Die Zukunft der Religion[1]

Jörg Herrmann

1. Die Freiburger Studie

Anfang Mai dieses Jahrs war die Aufregung in der Kirche groß. Anlass war die von den beiden großen christlichen Kirchen bei der Universität Freiburg in Auftrag gegebene Studie „Kirche im Umbruch“.[2] Die Studie des „Forschungszentrums Generationenverträge“ prognostiziert, dass sich die Mitgliederzahlen der beiden großen Kirchen bis zum Jahr 2060 um 49 Prozent - von nunmehr 44,8 Millionen Mitgliedern auf 22,7 Millionen Mitglieder – verringern werden. Für die Protestanten würde das einen Rückgang von 21,5 Millionen Mitgliedern im Jahr 2017 auf 10,5 Millionen im Jahr 2060 bedeuten.

Das liegt den Berechnungen zufolge knapp zur Hälfte an den Auswirkungen des demografischen Wandels. Zum anderen spielen auch Faktoren wie Eintritts- und Austrittsverhalten eine wichtige Rolle. Der Freiburger Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Bernd Raffelhüschen sagt: „Die Austrittswahrscheinlichkeit schlägt so stark zu Buche, dass die innerkirchlichen Faktoren wahrscheinlich zwischen der Hälfte bis zwei Drittel des Mitgliederschwundes erklären.“[3] Negative Schlagzeilen haben zusätzlichen Einfluss auf diese Entwicklung - wie in der jüngsten Vergangenheit der Missbrauchsskandal oder kirchliche Finanzaffären. All dies wirkt sich wiederum entsprechend auf die Kirchensteuereinnahmen aus: Sie werden sinken. Rechnet man Kaufkraft- und Kostenentwicklung mit ein, wird sich laut Studie die Finanzkraft der Kirchen bis 2060 halbieren.

Die neue Untersuchung hat altbekannte Fakten bestätigt. Zum einen: die katholische Kirche ist tendenziell etwas stabiler (trotz Missbrauchsskandal) als die evangelische. Des Weiteren: Es sind vor allem die jungen Erwachsenen, die austreten. Mit dem Eintritt ins Erwerbsleben fällt der Blick auf den Kirchensteuerbetrag in der Lohn- und Gehaltsabrechnung. Die Konsequenz ist dann oft der Austritt.

Damit diese Konsequenz nicht eintritt, müsste es eine höhere Verbundenheit mit der Kirche geben. Daran arbeiten die Kirchen schon lange, ein Patentrezept ist nicht in Sicht. Aber die Studie hat die vielfältigen Herausforderungen erneut präsent gemacht.

2. Religion lokal und global - Gegenwartsdiagnosen

Ich gehe vom eigenen Kontext aus und werde den Blickwinkel von da aus erweitern. Für die deutsche Situation lässt sich gegenwärtig festhalten: Immer noch gehören knapp 60 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung einer christlichen Kirche an.[4] Für die Evangelischen gilt: Rund 734 000 Menschen besuchen im Schnitt in Deutschland jeden Sonntag einen evangelischen Gottesdienst, fast ebenso viele verfolgen die sonntäglichen Gottesdienstübertragungen im Fernsehen. Heiligabend verzeichnen die evangelischen Gottesdienste mit 8,3 Millionen Besuchern die höchste Beteiligung.

Die Kirche ist, gerade in der Weihnachtszeit, immer noch sehr präsent in der Gesellschaft.

Allerdings hat sie in den vergangenen Jahrzehnten schon viele Federn lassen müssen. In Hamburg z.B. waren 1970 noch rund 70 Prozent der Wohnbevölkerung evangelisch. Heute sind es noch knapp 30 Prozent. Seit Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre mit den Studentenprotesten gegen Autoritäten und Traditionen eine erste Austrittswelle ins Rollen kam, ist die Mitgliederzahl beständig gesunken. Und das, obwohl insbesondere die evangelische Kirche an sich gearbeitet hat und die kirchliche Arbeit in den letzten Jahrzehnten ohne Frage dialogischer, partizipativer und einfach besser geworden ist. Wer dies auf der einen Seite sieht und auf der anderen Seite auf die Zahlen blickt, die sich regional (abgesehen einmal vom Osten, der ist ein Sonderfall) und konfessionell betrachtet nur wenig unterscheiden, muss schlussfolgern, dass an erster Stelle gesellschaftskulturelle Wandlungsprozesse die Ursache für die negative Mitgliederentwicklung sein müssen.

In der Religionssoziologie werden diese Entwicklungen unter den Stichworten Säkularisierung, Pluralisierung, Individualisierung und Transformation diskutiert.[5] Auftakt dieser Debatte bildet die sogenannte Säkularisationstheorie.[6] Ihre Kernthese besagt: Je mehr Modernität, desto weniger Religion. Früher oder später werden alle Menschen so säkular sein wie ein Soziologieprofessor in Schweden. Der Prozess der Modernisierung trockne die Religion unaufhaltsam aus. Diese These halten allerdings die meisten Religionssoziologen heute für falsifiziert. Sie stellen fest, dass der größte Teil der Welt tief religiös ist. Manche sprechen sogar von einer Wiederkehr der Religion.[7]

Unstrittig sind hingegen die mit den drei Begriffen Pluralisierung, Individualisierung und Transformation benannten Veränderungsprozesse. Auf die Religion bezogen: Spätmoderne bedeutet nicht, dass Gott tot ist, sondern dass es viele Götter gibt. Wir leben heute, auch in Deutschland und erst recht in einer Großstadt wie Hamburg, in Kontexten religiöser und kultureller Vielfalt.[8] Unstrittig ist auch, dass wir vor allem hier in Westeuropa in zunehmend individualisierten Gesellschaften leben. Das bedeutet, dass die Traditionsleitung abgenommen hat und der oder die Einzelne viel stärker als früher selbst über die eigene berufliche, religiöse, weltanschauliche und politische Orientierung bestimmt. Das Ergebnis: Selbstbestimmung gerade auch in religiösen Fragen und Skepsis gegenüber religiösen Institutionen. Religionszugehörigkeit wird nicht mehr so selbstverständlich von den Eltern einfach übernommen und weitergeführt. Sie wird vielmehr zu einer Frage der individuellen Entscheidung. Der Vorteil: Zugehörigkeit basiert nun auf bewussten individuellen Entscheidungen. Der Nachteil für die Kirchen: Sogenannte Selbstverständlichkeiten werden nicht fortgeschrieben.

Eine weitere Konsequenz der Individualisierung hat der Soziologe Thomas Luckmann beschrieben: Aus der sichtbaren institutionell gebundenen Religion wird zum Teil unsichtbare Individuenreligion.[9] Für Luckmann ist die individuelle Religiosität das „individuelle System letzter Relevanzen“.[10] Das kann dann vieles sein. Individuelle Religiosität im Sinne Luckmanns muss gar nicht mehr unbedingt auf religiöse Traditionen Bezug nehmen. Hier gilt vielmehr eine Formulierung Martin Luthers, die in gewisser Weise dem funktionalen Religionsverständnis Luckmanns und seiner Individualisierungsthese vorgreift. Luther schreibt: „Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“[11] Das ist dann, zugegeben, ein sehr weiter Begriff von Religion, denn das Herz kann an Vielem hängen, am Beruf, an der Liebe, am HSV oder am eigenen Haustier.[12] Auch Vieles, was unter dem Stichwort Spiritualität lauft, würde ich hier einordnen: in das Feld der unsichtbaren Individuenreligion. 

Und zuletzt, Pluralisierung und Individualisierung sind Aspekte von Transformations-prozessen. Die Gesellschaft wandelt sich und damit auch ihre Religionskultur. Einen sehr wichtigen Faktor dieses Wandels will ich in diesem Zusammenhang noch nennen: Die religiöse Sozialisation in der Familie fällt zunehmend aus.[13]

Elemente religiöser Erziehung in den Familien sind die Ausnahme. Das ist natürlich ein Faktum, das nicht dazu beiträgt, dass junge Erwachsene, die vielleicht noch getauft sind, aber darüber hinaus zuhause nicht mehr viel vom Christentum mitbekommen haben, der Kirche treu bleiben, wenn die Kirchensteuer auf der Gehaltsabrechnung erscheint.

Wenn man über Religion spricht, muss man in diesem Zusammenhang allerdings auch darauf hinweisen, dass Kirche und Religion nicht identisch sind. Religion gibt es auch ohne Kirche, nicht zuletzt die Individuenreligion, von der Luckmann spricht. Und in religionssoziologischer Hinsicht gibt es keinen Anlass, an der Zukunftsfähigkeit der Religion zu zweifeln. Denn sie antwortet auf elementare Lebensfragen, die bleiben: auf die Fragen nach Sinn, ethischer Orientierung, Gemeinschaft, Lebensbegleitung, Trost, Hoffnung, Transzendenz.[14]

Doch zunächst noch einmal: Deutschland im Überblick. Der Anteil der Christen in Deutschland betrug Ende 2017 knapp 60 Prozent. Dabei gibt es ziemliche Unterschiede zwischen dem Osten und dem Westen der Republik. Im Bethlehem der Reformation, in der Lutherstadt Wittenberg, gehören heute nur noch knapp sieben Prozent derjenigen Kirche an, deren Gründung vor 500 Jahren von dort ihren Ausgang nahm. In Sachsen sind es noch knapp 15 Prozent. Die DDR-Zeit hat dort ihre Spuren hinterlassen und auch die friedliche Revolution vor 30 Jahren, bei der die evangelische Kirche ja eine maßgebliche Rolle gespielt hat, hat nicht zu nennenswerten Wiedereintritten nach der Wende geführt. 

Die Muslime kommen auf gut 5 Prozent der Gesamtbevölkerung, alle anderen Religionsgemeinschaften machen knapp 1 Prozent der Bevölkerung aus (Buddhisten, Juden, Hindus, Jesiden usw.) aus. Über 30 Prozent der Menschen in Deutschland sind konfessionslos.

Blicken wir über den Tellerrand. Das Christentum ist weltweit die Religion mit den meisten Anhängern: im Jahr 2015 waren fast ein Drittel der Weltbevölkerung (31 Prozent) Christen. Die Muslime machten in dem Jahr fast ein Viertel (24 Prozent) der Weltbevölkerung aus und diejenigen, die sich keiner Religion zugehörig fühlten, hatten einen Anteil von 16 Prozent. Hindus (15 Prozent) und Buddhisten (7 Prozent) folgten auf den Plätzen vier und fünf.

3. Prognosen und Herausforderungen

Doch das wird sich ändern, prognostiziert ein amerikanisches Meinungsforschungsinstitut in seinem 2017 erschienenen „The Changing of the Global Religious Landscape"-Report.[15] So werden vorrausichtlich ab dem Jahr 2035 mehr muslimische als christliche Babys geboren werden. Das liegt daran, dass die religiöse Gruppe der Muslime die im Schnitt jüngste und fruchtbarste Bevölkerungsgruppe ist.

Insgesamt werde es bis 2060 weltweit drei Milliarden Muslime und 3,1 Milliarden Christen auf der Welt geben. Das bedeutet, dass nicht ganz zwei Drittel der Weltbevölkerung einer der beiden großen Religionen angehören werden, während alle anderen Gruppen bis dahin einen geringeren Anteil an der Bevölkerung haben werden – selbst wenn sie nominell wachsen wie zum Beispiel Hindus und Juden (von 1,1 auf 1,4 Milliarden respektive von 14,3 auf 16,4 Millionen). Von der christlichen Weltbevölkerung werden 2060 nur noch 14 Prozent in Europa beheimatet sein, hingegen 42 Prozent in Afrika. Der Anteil der muslimischen Weltbevölkerung in Europa werde bis 2060 konstant bei drei Prozent bleiben (so viel zur befürchteten Islamisierung des Abendlandes!).

Die Präsenz des Christentums verschiebt sich also immer mehr in den globalen Süden. Schon heute leben zwei Drittel der 2,2 Milliarden Christen im globalen Süden. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis wir den ersten schwarzen Papst bekommen. Im Zuge dieser Entwicklung, so prognostizierte der Religionswissenschaftler Philip Jenkins schon 2002, werde das Christentum konservativer, charismatischer und fundamentalistischer werden.[16]

Er schreibt: „Die Konfessionen, die sich im Süden der Welt durchsetzen – radikale protestantische Sekten, evangelikale oder Pfingstkirchen oder orthodoxe Formen des römischen Katholizismus – sind stramm traditionell oder sogar reaktionär.“[17]

Die Speerspitze der Wachstumsdynamik im Süden bilden dabei die protestantischen Pfingstkirchen. Obwohl diese Bewegung erst Anfang des 20. Jahrhunderts in Kalifornien entstand, gehören ihr heute schon 500 Millionen Gläubige an. Keine Religionsgemeinschaft wächst gegenwärtig so schnell. Die Pfingstler nehmen die Bibel wörtlich und glauben, dass der Heilige Geist auch heute noch Wunder und Visionen wirkt. Sie haben keine Zweifel daran, dass ihr Glaube der einzig wahre ist, und sind mit ihrem fundamentalistischen Bibelverständnis und ihrer dualistischen Weltsicht in mancher Hinsicht den islamistischen Extremisten verwandt - zum Glück enden diese Gemeinsamkeiten bei den Themen Politik und Gewalt. Dennoch werfen die benannten Entwicklungen die Frage auf, warum vormodernes Denken in Religionsdingen gegenwärtig so um sich greift.   

Der Theologe Friedrich Wilhelm Graf erklärt dazu: „Der Siegeszug der diversen Fundamentalismen erklärt sich aus der pluralistischen Signatur der Moderne: Die Vielfalt der Lebensweisen wirkt relativierend und erzeugt Unübersichtlichkeit. Fundamentalismen hingegen fördern neue Gewissheit. Sie fordern von den Frommen viel, aber sie bieten auch viel: starke Überzeugungen, stabile Weltbilder, dichte emotionale Gemeinschaft mit Gleichgesinnten, Netzwerke gelebter Solidarität und Nächstenliebe.“[18]

Wie soll der durch den Reflexionsprozess der Aufklärung gegangene europäische Protestantismus diesem enthusiastischen Fundamentalismus begegnen, der allzu genau weiß, was Gott will und was wahr ist und was falsch? Ist ein konstruktiver Dialog möglich? Mit den muslimischen Extremisten wohl kaum. Mit den christlichen Fundamentalisten? Klar scheint mir jedenfalls zu sein, dass die Aufgabe der europäischen Kirchen und Religionsgemeinschaften darin bestehen müsste, ihre Kompetenzen im Blick auf religiöse Bildung und auf theologische Reflexion in den interreligiösen und ökumenischen Dialog einzubringen. Denn Bildung zivilisiert, auch Religion. Religiöse Bildung sei die beste Gewaltprävention, schreibt der Berliner Theologe Rolf Schieder.[19] Denn religiöse Bildung lässt die Endlichkeit, Bedingtheit und Partikularität der eigenen Position erkennen.

Zunehmend wichtig werde, so Schieder, auch die Fähigkeit zum interreligiösen Dialog in globaler Perspektive. Denn mit dem Bedeutungsverlust der Nationalstaaten im Zuge der Globalisierung wachse den Religionen als Global Player eine neue Verantwortung für den Frieden und die Zukunft der Weltgesellschaft zu.

4. Zurück nach Europa

Was wird geschehen? Die Situation wird noch multireligiöser werden. Die christlichen Kirchen werden schrumpfen, so ähnlich, wie das die Freiburger Forscher es beschrieben haben. Zugleich wird es, auch in Hamburg, mehr Muslime geben. Und darüber hinaus eine Vielzahl von Religionsgemeinschaften. Migranten werden ihren Glauben mitbringen und engagiert praktizieren. Denn in der Fremde wird die eigene Religion wichtiger. Es wird darum sicher auch in Zukunft immer wieder religionspolitische Konflikte geben (Kopftuch, Burka, Beschneidung, Religionsunterricht, religionspolitische Gleichberechtigung…). Religiöse Pluralität ist eine religionspolitische Herausforderung.

Der Politikwissenschaftler Ulrich Willems resümiert die Lage wie folgt: „Die Voraussetzungen für einen konstruktiven Umgang mit religiöser Pluralität und Diversität und für die Lösung und Befriedung damit zusammenhängender Konflikte haben sich in Europa durch die Formierung und Etablierung rechtspopulistischer Bewegungen mit einer explizit antiislamischen Agenda nicht verbessert. Eine den Bedürfnissen von zugewanderten Religionsgemeinschaften deutlich entgegenkommende Religionspolitik ist von den zentralen religionspolitischen Akteuren unter diesen Bedingungen kaum zu erwarten.“[20] Willems empfiehlt eine öffentliche Debatte über diese Fragen.

In der sind die christlichen Kirchen nach wie vor eine wichtige Stimme, auch wenn sie quantitativ an Rückhalt verlieren werden. Denn ein „Wachsen gegen den Trend“[21] wird m.E. nicht möglich sein. Trotz vielerorts guter Arbeit. Es gibt sie ja, die vorbildlichen Gemeinden. Vor Jahren fragte mich ein Freund, der gegenüber der Ottenser Christianskirche wohnte: „Was ist da eigentlich los, ich sehe von Jahr zu Jahr mehr Menschen in den Gottesdienst kommen?“

Die Kolleginnen und Kollegen machen ihre Sache einfach gut, habe ich geantwortet. Da lässt man seine Kinder gerne taufen, da geht man gern zum Gottesdienst und freut sich auf die nächste Chorprobe. Da gibt es inspirierende Gottesdienste, individuelle Lebensbegleitung und ein Willkommenskulturhaus mit Deutschunterricht für Migranten. Aber den gesellschafskulturellen Großtrend können auch die engagierten Kollegen nicht umkehren, auch wenn sich in Ottensen viel mehr der vielleicht 4000 Gemeindeglieder am kirchlichen Leben beteiligen als andernorts. Es gibt gute Arbeit in den Gemeinden. Aber es gibt kein Patentrezept gegen das Schrumpfen der Kirchen, keinen Masterplan der „Unternehmenssanierung“.

Es gibt nur eine an den Menschen und am Evangelium orientierte kirchliche Arbeit, die immer wieder Neues ausprobiert und zugleich die Tradition vergegenwärtigt, die an einer zeitgenössischen Sprache für religiöse Erfahrungen arbeitet und die Fremdheit der Bibel dabei nicht ausblendet. Dafür braucht es vor allem glaubwürdige Christen, Menschen, die Vorbilder sein können, in religiöser, ethischer und intellektueller Hinsicht, Menschen, von denen Jugendliche sagen können: so oder so ähnlich möchte ich auch sein und werden. Wichtig ist, dass individuelle und lokale Attraktivitäten mit dem medialen Bild der Kirche korrespondieren. Es gibt nach wie vor erstaunlich viele Vorurteile gegenüber den großen Kirchen, die – m.E. jedenfalls im Blick auf die Evangelische Kirche - von gestern sind und mit der Gegenwart nicht mehr viel zu tun haben. Dem entgegenzuwirken ist eine Daueraufgabe der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit.

In meinem Studium war ich ein Jahr in Rom und habe bei den italienischen Waldensern gewohnt und studiert. Die Waldenser sind eine kleine protestantische Minderheit in Italien. Klein, aber fein. Denn sie sind eine selbstbewusste und profilierte Minderheit. Ihre Mitglieder haben eine intensive Kirchenbindung. Wenn ich mit der Mitgliederfrage zu tun bekomme, denke ich oft an meine Erfahrungen in Rom. Eine profilierte Minderheit zu sein, hat auch Vorteile. Man kann beweglicher und klarer sein.

Noch ein indirektes Wort zur Säkularisierungstheorie zum Ende hin. Die Idee dieser These ist ja, dass das Umsichgreifen moderner Rationalität das Religiöse nach und nach zum Verschwinden bringt. Ich will dazu drei Beispiele nennen. Drei Fälle sozusagen, drei Zeitgenossen, an deren moderner Rationalität kein Zweifel besteht und die doch ganz unterschiedlich zur Gretchenfrage „Wie hältst Du´s mit der Religion“ Stellung genommen haben. Es handelt sich um den Philosophiehistoriker Kurt Flasch, den Philosophen Volker Gerhard und den Journalisten Tillmann Prüfer.

Da ist zunächst der heute 89-jährige Philosophiehistoriker Kurt Flasch. Er ist ein renommierter Fachmann für antike und mittelalterliche Philosophie. Er hat sich mit Augustinus und Meister Eckart beschäftigt, mit Thomas von Aquin und Nikolaus von Kues. 2013 hat er dann das Buch veröffentlicht „Warum ich kein Christ bin“. [22] Für Flasch hat seine Abkehr vom Christentum nichts mit dem Zustand der Kirchen zu tun. Ihm geht es um den Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens, den er nicht mehr teilen kann. Er habe „kalt und ersatzlos“ mit dem Christentum abgeschlossen.[23] 

Warum? Weil die Bibel und die kirchlichen Lehren ein Konglomerat von Widersprüchen, Unwahrheiten und Unvernunft seien. Den Weg, den die evangelische Aufklärungstheologie gegangen ist, indem sie die Bibel als eine Mischung aus Glaubenszeugnis und historischer Wahrheit, als eine Synthese also von Dichtung und (historischer) Wahrheit, zu verstehen gelernt hat, will Flasch nicht mitgehen. Dafür ist sein Wahrheitsverständnis zu realistisch. Die Wahrheit der Bilder und Symbole einer Poesie der letzten Dinge ist ihm zu wenig.

Mein nächstes Beispiel ist ebenfalls ein Philosoph. Volker Gerhard, heute 74 Jahre alt, zuletzt an der Humboldt Universität zu Berlin tätig. Spezialist für Kant und Nietzsche. Sein letztes Buch „Humanität. Über den Geist der Menschheit“ hat er hier in Hamburg in der Bücherstube Felix Jud im Gespräch mit dem Kulturbeauftragten der EKD Johann Hinrich Claussen vorgestellt.[24] Das weist schon auf eine gewisse Sympathie für Religionsfragen hin. Gerhardt hat vor vier Jahren, gut 100 Jahre nachdem Friedrich Nietzsche Gott für tot erklärt hat, eine philosophische Theologie veröffentlicht. „Vom Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche“ lautet der Titel der Studie, in der Gerhardt die Rationalität des Glaubens begründet und entfaltet.[25] Anders als sein amerikanischer Kollege Ronald Dworkin („Religion ohne Gott“) verzichtet Gerhardt dabei nicht auf einen personalen Gottesbegriff, ja er zeigt, dass es vor dem Hintergrund der Erfahrung individueller Personalität durchaus plausibel ist, auch im Zentrum des Ganzen der Welt ein personales Gegenüber zu denken. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, dass wir als denkende Menschen nicht umhinkönnen, „ein Göttliches anzunehmen, das allem Bedeutung verleiht“. Zur Kirche, in die er nach 25 Jahren wieder eingetreten ist, hat er ein wohlwollendes Verhältnis, würdigt ihren Beitrag zum Aufbau einer humanen Weltkultur und mahnt sie zur Unabhängigkeit gegenüber dem Staat.

Mein drittes Beispiel ist der Journalist Tillmann Prüfer, Jahrgang 1974. Er ist der Stil-Chef des Zeit-Magazins. Sein Buch „Weiß der Himmel…? Wie ich über die Frage nach Leben und Tod stolperte und plötzlich in der Kirche saß“ erschien im letzten Jahr.[26] Das Sterben eines Freundes veranlasst Prüfer, sich erneut mit dem christlichen Glauben auseinanderzusetzen. Sein Buch ist so etwas wie die postmoderne Bekehrungsgeschichte eines Kirchenmitgliedes, das den Schatz im Acker neu entdeckt. Denn seine Suche führt ihn in seine Ortsgemeinde, nur wenige Fußminuten von seiner Berliner Wohnung entfernt. Er schreibt u.a.: „Ich gehe in den Gottesdienst, ich singe, ich sitze mit den Menschen meiner Gemeinde zusammen und esse Kekse. Ich bespreche Projekte. Ich mache Dinge, die mir vor kurzem noch völlig fremd waren. Ich engagiere mich im uncoolsten Ortsverein des uncoolsten Vereins der Welt.“[27] Später kommt es dann aufgrund verschiedener Zufälle sogar dazu, dass Prüfer am Pfingstmontag eine Predigt über Glauben und Zweifeln in der Nienstedtener Kirche hält. Er sagt zum Schluss: „Ich glaube. Ich glaube, denn ich will glauben. Ich finde die Vorstellung, dass die Welt, in der wir leben, nur Zufall und Chaos ist, zu trostlos, als dass ich sie für wahr halten könnte. Ich glaube, dass es einen Sinn gibt, einen Sinn, in dem wir alle geborgen sind. Einen Sinn, der höher ist als das, was wir begreifen können. Ich denke, Glaube ist ein Weg mit vielen Irrungen. Und ich hoffe, Gott wird mich und uns alle auf diesem Weg begleiten.“[28]

Drei Wege. Kurt Flasch führt das Nachdenken zur Abkehr vom Christentum. Volker Gerhardt schreibt eine philosophische Theologie und tritt wieder in die Kirche ein. Tillmann Prüfer wird durch die Konfrontation mit dem Tod eines Freundes zum Gottsucher, der das kirchliche Christentum neu entdeckt. Ich glaube, dass die christlichen Kirchen im alten Europa auch im 21. Jahrhundert nicht am Ende sind.

Ich glaube, in Zeiten der wiedererstarkenden Nationalismen, in denen die Lösung der Weltprobleme nicht gerade leichter geworden ist, können sie mit ihren Erfahrungen, ihrem internationalen Netzwerk und ihrer Reflexionskultur viel beitragen zur Arbeit an den Zielen der ökumenischen Bewegung, die nach wie vor lauten: Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung.

Anmerkungen

[1]    Der Text basiert auf einem Vortrag des Verf. im Rahmen eines Meetings des rotarischen Clubs Hamburg-Altona am 12.07.2019.

[2]    Evangelische Kirche in Deutschland, Kirche im Umbruch. Zwischen demografischem Wandel und nachlassender Kirchenverbundenheit. Eine langfristige Projektion der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens der Universität Freiburg in Verbindung mit der EKD, Hannover 2019, www.ekd.de/projektion2060 (10.8.2019).

[3]    Zit. n. Ulrich Pick, Den Kirchen droht massiver Mitgliederschwund, 2.5.2019, www.tagesschau.de/inland/kirche-mitglieder-statistik-101.html (10.8.2019).

[4]    Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland, Gezählt 2019. Zahlen und Fakten zum kirchlichen Leben, Hannover 2019, www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/Gezaehlt_zahlen_und_fakten_2019.pdf (10.8.2019).

[5]    Vgl. Karl Gabriel (Hg.), Religiöse Individualisierung oder Säkularisierung. Biographie und Gruppe als Bezugspunkt moderner Religiosität, Gütersloh 1996; Ders., Hans-Richard Reuter (Hg.), Religion und Gesellschaft. Texte zur Religionssoziologie, Paderborn, Wien, München, Zürich, 2004. 

[6]    Vgl. Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012, 13ff., Peter L. Berger, Nach dem Niedergang der Säkularisierungstheorie, in: Detlev Pollack (Hg.), Peter L. Berger – Nach dem Niedergang der Säkularisierungstheorie. Mit Kommentaren von Detlev Pollack, Thomas Großbölting, Thomas Gutmann, Marianne Heimbach-Steins, Astrid Reuter und Ulrich Willems sowie einer Replik von Peter L. Berger, Münster 2013, 1-10.

[7]    Vgl. Bertelsmann Stiftung (Hg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007.

[8]    Jörg Herrmann, „....ohne Angst verschieden sein.“ Kirchliche Arbeit in der multireligiösen und multikulturellen Stadt, in: Alexander Höner, Christopher Zarnow (Hg.), Religion in der Stadt. Räumliche Konfigurationen und theologische Deutungen, Berlin 2018, S. 154-168.

[9]    Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, Frankfurt am Main, 1991.

[10]   Ders., a.a.O., 118.

[11]   Martin Luther, Der große Katechismus – Die Schmalkaldischen Artikel, Calwer Luther-Ausgabe, Bd. 1, hrsg. v. W. Metzger, München – Hamburg 1964, 22.

[12]   Auf einem Grabfeld des Hamburger Sportvereins auf dem Altonaer Friedhof kann man sich mit Blick auf das Volksparkstadion bestatten lassen, um das Trauerspiel des HSV bis in alle Ewigkeit verfolgen zu können.

[13]   Sozialwissenschaftliches Institut der EKD, Konzentration auf die Zukunft! Zehn Fakten zur Situation der Kirche, in: epd-Dokumentation 25/2007, https://www.siekd.de/wp-content/uploads/2018/06/0705-epd-Doku_10-Thesen-des-SI-Konzentration-auf-die-Zukunft.pdf, (10.8.2019).

[14]   Vgl. u.a. Franz Xaver Kaufmann, Religion und Modernität. Sozialwissenschaftliche Perspektiven, Tübingen 1989, 71, 86.

[15]   Pew Research Center - Religion & Public Life,  The Changing of the Global Religious Landscape, www.pewforum.org/2017/04/05/the-changing-global-religious-landscape/; die folgenden Angaben beziehen sich auf diese Studie (10.8.2019).

[16]   Vgl. Philip Jenkins, Das Christentum der Zukunft wird vom Süden bestimmt. Die Gegenreformation hat längst begonnen, in: der überblick. Zeitschrift für ökumenische Begegnung und internationale Zusammenarbeit, 3/2003, http://www.der-ueberblick.de/ueberblick.archiv/one.ueberblick.article/ueberblick28f1.html?entry=page.200303.080 (10.8.2019).

[17]   Ebd.

[18]   Friedrich Wilhelm Graf, Glauben heute & morgen, in: GEO kompakt, 09/2008, www.geo.de/magazine/geo-kompakt/7047-rtkl-glaube-und-religion-glauben-heute-morgen (10.8.2019).

[19]   Rolf Schieder, Sind Religionen gefährlich? Berlin University Press 2008, 274ff.

[20]   Ulrich Willems, Herausforderung religiöse Vielfalt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Reformation, 66. Jg., 52/2016, 41-46, 46.

[21]   Wilfried Härle (Hg.), Wachsen gegen den Trend: Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärts geht, Leipzig 2012.

[22]   Kurt Flasch, Warum ich kein Christ bin, München 2013.

[23]   Ders., a.a.O., 23.

[24]   Volker Gerhard, Humanität. Über den Geist der Menschheit, München 2019.

[25]   Ders., Vom Sinn des  Sinns. Versuch über das Göttliche, München 2014.

[26]   Tillmann Prüfer, Weiß der Himmel…? Wie ich über die Frage nach Leben und Tod stolperte und plötzlich in der Kirche saß, Gütersloh 2018.

[27]   Ders., a.a.O., 109.

[28]   Ders., a.a.O., 167.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/121/jh34.htm
© Jörg Herrmann, 2019