimmtes Sprachbild zu verwenden und wenn er es dennoch tut, muss er auch für dessen Implikationen einstehen.

Das gilt auch für den Gebrauch des schrecklichen Wortes „Wutbürger“. Die Rede vom Wutbürgertum selbst ist herabsetzend und verwerflich. Sie unterstellt, der Protest gegen die Vernichtung der Umwelt und die Schädigung des Klimas erfolge aus diffuser Wut und nicht aus begründeten Argumenten. Das ist selbst von Ressentiments getränkt bis ins Letzte. Da empfehle ich doch einmal die intensive Lektüre jener Links, die Rezo unter sein Protest-Video gesetzt hat. Die Protestbewegung der Fridays-for-Future-Demonstranten auch nur ansatzweise mit der Pegida-Bewegung zu vergleichen ist buchstäblich unsäglich.

Nicht einmal rhetorisch kann man sich dagegen fragen, ob ein Theologe einen derartigen Aufkleber auf sein Auto kleben könne. Schon die Frage an sich inkludiert, dass sie überhaupt denkbar ist. Dass es also irgendeine Möglichkeit gäbe, diese verbale Entgleisung als berechtigte anzusehen. In keiner aller denkbaren Welten ist es das. Es ist und bleibt ein Ausdruck moralischer Verkommenheit, der durch nichts zu rechtfertigen ist. Es ist die gleiche Logik mit der Pegida-Demonstranten Merkel symbolisch am Galgen aufhängen. Das lässt sich niemals legitimieren.


Nach der rüden Beschimpfung „Fuck you“ kommt an zweiter Stelle eine Denunziationsformel, von der man gedacht und gehofft hatte, sie wäre seit 100 Jahren aus dem Sprachgebrauch (nicht nur gegenüber Frauen) verschwunden. Gemeint ist das Wort Hysterie[12]:

hysterisch Adj. ‘auf Hysterie beruhend’, allgemein ‘übertrieben leicht erregbar, übertrieben erregt’, Entlehnung (18. Jh.) aus lat. hystericus, griech. hysterikós (ὑστερικός) ‘die Gebärmutter betreffend, von ihr herkommend’, gebildet zu griech. hystéra (ὑστέρα) ‘Gebärmutter’. Hysterie f. ‘abnorme Reaktionsweise mit übersteigerten Ausdruckserscheinungen, Neurose, bei der neben psychischen Störungen auch körperliche Beschwerden ohne nachweisbare somatische Ursache bestehen’ (2. Hälfte 19. Jh.), vorher allgemeiner ‘körperliches und psychisches Unwohlsein bei Frauen’; als Terminus der Medizin im 18. Jh. (wie medizin.-lat. Hysteria) zum griech.-lat. Adjektiv gebildet. Die Bezeichnung erklärt sich daraus, daß bei den Ärzten der Antike und noch im frühen 19. Jh. krankhafte Veränderungen an der Gebärmutter als Ursache derartiger Beschwerden angesehen werden. Noch bis zum Ende des 19. Jhs., bis zur Entwicklung der Neurosenlehre (Freud), gilt Hysterie als eine nur bei Frauen auftretende Krankheit.[13]

Im Volksmund bleibt die Bezeichnung “hysterisch” weiterhin mit als negativ empfundenen Vorstellungen vor allem über das weibliche Geschlecht verbunden und wirkt als Diagnose stigmatisierend. Im Alltagsgebrauch der deutschen Sprache sind diese Wertungen bis heute gut aufspürbar wie das Wortprofil[14] des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache zeigt:

In der medizinischen Fachsprache wird das Wort heute nicht mehr verwendet. Das nun neu aufgekommene Wort Klima-Hysterie artikuliert sich also im vollen Bewusstsein seiner Frauen herabsetzenden, diffamierenden Wirkung. Bis 1991 gibt es das Wort so gut wie gar nicht und bekommt dann erst ab 2003 seine endgültige Konjunktur, die vor allen in konservativen und rechten Blättern bis heute andauert. Konnte man Anfang der 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts noch mit der Sehnsucht nach einem neuen, sozusagen ‚motivierenden‘ Bedrohungsszenario nach dem Ende des Kalten Krieges argumentieren[15], so trat dieses Motiv nach und nach in den Hintergrund.

Anfang der 90er-Jahre bestand aber zugleich erstmalig ein nahezu einhelliger Konsens unter allen Fachwissenschaftlern auf der Welt, dass es einen globalen, menschengemachten Klimawandel gibt.[16] Von Hysterie spricht in diesem Kontext kein Klima-Wissenschaftler mehr.

Der Artikel von Ralf Frisch trägt nun den Titel „Zwischen Klimahysterie und Klimahäresie“. Und der Teaser zum Text sieht so aus:

Das Wort Hysterie bzw. hysterisch kommt im gesamten Artikel abgesehen von der Überschrift nur vier Mal vor. In keinem Fall wird die „Diagnose“ in irgendeiner Form begründet. Zunächst hält Frisch den schon thematisierten Aufkleber für „die prägnanteste klimahysteriekritische Botschaft …, die man sich vorstellen kann“. Hier wird gar nichts begründet oder diagnostiziert, sondern nur ein denunziatorisches politisches Schlagwort übernommen. Der zweite Satz lautet so:

Ich erachte die Chance solch kritischer theologischer Reflexion zumal in einer medial hysterisierten Öffentlichkeit, die auch kirchlicherseits dazu neigt, entdramatisierende Differenzierung als mangelndes Problembewusstsein, ja als ethische Häresie zu diskreditieren, heute indes für ziemlich gering.

Auch hier wird die Hysterie nicht diagnostiziert, sondern schlicht thetisch gesetzt, ganz abgesehen davon, dass mir kein einziger Fall bekannt ist, dass jemand die Bestreitung des menschengemachten Klimawandels als „Häresie“ bezeichnet hätte. In der Sache behauptet Frisch, die Sorge um den Klimawandel sei Ergebnis einer „medial hysterisierten Öffentlichkeit“. Ehrlich gesagt, das empfinde ich als akademische Variante des Pegida-Vorwurfs der „Lügenpresse“. Begründet wird es nicht.

Das dritte Vorkommen des Wortes lautet:

Dazu muss man aber ein Tabu brechen: das Tabu vernünftiger, gebotener und sinnvoller Kritik an der herrschenden Klimaschutzsemantik und an der herrschenden Klimahysterie. Diejenigen, die dieses Tabu verhängen und solche Kritik verbieten, agieren übrigens nicht viel anders als jene, die ihren Gott – notfalls mit Gewalt – gegenüber jeglicher Religionskritik verteidigen.

Auch das borgt viel von der AfD-Rhetorik: Dass man in der Bundesrepublik Deutschland nicht frei seine kritische Meinung sagen dürfe. Und dass, wer es tue, einen Tabu-Bruch begehe. Meint er das ernst? Es gäbe in Deutschland ein Tabu gegenüber vernünftiger Kritik, ja ein Verbot(sic!) solcher Kritik? Da muss man schon ein ausgewachsener Verschwörungstheoretiker sein. In diesem Land kann jeder frei sagen, was er will, er kann ungestraft 16jährige Aktivistinnen beleidigen und unbegründete Diagnosen stellen. Ralf Frisch ist das beste Beispiel dafür. Aber ohne angeblichen Tabu-Bruch geht es heute ja nicht mehr. Da hat die Rechte von der Linken gelernt.

Auch hier ist das eingeschobene „notfalls mit Gewalt“ infam, denn es insinuiert, wie die religiösen Fundamentalisten seien auch Klimaschützer gewaltaffin. Dass er damit zugleich Tausende von renommierten Fachwissenschaftlern auf der ganzen Welt denunziert, kümmert ihn nicht.

Unmittelbar im Anschluss kommt ein letztes Mal das Wort „hysterisch“ vor. Nur dieses Mal geht es nicht um Klima-Hysterie, sondern um hysterische Reaktionen auf Kritik:

Und vielleicht ähnelt die hysterische Reaktion auf jene, die nicht der klimakatastrophischen Alles-oder-Nichts-Logik erliegen, sondern das Ganze dialektischer und differenzierter sehen, in der Tat der Kritik intoleranter Gläubiger an Andersdenkenden und Andersglaubenden.

Was ist das für ein Schwarz-Weiß-Denken eines systematischen Theologen, der es doch besser wissen müsste? Auf der einen Seite die klimakatastrophischen Alles-oder-Nichts-Denker und auf der anderen Seite die vernünftigen, dialektisch denkenden, differenzierten Klimaschutz-Kritiker? Das ist mir zu viel vom Kampf der Söhne des Lichts gegen die Söhne der Finsternis.


Entgleisung III

„Häresie“ = falsche Lehre (von altgriechisch αἵρεσις haíresis, „Wahl“, „Anschauung“, „Schule“)

Das Erste, was ich hier lernen musste, war, dass das Wort Häresie in der deutschen hochkulturellen literarischen Sprache von Luther bis Tucholsky so gut wie überhaupt nicht vorkommt. Ganze neun Fundstellen von nur vier Autoren nennt die Digitale Bibliothek mit ihren immerhin 602.000 Seiten deutscher Literatur. [Nur zum Vergleich: das Wort ‚Lehre‘ kommt 4.573mal vor]. Häresie ist also wirklich Ghettosprache der Theologen.[17] Das hätte ich vorher nicht gedacht.

Zum Zweiten müssen die nichttheologischen Leserinnen und Leser begreifen, welch große und zugleich rare Münze das Wort „Häresie“ im Protestantismus darstellt. Nicht einmal die Drohung mit dem Einsatz der Atombombe konnten Protestanten konsensuell als Häresie bezeichnen. Mit den Barmer Thesen benennen wir allerdings den nationalsozialistischen Weltanschauungsstaat als Häresie, später dann den Rassismus, wie er sich in Südafrika artikulierte. Es wäre daher schon etwas Ungeheuerliches, wenn das Engagement oder der fehlende Einsatz für die Umwelt als Häresie bezeichnet werden sollte. Zwar gibt es konsensuelle religiöse Bestimmungen zur Bewahrung der Schöpfung, aber keine Lehraussagen.

Häresie ist zunächst einmal ein Konstrukt, das den frühesten Christen unvertraut ist. Sie wuchsen mit pluralen Vorstellungen von christlicher Theologie auf. Häresie ist – um auch das festzuhalten – keinesfalls eine Haltung von Menschen, die einer anderen Religion angehören. Häresie-fähig sind wirklich nur Angehörige der eigenen Religion. Muslime und Juden sind keine Häretiker, Atheisten auch nicht. Das macht es schon schwierig, Anhänger eines vorgeblichen Klimagottes, der nicht der christliche Gott wäre, mit dem Verdacht der Klima-Häresie zu behaften. Das geht nur für „Abgefallene“ der christlichen Religion, hier der evangelischen Kirche in Deutschland.

Und hier stößt man auf die Schwierigkeit, dass El / Jahwe ursprünglich ein Wettergott ist. Er ist fürs Klima zuständig. Auf das Klima zu achten, hieß in Israel, auf El bzw. Jahwe zu achten. In der Sturmstillungsgeschichte schwingt davon noch etwas nach. Etwas Ähnliches drücken die christlichen Kirchen mit dem bereits 1983 von veritablen Theologinnen und Theologen aus aller Welt begründeten konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung aus. Dort heißt es in der Grundüberzeugung VIII:

„Wir bekräftigen, dass die Erde Gott gehört. Das Land und die Gewässer bedeuten Leben für die Menschen […] Wir bekräftigen deshalb, dass das Land Gott gehört. Der Mensch soll Boden und Gewässer so nutzen, dass die Erde regelmäßig ihre lebensspendende Kraft wiederherstellen kann, dass ihre Unversehrtheit geschützt wird und dass die Tiere und Lebewesen den Raum zum Leben haben, den sie brauchen. Wir werden jeder Politik widerstehen, die Land als bloße Ware behandelt […] Wir verpflichten uns zur Solidarität mit Urvölkern, die um ihre Kultur, ihre Spiritualität und ihre Rechte auf Grund und Boden sowie auf Gewässer kämpfen. Wir verpflichten uns zur Solidarität mit Landarbeitern und armen Bauern, die sich für eine Bodenreform einsetzen, sowie mit den Saisonlandarbeitern. Wir verpflichten uns außerdem, den ökologisch notwendigen Lebensraum anderer Lebewesen zu achten.“[18]

Das ist noch nicht alles: die erste europäische ökumenische Versammlung 1989 in Basel fordert „eine ökologische Weltordnung“!! Dies ist es, worauf Christen sich konsensuell geeinigt haben. Und man ist gespannt, wie sich daraus und daneben eine Häresie entwickeln kann, die zurecht als Klima-Häresie bezeichnet werden kann. Wie entwickelt Ralf Frisch seine Argumente?

Abgesehen vom Titel und vom Teaser kommt das Wort Häresie oder häretisch achtmal im Text vor. Das erste Beispiel hatten wir schon kennengelernt. Danach neigt die (evangelische) Kirche 

… in einer medial hysterisierten Öffentlichkeit … dazu …, entdramatisierende Differenzierung als mangelndes Problembewusstsein, ja als ethische Häresie zu diskreditieren ….

Wiederum muss für Nicht-Theologen erläutert werden, dass Wort-Kombinationen wie „ethische Häresie“ immer eine lange, kontroverse Vorgeschichte haben, in der Regel sind es Kampfbegriffe, in diesem Fall ist es „ein polemisches Schlagwort zur Stigmatisierung von Kontrahenten“.[19] In der Diskussion um die Armut der Welt bezeichnete Willem Adolf Visser ’t Hooft, der erste Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, 1968 das Nicht-Kümmern um die Nöte der Menschen in der Welt als „ethische“ bzw. „moralische Häresie“:

„Es muß uns klar werden, daß die Kirchenglieder, die in der Praxis ihre Verantwortung für die Bedürftigen irgendwo in der Welt leugnen, ebenso der Häresie schuldig sind wie die, welche die eine oder andere Glaubenswahrheit verwerfen.[20]

Frischs Vorwurf ist es nun, dass evangelische Christen ähnlich wie in der Diskussion von 1968 Skeptiker des menschengemachten Klimawandels als „ethische Häretiker“ bezeichneten. Einen Beleg dafür bleibt er schuldig. Denn während 1968 die „ethische Häresie“ explizit benannt wurde, fällt dieser Begriff in der Gegenwart nicht. Vielmehr fühlen sich die Skeptiker wie ethische Häretiker behandelt. Das ist aber etwas völlig anderes. Gefühl ist noch nicht Wirklichkeit.


Exkurs: Klima-Häresie

Die Recherche in Datenbanken und auf Suchmaschinen zeigt schnell, dass das Wort „Klima-Häresie“ bzw. „Environmental Heresies“ außerordentlich selten vorkommt. Tatsächlich bin ich nur zweimal in grundlegender Weise dieser Wortkombination begegnet. Einmal in einer „Prophetie“ des Aktivisten Stewart Brand in der MIT Technology Review[21], zum zweiten in dem Buch „Environmental heresies“ von Juha Hiedanpää und Daniel W. Bromley.[22] Und hier ist es nun ganz interessant zu schauen, wo die Autoren stehen und gegen was sie sich wenden. Denn dabei zeigt sich, dass der Begriff der Umwelt-Häresie jedes Mal in einem völlig anderen Sinne verwendet wird, als es Ralf Frisch unterstellt.

Kommen wir zunächst zu Stewart Brand: Er macht einen ziemlich saloppen Gebrauch des Wortes „Häresie“ im Sinne der Änderung des Kurses einer Bewegung. Er meint 2006 prophezeien zu können, dass innerhalb von 10 Jahren (also bis 2016) die Umweltbewegung sich in vier Punkten von der bisherigen Lehre abkehren wird:

Over the next ten years, I predict, the mainstream of the environmental movement will reverse its opinion and activism in four major areas: population growth, urbanization, genetically engineered organisms, and nuclear power.

Die erste so bezeichnete “Häresie“, nämlich die Anerkenntnis des Falls der Geburtenrate in den letzten Jahrzahnten war m.E. nie in der Umweltbewegung kontrovers. Die Zahlen sind ja bereits seit 1980 eindeutig. Eine Häresie im Sinne einer Lehrabweichung sehe ich nicht. Die zweite „Häresie“ ist die Wende von der Wertschätzung der Dörfer zur Wertschätzung der Städte. Ich bin mir nicht sicher, ob das für die Umweltbewegung zumindest in Deutschland relevant ist. Sie ist in Deutschland vor allem eine urbane Bewegung. In ihrer Argumentation spielt der Stadt-Land-Gegensatz eine untergeordnete Rolle. Die dritte „Häresie“ ist die Zuwendung zur Biotechnologie, also zur Gentechnik. Die ist nicht erfolgt. Freilich war die Haltung der Umweltschutzbewegung auch nie pauschal dafür oder dagegen, sondern höchst differenziert. Die vierte „Häresie“, die Brand sieht, ist die Hinwendung zur Atomenergie, von ihm notiert unter: Let’s Go Nuclear. Er meint: “The environmental movement has a quasi-religious aversion to nuclear energy.” Und das werde sich ändern. Da sehe ich schwarz, was die prophetischen Fähigkeiten von Brand angeht. Zumindest bis 2016 hat sich die weltweite Umweltschutzbewegung nicht zur Atomkraft bekehrt, auch wenn es hier durchaus kontroverse Haltungen gibt.

Summa summarum sind die von Stewart Brand erwarteten „Häresien“ keine Ausschlüsse von Anderen, keine Lehrverurteilungen, sondern Meinungskorrekturen. Mit dem, was Ralf Frisch in seinem Artikel insinuiert, haben sie nichts zu tun.

Das trifft eher für das Buch von Juha Hiedanpää und Daniel W. Bromley zu. Allerdings ist deren Ansatz eher ein sprach- und diskursanalytischer. Es geht darum, wie Leute miteinander reden. Der Verlag fast das Buch so zusammen:

This book systematically deconstructs the pervasive and counter-productive discourse surrounding environmental policy. The authors argue that environmental policy problems are always framed such that conflict is inevitable - a particular project or policy must be accepted versus a specific environmental asset that must be protected. Over the course of 12 chapters, the authors demonstrate that confident yet contradictory assertions by contending interests preclude necessary deliberation and reason giving. They argue that deliberation is an important social process of reflecting upon the reasons for doing something. Their innovative approach allows discourse and collaboration to continue, until - after honest and informed deliberation - the better way forward is arrived at. This approach to environmental policy illustrates just how very constructive and enabling the quest for the reasonable can be.

Danach wäre das, was Ralf Frisch in seinem Text vornimmt, das Gegenteil von dem, was den Autoren vorschwebt. Denn in die Kategorie „honest and informed deliberation” gehören seine Ausführungen gerade nicht.

Was das ganze Buch mit dem theologischen Begriff der Häresie zu tun hat, wird nicht deutlich. Nur einmal kommt das Wort überhaupt vor und dort wird es so verwandt:

The essential heresy raised here is that there are no right answers to complex questions. This has been popularized by the idea of wicked problems. However, the flaw in this designation is that it seems to suggest that some problems are easy to solve, and others —the wicked ones — are not.

Das hat nun gar nichts mit der theologischen Idee der Häresie zu tun, die ja nun gerade um die „rechte Lehre“ und die „falsche Lehre“ kreist. Nicht umsonst kommen Worte wie „religiös“ oder „Religion“ oder Kirche in dem ganzen Buch nicht vor. Man könnte eher sagen, der Gebrauch, der hier vom Wort „Häresie“ gemacht wird, würde bei uns unter Streitigkeiten, Konflikte oder sogar nur Differenzen laufen. Und die Antwort, die die Autoren geben, läuft eher auf eine Gesprächsmoderation, als auf den theologischen Begriff der Häresie hinaus. Ansonsten ist das Buch sehr hilfreich, weil es diskursanalytisch aufzeigt, wie unterschiedlich Begriffe in der Ökologie-Diskussion verwendet werden.

Notice also that while most decisions scientists use the term risk as a synonym for probability, the climate-change literature adopted the curious custom of using risk as a synonym for harm — that is, damages.

Das ist für das kontroverse Gespräch durchaus hilfreich. Einen derartigen Einsatz zur Klärung der Gesprächsgrundlagen sehe ich bei Ralf Frisch nicht.


Denn Frisch kommt in seinem Text nun zum Kern seines Arguments, seiner dialektischen Volte: der ökologische Häresie-Vorwurf sei die eigentliche Häresie. Er schreibt:

A propos ethische Häresie: Es ist augenfällig, dass es im gegenwärtigen Christentum eigentlich keine dogmatischen, sondern nur noch ethische Häresien gibt. Allerdings könnte es sein, dass der Ethizismus unserer kirchlichen Gegenwart seinerseits häretische Züge trägt. Denn womöglich ist das, was sich für das Gegenteil einer Häresie, nämlich für den Königsweg zur Erlösung der Menschheit hält, die eigentlich theologische Häresie. Und zwar deshalb, weil sie letztlich nicht mehr an einen wirkmächtigen Gott, sondern nur noch an den Menschen glaubt und diesen Glauben – beispielsweise mit dem Argument der biblischen Beauftragung des Ebenbildes Gottes zur Bewahrung der Schöpfung – gegen jeden anderen Glauben immunisiert.

Diese Sequenz lebt von zahlreichen Unterstellungen, die nicht einmal ansatzweise belegt werden. Ja, vielleicht gibt es keine erklärten dogmatischen Häresien mehr. Es gibt aber auch keinen Versuch der Erklärung einer „ethischen Häresie“ – anders als 1968. Es gab selbst damals nur einen metaphorischen Gebrauch des Wortes „Häresie“ für ethische Debatten. Heute unterstellt Frisch den von ihm Kritisierten, sie unterstellten anderen eine „ethische Häresie“, um dann in dieser Beurteilung die eigentliche Häresie zu erblicken. Dann steht und fällt sein Argument aber damit, ob die Fridays for Future Bewegung oder die Klima-Aktivisten tatsächlich eine ethische Häresie im theologischen Sinn erklären. Dafür liefert er außer vagen Zuschreibungen keinen Beleg. Nun aber wird auch klar, warum er zuvor die Umweltschutzbewegung religiös aufladen bzw. kontaminieren musste. Nur dann macht der Gebrauch des außerhalb der Kirche ja nicht gebräuchlichen Wortes „Häresie“ überhaupt Sinn. Das Wort „Häresie“ wird hier also eher metaphorisch gebraucht. Was ist es dann noch wert?

Nun kommt die Volte mit dem häretischen Häresievorwurf. Der kann sich nun nur noch auf die Kirchenmitglieder bzw. die Christen beziehen. Begründet wird diese Häresie-Diagnose mit einem angeblich mangelnden Glauben an die Wirkmächtigkeit Gottes. Das ist einerseits ein interessantes Argument, aber es ist auch ziemlich denunziatorisch, weil es pauschal jedem Handelnden mangelnden Glauben an Gottes Macht unterstellt. Schon die Ausformung des Christentums, wie Dorothee Sölle sie forciert hat, geht mit diesem Ansatz nicht mehr konform. Sie teilte nicht die Vorstellung eines allmächtigen, über allem schwebenden Gottes. Sie ging davon aus: Gott hat keine anderen Hände als unsere, denn „Gott braucht uns und wir brauchen Gott“.

Ich will einmal an einem historischen Beispiel eines anderen systematischen Theologen zeigen, wohin die Priorisierung des Wirkens Gottes führen kann. Ende der 50er-Jahre des 20. Jahrhunderts fragten sich die Christen, wie das Dritte Reich in ein theologisches Modell eines wirkmächtigen Gottes integriert werden kann. Wie konnte eine Theologie nach Auschwitz aussehen? Und Helmut Thielicke hatte eine ganz andere Antwort parat als Dorothee Sölle:

Gottes Gerichte haben … sehr oft einen ganz anderen Stil: Er läßt ... (die Menschen) einmal so weitermachen, damit sie sehen, wie weit sie kommen. Er ließ das Experiment des Dritten Reiches konsequent bis zu Ende durchspielen, und keines der sieben oder elf Attentate auf Hitler durfte dieses Experiment unterbrechen, niemand durfte seinen kommenden Gerichten in den Arm fallen oder sie vorwegnehmen.[23]

Das ist ein konsequenter Glaube an die Wirkmächtigkeit Gottes, ein Glaube, der einem zugleich den Atem verschlägt. Da werden die Hitlerattentäter implizit zu Häretikern, weil sie den Nazismus der ethischen Häresie bezichtigten. Und deshalb durfte nach Gottes Willen eben auch keines der Attentate gelingen, mussten Millionen Menschen sterben, damit Gott seine Wirkmacht erweisen konnte. Das ist eben auch eine mögliche Lesart des unbedingten Vertrauens in die Wirkmächtigkeit Gottes. Noch einmal Helmut Thielicke:

Das Leiden ist auf keinen Fall programmwidrig. Was auch an Grauen uns umgeben mag; dies alles kann unserem Herrn die Pläne nicht durchkreuzen, sondern das alles liegt gerade im Zuge seiner Pläne.[24]

Ich will Ralf Frisch keinesfalls unterstellen, dass er Thielickes Position teilt. Ich will nur aufzeigen, wie problematisch ein solches Beharren auf der Wirkmächtigkeit Gottes sein kann. In der Konsequenz muss dies intellektuell zu einer „Theologie nach dem Tode Gottes“ führen.[25]

Ralf Frisch ist selbstverständlich kein Klimawandel-Leugner oder -Skeptiker. Er betont:

Über die politischen, technologischen und ökonomischen Wege zur Abwendung der Klimakatastrophe also kann und muss man streiten. Aber um darüber wirklich streiten zu können und sich nicht unentwegt dem Verdacht ökologischer Häresie oder gar Blasphemie gegenüber zu sehen, muss man das Klimakatastrophenszenario erst einmal als Szenario innerhalb des Vorletzten und eben nicht im Reich der letzten Dinge verorten.

Freilich ist allein er es, der behauptet, Klimawandel-Skeptiker würden unentwegt (sic!) der Blasphemie oder der Häresie bezichtigt. Von Greta Thunberg habe ich dergleichen nicht gelesen. Aktuell bewegen sich Klima-Aktivisten in der Rolle von Apokalyptikern im gut christlichen Sinne: sie enthüllen, was ist und was kommen könnte. Aber sie beten nicht die Offenbarung des Johannes herunter. Nichts ist am apokalyptischen Denken verwerflich, insofern man Apokalypse im ursprünglichen Wortsinn verwendet. Die Klima-Aktivisten enthüllen, dass die Regierungen der Welt Beschlüsse fassen, von denen sie gar nicht denken, sie auch umzusetzen. Die Klima-Aktivisten enthüllen, dass unser Handeln globale Konsequenzen hat, die zur Zerstörung der Umwelt führen. Manches mag strittig sein, aber niemand ist gehindert, seine alternativen Forschungen dazu peer-review-gestützt bei Science oder Nature zu veröffentlichen. Dort können sie unter Fachleuten erörtert werden. Da gibt es keine Häresien oder wahre Gläubige, da zählen nur Belege. Es ist die Stärke des Videos von Rezo, auf Hunderte derartiger überprüfter Forschungsberichte verwiesen zu haben, m.a.W., seine scheinbare Invektive belegt zu haben. Bei Ralf Frisch fehlt mir das. Es ist und bleibt eine billige Polemik, die sich als Spiel mit dem Feuer tarnt.


Nun könnte man Frischs Text als einmaligen, ziemlich danebengeratenen, aber eben doch raren Ausrutscher eines deutschen Theologen an einer Evangelischen Hochschule deuten. Nur dass man bei weiteren Recherchen auf durchaus kompatible Texte stößt, was es dann doch berechtigt erscheinen lässt, vom Elend heutiger Theologie und nicht nur eines Theologen zu schreiben. Bernd Beuscher, Professor an einer Evangelischen Hochschule in Westfalen, äußert bei einem später veröffentlichten Vortrag Folgendes:

Dass Erwachsene Entscheider und Entscheiderinnen eine junge Frau mit Asperger-Spezialbegabung wie Greta Thunberg auf Klima- und Wirtschaftskonferenzen vorlassen, ist fahrlässig, schändlich und gefährlich. Während nämlich eine Person mit autistischem Profil mit Schwarz-Weiß-Denken, Rigidität und Panik umgehen kann, ist dies alles für durchschnittlich aufgescheuchte Seelen Gift. Die besondere Begabung von Greta Thunberg kann in einem Team hervorragende Dienste leisten (sie würde zum Beispiel beim Profiling die Leistung ihrer durchschnittlichen Kollegenschaft weit übertreffen). Aber als politische Anführerin und moralisches Vorbild ist sie eine gefährliche Fehlbesetzung. Hier ist im Gegenteil die besondere Begabung für die Kunst der Diplomatie gefragt. Deren buchstäblich langweilige Instrumente wie Geduld, Kompromiss und Kleinschrittigkeit bringen allerdings auf dem Markt der Aufmerksamkeit und der Demokratie kaum noch Quote. Greta Thunberg ist noch jung. Aber bald schon wird ihr dämmern, dass ihr als Protest gedachter Akt nur aktiver Teil der grassierenden gesellschaftlichen Parentifizierung ist, also der Verantwortungslosigkeit der Erwachsenen, die sie beklagt. Bisher war dies – zum großen Entsetzen der Vorläufer - noch immer die Vorstufe zu Terrorismus. Gott bewahre uns vor einer Weltrettungskirche der Selbstgerechtigkeit mit einer aspergerbegabten Päpstin.

Ich halte diese Redeform für durch und durch menschenverachtend. Noch einmal Wort für Wort:

Greta Thunberg ist noch jung. Aber bald schon wird ihr dämmern, dass ihr als Protest gedachter Akt nur aktiver Teil der grassierenden gesellschaftlichen Parentifizierung ist, also der Verantwortungslosigkeit der Erwachsenen, die sie beklagt. Bisher war dies – zum großen Entsetzen der Vorläufer - noch immer die Vorstufe zu Terrorismus. Gott bewahre uns vor einer Weltrettungskirche der Selbstgerechtigkeit mit einer aspergerbegabten Päpstin.

Greta Thunberg als Terroristin in spe oder alternativ als asperger-‚begabte‘ Päpstin. Wie widerlich kann man nur schreiben? Aber vermutlich ist auch dies nur ein „kleines Spiel mit dem Feuer“ aus der Hand eines Evangelischen Theologen. Ich leide selbst an einer Körperbehinderung, einer genetisch bedingten Stoffwechselerkrankung, die mein ganzes Leben rund um die Uhr bestimmt. Ich kann mir vorstellen, was es bedeutet, wenn ausgerechnet dies bei der Beurteilung einer Person zum Kriterium wird. Nicht mehr das, was man sagt oder vertritt, wird herangezogen, sondern eine genetische Anlage, die einen von der „normalen“ Gesellschaft unterscheidet.

Greta Thunberg agiert angeblich auch nicht wirklich selbst. Der sich als Psychoanalytiker tarnende Theologe beschließt in der Ferndiagnose, es sei ein „als Protest (nur) gedachter Akt“ (also eine Selbsttäuschung der Patientin), der in Wirklichkeit aber Ausdruck der Parentifizierung unserer Gesellschaft ist. Thunberg ist quasi das jugendliche Komplement zu Herbert Grönemeyers parentifizierendem Song „Kinder an die Macht“. Und das, obwohl sie explizit keine Macht beansprucht; aber das sind ja immer die Schlimmsten. Nun ist die Übertragung familientherapeutischer Beobachtungen auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen in sich schon höchst problematisch und im konkreten Fall in der Sache kaum begründet.

Auch Anderes in dieser verqueren Fern-Diagnostik lässt einen den Kopf schütteln. Wir Deutschen haben im Verlauf der Geschichte 16- und 17-Jährige auf das Schlachtfeld geschickt, wir Europäer lassen in einigen Staaten 16-Jährige wählen, aber wenn sie sich um die Ökologie dieser Welt sorgen, erkennen wir darin ein Symptom der Parentifizierung der Welt und eine Vorstufe des Terrorismus. Das halte ich nun wiederum für pathologisch – aber selbstverständlich nur ganz unfachlich subjektiv. Es gibt in der Fachwissenschaft eine lange Diskussion darüber, ob nicht ein guter Teil unserer Professoren und Professorinnen Asperger-Züge trägt. Das ist höchst spekulativ, aber wenn es zuträfe, wen würden wir dann noch auf Klima- und Wirtschaftskonferenzen vorlassen? Es gehört eigentlich zur Stärke der Wissenschaft, solche Pathologisierungen außen vor zu lassen. Die Theologie des Paulus wird nicht besser oder schlechter, nur weil er eventuell ein Epileptiker war. Oder hätte ihn das vom Papststuhl ausgeschlossen? Gott bewahre uns vor einem epilepsie-begabten Papst? Das ist wirklich eine Entgleisung.


Schlusswort: Our House is on Fire


Mein Epilog – als Publizist geschrieben

Die Redaktion von Zeitzeichen hat sich offenbar entschieden, den Text von Ralf Frisch nur online zu publizieren, nicht aber in der Print-Ausgabe. Ich bin darüber in diesen Zeiten, in denen wir über die Digitalisierung in der Kirche streiten, etwas irritiert. Wie soll ich das deuten und was impliziert diese Entscheidung? Es ist klar, beim SPIEGEL sind die beiden Redaktionen getrennt, nicht alles, was im SPIEGEL gedruckt wird, erscheint bei SPIEGEL-ONLINE (allenfalls als Appetizer), nur Einiges von dem, was online erscheint, wird auch gedruckt. Mir war freilich nicht aufgefallen, dass auch Zeitzeichen derartige Unterschiede macht. Bisher war es so, dass einige Print-Artikel (als Appetizer?) online gestellt wurden, die online aufzufindenden Artikel aber auch im Heft auftauchten. Hier ist das nun nicht der Fall. Und ich frage mich, warum. Ist es ein bewusst vorgenommener Medienwechsel, der prüfen möchte, welche Texte für welches Medium geeignet sind?

Und ist dabei das Internet nur eine Spielwiese, ein Format, bei dem man solche Texte präsentiert, die man einer etablierten bzw. kultivierten Leserschaft nicht zumuten möchte? Diese Spielwiese kennen ja viele Medien: sie präsentieren Texte von jungen Autoren, die ihre ersten Schritte machen. Und die können so Erfahrungen sammeln. Aber darum kann es hier nicht gehen. Ralf Frisch ist ein etablierter Autor.

Hat man daher gedacht, im Internet würde sein „Spiel mit dem Feuer“ weniger Aufsehen erregen? Das wäre eine schreckliche Verkennung der Realitäten. Nur in der Print-Ausgabe wäre der Text auf das Ghetto der kirchlich Kulturinteressierten zu begrenzen gewesen. Es hätte vielleicht Ärger gegeben, gerade auch bei einer Zeitschrift wie Zeitzeichen mit ihrem bürgerlichen Ambiente. Das hätte man aber mit einem Gegenartikel befrieden können.

Online aber brauchen nur wollüstig am Krawall interessierte Plattformen der Ewiggestrigen wie idea (Der Beitrag von Frisch unter dem Titel „Fuck you Greta!“ steht auf der Internetseite des evangelischen Magazins „zeitzeichen“) und kath.net den Text aufgreifen und schon kann man die Wirkungsgeschichte überhaupt nicht mehr kontrollieren. Es ist ein Mem im klassischen Sinn geworden: Evangelischer Theologe: ‚Fuck you Greta!‘ Da kann man noch so eifrig nachträglich den Titel ändern, es hilft nichts mehr, das Mem ist in der Welt und wuchert.

Vielleicht war man sich aber von vorneherein der Brisanz des Artikels bewusst und traute sich aber nicht, einer an den normalen Standards journalistischer Arbeit sich orientierenden bürgerlichen Leserschaft und den noch bürgerlicheren Herausgebern den Text vorzusetzen und dachte, im Internet mit all seinen Aufgeregtheiten merkt es keiner? Das wäre nicht nur eine kardinale Fehleinschätzung der Wirkungsweise des Internets, das auf das Generieren von Memen geradezu fixiert ist, sondern auch eine Missachtung der Leserinnen und Leser des Magazins.

Beide Haltungen wären fatal. Das Medium des Internets muss ebenso ernst genommen werden wie das Medium der Gutenberg-Galaxis. Es kann gut sein, dass jedes Medium – wie beim Pinguin – andere Verhaltensweisen und Bewegungsformen erfordert oder ermöglicht. Meines Erachtens wäre dann aber das Internet auf direkte Konfrontationen angelegt. Nicht in dem langweiligen Pseudo-Pro-und-Kontra-Stil, den Idea pflegt, bei dem immer schon einer gewonnen hat, sondern tatsächlich im Asterisci- und Obelisci-Stil des gegenseitigen Gedankenaustauschs, meinetwegen auch wie bei Luther und Eck in der Form der harten Polemik – unter Einhaltung argumentativer Standards. Dann darf man aber nicht einfach einen Text hinknallen, sondern muss die Leserinnen und Leser unmittelbar auffordern zu reagieren – ebenfalls unter Einhaltung argumentativer Standards. Diese müssen es sich aber verbitten können, als Häretiker bezeichnet zu werden oder als Menschen, die andere als ethische Häretiker bezeichnen.

Wäre das nicht etwas für Zeitzeichen? In der Tradition der Leipziger Disputation unter der Überschrift Asterisci-Obelisci ein Online-Format zu entwickeln? Die Asterisci wären dabei die herausfordernden Textsorten bzw. Grenzüberschreitungen, die Obelisci die grundlegenden Antworten. Und in dieser Kontroverskultur kann man verlieren – wie Luther in der Leipziger Disputation; aber ohne etwas zu verlieren – weil Luther dadurch nicht nur bei den Humanisten an Ansehen gewann. So etwas würde dem Medium des Internets gerecht. Online-Diskurs-Kultur, jenseits der unsäglichen Twitterei mit Anwürfen ad hominem. Es wäre zugleich Protestantismus in Reinkultur.

Anmerkungen

[1]    Die strukturierenden Liedtexte stammen aus dem bereits im Titel zitierten Lied „In the blackness of the night“ von Yusuf – Cat Stevens. Trotz aller geradezu zeitgenössischen Töne – Yusuf hat das Lied 2017 mit einem schönen Audio-Video wiederveröffentlicht – stammt es von 1967. Cat Stevens schreibt auf seiner Website (www.catstevens.com) dazu: “Blackness of the Night was one of my first ‘protest’ songs for the 60’s. Growing up in London after the War, the memories were strong and bombed ruins still riddled the City. It also reflected the feeling of emptiness wandering the streets at night alone, pondering how to survive in a dark unknown future. It’s got a lot of relevance to the situation of many refugee kids today, lost and abandoned, finding themselves separated from their families and homes in a hostile world.”

[2]    FSK-Bewertung des Films „Fack ju Göhte“ aus dem Jahr 2013.

[3]    Ralf Frisch, “Fuck you Greta”. Kleines theologisches Spiel mit dem Feuer, https://zeitzeichen.net/node/7759

[7]    Das gilt selbst dann, wenn der Untertitel eine Eintragung der Redaktion wäre. Auch die bekommt man als Autor ja vor Veröffentlichung zur Kenntnis.

[8]    https://de.wikipedia.org/wiki/Christoph_Schlingensief#Leben: „1997 wurde er bei seiner Kunstaktion Mein Filz, mein Fett, mein Hase auf der documenta X in Kassel von der Polizei festgenommen, da er ein Schild mit der Aufschrift „Tötet Helmut Kohl“ verwendete. Er rief auch „künstlerisch“ dazu auf, den FDP-Politiker Jürgen Möllemann zu töten.“

[9]    Während ich dies schreibe kommt die neueste Twitter-Nachricht von Greta Thunberg von ihrem Segeltörn. Das Bild zeigt sie lachend in die Kamera blickend und dazu schreibt sie: „Eating and sleeping well and no sea sickness so far. Life on Malizia II is like camping on a roller coaster!” (Das Leben auf Malizia II ist wie Camping auf einer Achterbahn!) Aber das ist vermutlich kein Humor.

[10]   Man könnte den Kommentar “Fasten für den Klimagott“ von Josef Kraus als Prequel zu Ralf Frischs Artikel lesen. Es ist, als habe er ihn nur auf Greta Thunberg aktualisiert. https://www.tichyseinblick.de/meinungen/fasten-fuer-den-klimagott/

[11]   https://taz.de/Kritik-an-Greta-Thunberg/!5615697/ Arzt spricht von „weltanschaulicher Pfadabhängigkeit“.

[15]   Ein frühes Beispiel dürfte Sonja Margolinas „Gemütliche Apokalypse“ sein: Margolina, Sonja (1995): Die gemütliche Apokalypse. Unbotmäßiges zu Klimahysterie und Einwanderungsdebatte in Deutschland. 1. Aufl. Berlin: Siedler. Schon darin wird gegen die “Klima-Hysterie“ mit einer angeblichen Verantwortungs-Ethik argumentiert. Bis heute hält sie an dieser Begrifflichkeit fest ohne freilich Peer-Review-gestützte Forschungsarbeiten zu benennen, die ihre Positionen stützen könnten.

[17]   Vgl. dazu die Liste der christlichen Häresien
https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_christlichen_H%C3%A4resien

[18]   zitiert nach: Ulrich Schmitthenner (Hg.): Oekumenische Weltversammlung in Seoul 1990. Arbeitsbuch für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung; Frankfurt/Essen 1990, S. 153f.

[19]   Honecker, Martin (1995): Grundriß der Sozialethik (De-Gruyter-Lehrbuch). S. 676: „Inzwischen wurde ‚ethische Häresie‘ aber ein polemisches Schlagwort zur Stigmatisierung von Kontrahenten“.

[20]   Zit. nach Martin Honecker, a.a.O.

[21]   Brand, Stewart (2006), Environmental Heresies, online unter
https://www.technologyreview.com/s/405360/environmental-heresies/

[22]   Hiedanpää, Juha; Bromley, Daniel W. (2016): Environmental heresies. The quest for reasonable. London: Palgrave Macmillan.

[23]   Thielicke, Helmut (1960): Wie die Welt begann. Der Mensch in der Urgeschichte der Bibel. 1. Aufl. Stuttgart: Quell-Verlag. S. 231.

[24]   Thielicke, Helmut (1980): Das Leben kann noch einmal beginnen. Ein Gang durch die Bergpredigt. Stuttgart: Quell (Thielicke-Taschenbücher). S. 67.

[25]   Sölle, Dorothee (1967): Stellvertretung. Ein Kapitel Theologie nach dem "Tode Gottes". 4. Aufl., (9.11. Tsd.).

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/121/nnam678.htm
© Andreas Mertin, 2019