Ich fokussiere mich in dieser Kolumne, das Projekt Netzteufel der Evangelischen Akademie Berlin als Anregung aufgreifend, auf Meldungen und Leserkommentare der Plattformen idea und kath.net. Weiterhin bleibt diese Kolumne eine ironische und satirische Kolumne. Auch wenn ich die Kritisierten beim Wort nehme, kann ich sie dennoch nicht ernst nehmen. Sie sind und bleiben ein Element der Kategorie Realsatire.


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Selbst idea ist der Tonfall ihrer eigenen Klientel unter den Textbeiträgen der Redaktion zu rau und zu gewagt geworden. Deshalb wurde die Kommentarfunktion geschlossen. Das ist insofern bedauerlich, weil die Leserkommentare ein guter Seismograph für das Abdriften konservativer Christen ins rechte und rechtsradikale Milieu waren. Die Selbstverständlichkeit, mit der das DEUTSCHE CHRISTENTUM der AfD hier auf Zustimmung stieß, zeigte, wie wenig der konservative Protestantismus aus seiner fatalen Begeisterung für den Führer gelernt hatte. Es zeigte uns Heutigen aber auch, wie das möglich war, dass man trotz des Evangeliums Jesu Christi rechten Führern auf den Leim ging. Wo Kleinbürgerlichkeit und Nationalismus religiös verbrämt werden, da ist man schnell bei den DEUTSCHEN CHRISTEN. Insgesamt aber war die Kommentarspalte bei Idea aber insofern bedeutungslos, weil hier nur eine kleine, reaktionäre Klientel in ihrer Filterblase verblieb. Diese Kommentare repräsentierten weder die Vielfalt und Breite der Evangelikalen, noch deren gesellschaftliches Engagement. Es waren nur Minoritäten unter den Minoritären, die hier eine Plattform suchten (und fanden). Dieses Kapitel ist nun zu Ende.


Peter Winnemöller über „Lebenswirklichkeit“

2 x 3 macht 4 -
widdewiddewitt und 3 macht 9e !
Ich mach' mir die Welt - widdewidde wie sie mir gefällt ...
Hey – Peter Winnemöller hollahi-hollaho-holla-hopsasa
Hey - Peter Winnemöller - der macht, was ihm gefällt.

Der Pippi-Langstrumpf-Faktor bei dem katholischen Weltendeuter Peter Winnemöller ist enorm. Er biegt sich die Welt zurecht, wie es ihm in sein reaktionäres Weltbild passt. Ganz nach dem Motto: 2 x 3 macht 4. Aktuell setzt er sich mit der Erkenntnis einiger katholischer Bischöfe auseinander, dass die Lebenswirklichkeit heutiger Menschen und die Lehren der katholischen Kirche weit auseinander liegen. Nun ist das keine überraschende Erkenntnis. Grundsätzlich liegen Theorie und Praxis in einem Spannungsverhältnis. Und das nimmt zu, je größer die zeitliche Differenz zwischen der Fixierung der Lehre und dem gegenwärtigen Leben ist. Nur wenn man die Lehren von vor 1700 Jahren als ewige fixiert, bekommt man Probleme. P.W. setzt ein mit folgender Bemerkung:

Es ist eines der Modeworte, welches gleichermaßen Bischöfe und kirchliche Möchtegernreformer zu gerne im Munde führen, die „Lebenswirklichkeit“.

Nun kann man sich fragen, was „Modewort“ bedeuten soll. Denn das Wort „Lebenswirklichkeit“ benutzt bereits Friedrich Schiller in der Korrespondenz mit Goethe, es bildet ein Lexem im Grimmschen Wörterbuch und setzt sich nach 1800 allmählich als selbstverständlicher Bestandteil deutscher Sprache durch. Einen ersten Schub bekommt das Wort, das bereits 1850 ein allgemeines war, in der Diskussion um die Lebensphilosophie nach 1890, später noch einmal in den Diskussionen nach 1970. Seitdem ist es allgemein verbreitet. Es ist kein Modewort, sondern ein alltägliches Wort, so dass es nicht einmal mehr erläutert zu werden braucht.

Wer „Lebenswirklichkeit“ heute als „Modewort“ stilisiert, will unterstellen, die Bischöfe seien irgendwie Zeitgeist-orientiert, was für Reaktionäre – den Zeitgeistpropheten des Gestrigen – ja immer verdächtig ist.

Im vorliegenden Fall aber erläutert der Bischof sogar, was er unter „Lebenswirklichkeit“ versteht, weil er das Wort wenige Zeilen später durch „Realität“ substituiert. Anders Winnemöller:

Zum einen wird dabei natürlich nie näher spezifiziert, welche Lebenswirklichkeit gemeint ist, zum anderen gebricht es an Hinweisen, wo denn die Ursachen für diese oder jene Lebenswirklichkeit liegen könnten.

Ich halte diesen Satz für sinnfrei. Es gibt für ein Subjekt immer nur eine Lebenswirklichkeit. Man müsste schon aus der Haut heraus, um anderes zu denken. Nach Bazon Brock sagte Ernst Bloch

als ihm klar geworden sei, dass er für sein ganzes Leben aus der Empfindung seines eigenen Körpers und seiner seelischen Bewegung nie hinauskommen könne, sei er in Mannheim, am Ufer des Rheins, ohnmächtig zusammengebrochen.

Dennoch kann man natürlich beobachten, dass andere Menschen – wie etwa Winnemöller – offenkundig in völlig anderen Realitäten = einer scheinbar anderen Lebenswirklichkeit leben. Dennoch gehen wir umgangssprachlich ziemlich realistisch von einer uns alle verbindenden Lebenswirklichkeit aus. Und auf diese bezieht sich der kritisierte Bischof. Und er sagt dabei nichts Neues, denn dieser Satz ist seit vielen Jahren ein Standardsatz kirchlicher und christdemokratischer Verlautbarungen. So finde ich etwa bei der Konrad-Adenauer-Stiftung im Jahr 2010 folgenden Satz von Thomas de Maiziére:

Und noch etwas anderes sollten wir sehen: am Ende wird auch für eine Politik im Zeichen des „C” wohl ein unauflösbarer Unterschied bleiben zwischen der reinen Lehre und der Lebenswirklichkeit, die uns schon allein aufgrund ihrer Vielfalt und Dynamik politische Kompromisse abnötigt. Auch Person und Amt, Glauben und Handeln werden sich wohl nie vollständig zur Deckung bringen lassen.

Die Lebenswirklichkeit ist theologisch eine Größe, deren Nichtbeachtung man nur um den Preis der eigenen Bedeutungslosigkeit riskieren kann. Das meint der Kritisierte, das meinte das ZDK, als es bereits 2013 den Satz sagte, den der Bischof 2019 nur zitiert. Und beides meint nicht die Anpassung an die Wirklichkeit, sondern meint – mit Paulus – eine pastoraltheologische Tugend:

Denn obwohl ich frei bin von jedermann, habe ich doch mich selbst jedermann zum Knecht gemacht, auf dass ich möglichst viele gewinne. Den Juden bin ich wie ein Jude geworden, damit ich die Juden gewinne. Denen unter dem Gesetz bin ich wie einer unter dem Gesetz geworden – obwohl ich selbst nicht unter dem Gesetz bin –, damit ich die unter dem Gesetz gewinne. Denen ohne Gesetz bin ich wie einer ohne Gesetz geworden – obwohl ich doch nicht ohne Gesetz bin vor Gott, sondern bin im Gesetz vor Christus –, damit ich die ohne Gesetz gewinne. Den Schwachen bin ich ein Schwacher geworden, damit ich die Schwachen gewinne. Ich bin allen alles geworden, damit ich auf alle Weise etliche rette. Alles aber tue ich um des Evangeliums willen, auf dass ich an ihm teilhabe.

Aber davon versteht Peter Winnemöller nichts.


Aufruf zum Mord

Sascha Lobo erzählt in seinem letzten Buch „Der Realitätsschock“ von einem makabren Witz amerikanischer Journalisten, mit dem diese einen zunehmenden Trend in der Publizistik kritisieren. Sagt jemand in einer Talkrunde: Man sollte alle Juden töten. Sagt ein anderer: Das finde ich nicht. Sagt der moderierende Journalist: Da haben wir nun zwei extreme Meinungen, wie finden wir da einen Kompromiss. Auch IDEA pflegt dieses Spiel, zu einem scheinbar kontroversen Thema zwei Positionen einzuladen, die suggerieren, hier wäre etwas verhandelbar. Das ist an sich schon eine merkwürdige Idee, die Welt gut gnostisch in Pro und Kontra einzuteilen. Als wenn diese nicht unendlich viel differenzierter wäre. Aber darum geht es ja: in gut fundamentalistischer Weise differente Tatbestände auf Pro und Kontra zu reduzieren bzw. zu nivellieren.

Im vorliegenden Fall stellt Idea, immerhin eine Plattform für evangelische Christen, die rhetorische Frage:

Soll man Terroristen gezielt töten?

Das macht einen schon mal fassungslos. Denn als solche ist die Frage – gestellt in der Bundesrepublik Deutschland – natürlich absurd und jenseits jeder Verfassungswirklichkeit. Nicht nur in der hier vorliegenden Fassung „Soll man …“, sondern auch in der korrekten Fassung „Darf man …“. Nein, man darf Terroristen nicht töten, auch Terroristen stehen unter dem Schutz des Artikels 2 unserer Verfassung, der das Leben von Menschen grundsätzlich schützt. Und gezielt töten darf man sie schon gar nicht. Man darf sie auch nicht „als“ Terroristen töten. Wer kommt nur auf solche Fragestellungen? Was kommt als nächstes? Etwa die Frage Soll man Volksverräter wie Merkel gezielt töten? Das wird ja angeblich schon unter Rechtsextremen und auch Rechten erörtert. So vertreten manche, dass "wir leider ein paar Volksteile verlieren werden, die zu schwach oder nicht willens sind" (Björn Höcke). Aber man wird ja mal fragen dürfen.

Vor diesem Hintergrund fragte die Evangelische Nachrichtenagentur idea in einem Pro und Kontra: „Ist es ethisch vertretbar, Terroristen gezielt zu töten?“

Schon die Fragestellung ist widerlich. Gemeint kann ja nicht das sein, was gefragt wird, sondern nur, ob es ethische Gründe gibt, die die situationsbedingte Tötung eines Menschen zugunsten des Lebens eines oder mehrerer anderer legitimieren würde. Die im Text dann angeführten Beispiele, die Tötung von Osama Bin Laden ohne Gerichtsverfahren bzw. die potentielle Tötung des Anführers der IS, sind unter keinem ethischen Aspekt zu verteidigen. Wenn wir damit anfangen, dann beginnen wir eine Mordserie, die kein Ende haben wird. Denn es ist klar, dass der Anführer der IS weltgeschichtlich eine kleine Nummer im Vergleich etwa mit seinem Gegner Assad ist. Man sagt, der IS habe in seiner kurzen Geschichte 70.000 Tote zu verantworten. Assad wird dagegen für mehr als 250.000 Tote verantwortlich gemacht. Wird jetzt auf einer Plattform wie IDEA zur Tötung von Assad aufgerufen? Und was machen wir mit all den anderen Massenmördern auf der Welt? Schießen wir sie ohne Gerichtsurteil ab? Ist das die Frage von IDEA?

Nun kann man fragen, wen man eigentlich zur Beantwortung einer derartigen Frage bitten sollte. Es kann ja nicht um eine Meinungsäußerung gehen: „Ich finde, man sollte ihn abschießen …“ Das wäre schlicht unerträgliches faschistoides Stammtischgefasel. Und da es nicht bloß um deutsches Recht geht (die als Beispiel gegebenen Fälle verorten sich in Pakistan und Syrien), wäre jemand mit Sachkenntnissen für internationales Recht bzw. für das Völkerrecht hilfreich. IDEA hat sich anders entschieden:

Dazu äußerten sich der Vorsitzende der Internationalen Martin Luther Stiftung, Michael Inacker (Kleinmachnow bei Berlin), und die mennonitische Theologin Marie-Noelle von der Recke (Laufdorf bei Wetzlar).

Man hätte auch jemand vom Bochumer Taubenzüchterverein oder vom Verein zur Rettung der Indianer fragen können. Es wäre nicht weniger willkürlich. Heutzutage ist die Frage nach der Beendung des Lebens eines anderen Menschen ja längst eine populärkulturelle Frage, die im Computerspiel tagtäglich millionenfach beantwortet wird. Und entsprechend fallen dann die Antworten aus. Schuss frei.

Michael Inacker, der Vorsitzende der Internationalen Martin Luther Gesellschaft hat bekanntermaßen zu allem eine dezidierte Meinung, selten eine begründete, aber eine Meinung. Meinungsstark nennt man das heute und es gefällt Plattformen, die auf Klicks setzen.

Inacker räumt ein ethisches Dilemma ein: Sowohl die Tötung sei schuldhaft als auch das Gewährenlassen eines Terroristen, der nachweislich weitere Anschläge in Europa und Deutschland geplant habe. Auch in Deutschland sei die gezielte Tötung eines Menschen zur Gefahrenabwehr ethisch und rechtlich als letzte Möglichkeit vorgesehen: der „finale Rettungsschuss“.

Daran ist nun so ziemlich alles falsch. Zunächst die binäre Codierung des Problems. Keinesfalls ist die Handlungsalternative die zwischen Tötung und gewähren lassen. Da gibt es Hunderte von Alternativen. Zumal im konkreten Fall selbst die Amerikaner davon ausgehen, dass der getötete IS-Anführer nicht (mehr) für das operative Geschäft verantwortlich war. Es wurde ja auch kein Leben gerettet, der IS brauchte nicht einmal eine Woche, um einen Ersatz zu benennen und sein Morden fortzusetzen. Der Tod des Anführers rettet kein Menschenleben. Ganz im Gegenteil, er wird in Europa und Amerika Menschenleben kosten. Und was heißt „gewähren lassen“? Das tut ja nach dieser verqueren Logik jeder Mensch auf dieser Erde, der den Anführer der IS nicht umbringt. Und inwiefern wird dieses „gewähren lassen“ beendet, wenn Amerikaner ihn umbringen? Da ist nicht einmal ein Ansatz einer ethischen Reflexion zu spüren.

Der von Inacker angeführte finale Rettungsschuss hat mit der Fragestellung überhaupt nichts zu tun! Es ist ein ethischer Entscheidungsfall, bei dem konkret das bedrohte Leben eines Menschen gerettet wird, indem tödliche Gewalt angewendet wird. Allerdings war im Fall des entführten Frankfurter Bankierssohns schon die Androhung(!) von Gewalt verboten und strafbar (Stichworte sind hier der Daschner-Prozess und die sog. Rettungsfolter). Wenn wir alle Menschen erschießen, deren Existenz zum Tod von anderen Menschen führen, soll Inacker mal mit den Vorstandsvorsitzenden der deutschen Autokonzerne anfangen. Deren Handlungen werden auch im kommenden Jahr über 3000 Tote bedingen. Jeder würde so etwas für absurd halten. Inacker fährt fort:

Bei al-Bagdadi habe man um seine terroristischen Planungen gewusst. Er sei für die Ermordung Hunderttausender Menschen verantwortlich. Deshalb wäre seine Nichtverfolgung ein schuldhaftes Versäumnis gewesen. Schon der Theologe Dietrich Bonhoeffer (1906–1945) habe auf das ethische Dilemma hingewiesen, aber letztlich den Tyrannenmord gerechtfertigt: „Die Welt ist nun mal voller übler Gestalten.“

Strafrechtliche Verfolgung ist etwas völlig anderes als die durch den Staat legitimierte Tötung. Im Fall von Osama Bin Laden spricht vieles dafür, dass es gerade um die Verhinderung einer strafrechtlichen, rechtsstaatlichen Verfolgung ging. Man wollte einem öffentlichen Prozess ausweichen, weil der wieder Tote gekostet hätte. Aber wenn wir beginnen, hier die Schranken zu schleifen, sind wir nicht besser als die, die wir verfolgen. Und nein, der Anführer der IS ist nicht für „Hundertausende“ Tote verantwortlich, das gilt eher für seinen Widersacher Assad, von dem Inacker aber nicht spricht. Die IS ist eine widerliche Bande, aber das befreit nicht von rechtsstaatlichen Reflexionen.

Und ‚Tyrannenmord‘ ist nicht die Tötung eines Anführers durch eine ausländische Macht, sondern der Aufstand und die Tötung eines Herrschers durch die eigene Bevölkerung (Attentat auf Hitler). Wer sagt: „Die Welt ist nun mal voller übler Gestalten“ und daraus die Legitimation ihrer Tötung ableitet, hat die von der Zivilisation gesetzte Grenze weit überschritten. Es ist eine faschistoide Ideologie. Dass ihre Gegner üble Gestalten sind, die man töten darf, vertreten auch die Ideologen der IS. Man braucht nur mal ihre Schriften zu lesen. Sie sind ja im Netz frei zugänglich.

Als die deutsche RAF das NSDAP-Mitglied mit der Nummer 8179469 liquidierte, sprach sie auch nicht von einer Ermordung, sondern von einer Hinrichtung, um dem Ganzen eine moralische Legitimation zu geben. Sie befand sich – wie die USA – in einem Krieg mit einem Gegner, zu dessen Vernichtung jeder Schritt erlaubt schien. Nur funktioniert „Recht“ nicht so. Bei der RAF nicht und bei der prohibitiven Tötung von Gegnern und Verbrechern auch nicht. 

Die „Gegenposition“, die IDEA nun zu Wort kommen lässt, ist deshalb problematisch, weil sie sich notwendig auf die fatale Fragestellung einlassen muss. Sie macht die Ansichten von Inacker sozusagen diskutabel. Das sind sie aber nicht. Sie sind im Wortsinn indiskutabel. Und persönlich halte ich es – bei aller Hochachtung gegenüber den pazifistischen Mennoniten – für problematisch, so zu tun, als bedürfe es einer dezidiert Gewalt ablehnenden religiösen Bewegung (einer Friedenskirche), um gegen die Tötung von Verbrechern und Terroristen zu sein. Es macht es sonst Kritikern zu leicht, auf den pazifistischen Charakter der Mennoniten zu verweisen, der ja keine andere Antwort möglich mache. Nur sind die Argumente der Mennoniten in dieser konkreten Frage für alle Christen konsensuell. Zumindest sollten sie es sein. 


Statistik und Untergang

Olaf Latzel, apokalyptischer Prediger aus Bremen, hat es nicht so mit den evangelischen Landeskirchen. Die sind ihm zu liberal, der historisch-kritischen Forschung verpflichtet und vor allem nicht evangelikal. Ganz anders als er. Er ist keinesfalls liberal, verachtet historisch-kritisches Denken und Forschen und ist durch und durch evangelikal. Und so klaubt sich auch Latzel Bibelverse aus dem Kontext, um sie gegen die Evangelische Kirche und ihre Landeskirchen zu wenden. Dieses Mal hat er sich den Zweiten Brief an Timotheus herausgepickt, eine pseudoepigraphe Schrift des Paulus, wahrscheinlich von einem Paulusschüler am Ende des 1. Jahrhunderts nach Christus verfasst. Und dessen Verfasser schreibt über die kommenden Zeiten:

„Denn es wird eine Zeit kommen, da sie die heilsame Lehre nicht ertragen werden; sondern nach ihren eigenen Gelüsten werden sie sich selbst Lehrer aufladen, nach denen ihnen die Ohren jucken, und werden die Ohren von der Wahrheit abwenden und sich den Fabeln zuwenden.“

So zitiert Latzel den Bibeltext nach der landeskirchlichen Lutherübersetzung von 1984. Nun könnte man schon fragen, warum Latzel dieser folgt und nicht irgendeiner anderen (z.B. der Lutherbibel von 2017, der Zürcher Bibel oder einer evangelistischen Bibel). Nun ist am Text wenig kontrovers, einige übersetzen statt „heilsame Lehre“ lieber „gesunde Lehre“ und andere statt „Gelüsten“ eher „Begehren“. Der Text selbst stützt Latzels Polemik nicht einmal im Ansatz, er besagt eigentlich das Gegenteil von dem, wonach ihm der Sinn steht. Der Text kritisiert ja nicht die Gemeindeleitung, sondern die Gläubigen, die sich solche Lehrer suchen, die nicht das Christentum predigen, sondern Ideologie. Latzel möchte daraus aber eine Kritik an den Repräsentanten der Landeskirchen machen – was der Text aber nicht trägt.

„Genau das passiert derzeit in der evangelischen Kirche.“ So bestritten führende Repräsentanten der Kirche zentrale Inhalte des Evangeliums. Die EKD-Synode habe sich 2016 gegen Judenmission gewandt und sage damit auch, „dass das, was Petrus und Paulus gemacht haben, letztlich alles falsch war“. Die Evangelische Kirche im Rheinland gehe noch weiter und erkläre in einem Papier, auch keine Muslime mehr missionieren zu wollen, „weil die glauben ja letztlich auch an den denselben Gott wie wir“.

Mit 2. Tim. 4,3 hat das alles wenig zu tun, Latzel hat den Bibeltext auf den Kopf gestellt. Das überrascht nicht, er legt ihn so aus, wie es ihm passt – anders als historisch-kritische Exegeten. Das Wort „Begehren“ bzw. „Gelüste“ im Text zielt darauf, dass Menschen nur ihre eigene Ideologie gespiegelt sehen wollen. Es markiert genau das, was Karl Barth als die Differenz von Christentum und Religion beschrieben hat. Und hier könnte die texttreue und eben nicht ideologisch gefärbte Bibellektüre ihre Schärfe gewinnen. Latzel interessiert das nicht. Er möchte insinuieren, die Krise der Landeskirchen sei eine Krise ihrer Repräsentanten und nicht ihrer Gläubigen.

Jährlich träten „zwei bis drei Prozent“ der Mitglieder aus den Landeskirchen aus und „das seit 30, 40 Jahren“. Bei einem Unternehmen, das solche Verluste schreiben würde, wäre die gesamte Führungsspitze nach zwei Jahren ausgewechselt.

Daran sind zwei Dinge interessant. Einmal das ganz und gar unprotestantische hierarchische Denken, so als ob die Hirten für die schwindende Zahl der Schafe verantwortlich wären. Die Ev. Kirche ist aber kein Top-Down-Unternehmen. Im Protestantismus gilt das Priestertum aller Gläubigen. So leicht kann man den Schwarzen Peter nicht den Kirchenleitungen zuschieben.

Zum anderen überraschen mich die Zahlen, die Latzel zu den Kirchenaustritten in den Landeskirchen angibt. Jährlich träten seit 30, 40 Jahren zwei bis drei Prozent der Mitglieder aus den Landeskirchen aus. Nun ist schon der angegebene Zeitraum ziemlich unseriös, denn er umfasst die Zeit der Wende. Unseriös ist er auch darin, dass er die Schrumpfungszahlen mit den Kirchenaustritten gleichsetzt. Das stimmt natürlich nicht, denn sie enthalten auch den Überschuss an Sterbefällen gegenüber den Geburten. Seine Angaben lassen sich nun leicht überprüfen. Schon die aktuellen Zahlen wecken Zweifel: 2017 sind aus der EKD 190.284 Mitglieder ausgetreten. Ein Jahr zuvor hatte die EKD 21.922.187 Mitglieder. Das heißt, es sind 0,9% der Mitglieder ausgetreten. Das ist weit entfernt von den zwei bis drei Prozent, die Latzel nennt.

Und a la longue? 1990 hatte die EKD 29.442.000 Mitglieder. Kommen wir Latzel entgegen und setzen den Prozentsatz der Austritte auf 2% pro Jahr. Dann dürfte die EKD 2019 gerade noch 16.388.000 Mitglieder haben. Tatsächlich sind es Ende 2018 21.141.000 Mitglieder – eine Differenz von stolzen 4.753.000 Gläubigen. Latzel hat also selbst bei der niedrigsten %-Zahl maßlos übertrieben, um nicht zu sagen: er hat gelogen. Wären es dagegen 2,5% Verlust pro Jahr, wie er de facto unterstellt, dann dürfte die EKD nur noch gut 14 Millionen Mitglieder haben. Bei 3% wären es sogar nur noch 12 Millionen Mitglieder. In Wahrheit liegt der Verlust seit 1990 also nicht bei 2 bis 3 Prozent, sondern nur bei 1,1% der Mitglieder (einschließlich der Sterbefallüberschüsse), in Wirklichkeit also noch niedriger. Und das nennt Latzel den „Untergang der evangelischen Landeskirchen“. Selbst bei den fabulösen 3%-Zahlen des Herrn Latzel wäre die EKD im Jahr 2100 (also in über 80 Jahren!) immer noch knapp 2 Millionen Mitglieder groß. Bei den tatsächlichen Zahlen, die Latzel einfach unterschlägt, hätte die EKD noch knapp 9 Millionen Mitglieder und wäre damit eine der größten Organisationen in Deutschland.

Ich weiß nicht, was ich von Predigern halten soll, bei denen ich schon bei den ersten Sätzen auf derartige Fehler stoße. Sind sie überhaupt glaubhaft? Ist das ein Ergebnis ihres Verzichts auf historisch-kritische Forschung? Ich vermute ja. Man fabuliert sich die Wirklichkeit zurecht, wie sie einem passt, nennt das aber bibeltreu und glaubensfromm. Aber das ist es nicht.


Menschenrechte und religiös Rechte. Oder: Schlimmer geht immer

Der zurückgetretene Bischof Carsten Rentzing schrieb 1989 unter dem Titel „Liberalismus als Staatsräson – Von der Zerstörung des Grund(werte)konsenses“ über die Genese des Grundgesetzes und dessen zentrale Werte. Und er fragt:

Was ist heute daraus geworden? Immer mehr werden die Grundfesten des Staates durch ‚aufgeklärte Geister‘ angetastet. Beinahe systematisch wurden bis weit in das liberale Bürgertum hinein alt-hergebrachte Wertesysteme durcheinandergebracht. Das ehemals Normale wurde und wird zum Unnormalen gestempelt und umgekehrt. Der Dienst an der Familie durch Hausfrauen gilt heute nichts mehr, ohne dass dabei berücksichtigt wird, welch zerstörerische Konsequenzen dies für den Staat haben muss (Geburtenziffern). Ähnliches gilt für Ehen und die durch emanzipatorischen Geist geradezu lawinenartig gewachsenen Scheidungsraten. Gesellschaftlichen Sprengstoff aber muss die sich nun entfaltende Diskussion um die sog. multikulturelle Gesellschaft, mit allen Konsequenzen liefern.

Ja, der Dienst der Frauen an der Familie. Das ist bei Evangelikalen bis heute ein wichtiges Thema. Denn natürlich hat Gott „für Mann und Frau einen spezifischen Schöpfungsauftrag. Aus diesem leiten sich auch die Aufgaben und Einschränkungen(sic!) im Dienst der Frau in Familie und Gemeinde ab“ (Bibelbund). Und nach diesem Verständnis ist die „Frau nur Hilfe des Mannes in seiner Führungsrolle“ (ebenfalls Bibelbund). So weit, so schlecht. Seitdem es aber nicht nur eine Emanzipationsbewegung der Frauen gibt, die überhaupt erst zu grundlegenden Menschen- und Freiheitsrechten geführt hat, sondern auch eine LGBT-Bewegung, die diese Rechte auch für die sexuelle Identitätsbestimmung einfordert, drehen die Evangelikalen durch. Bei IDEA konnte man gerade Folgendes lesen:

Der Leiter des Evangelisationsteams Sachsen, der Evangelist und Liedermacher Lutz Scheufler (Waldenburg), äußerte sich [gegenüber idea] zur Situation der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens … Wie er zum Rücktritt des ehemaligen Landesbischofs Carsten Rentzing (Dresden) sagte, werden die Ereignisse der letzten Wochen noch lange nachklingen und ihre Wirkung nicht verfehlen. So werde sich in Sachsen derzeit wohl kein Pfarrer für so ein Amt aufstellen lassen, der die biblischen Anforderungen an einen Bischof erfülle. Eine Frau, die lesbisch sei und lieber Goethe als die Bibel zitiere, habe hingegen beste Voraussetzungen dafür, „dass nicht in ihrer Vergangenheit herumgeschnüffelt wird“.

Das ist sexistisch, misogyn und ganz allgemein menschenverachtend. Aber das weiß Scheufler natürlich selber nur zu genau, deshalb sagt er es ja. Es ist der Jargon seiner Klientel.

Ich würde aber gerne von ihm wissen, wie er aus der Bibel ableitet, dass man nicht in der Vergangenheit eines Bischofs(kandidaten) nachforschen soll. In meiner Bibel steht exakt das Gegenteil:

δεῖ δὲ καὶ μαρτυρίαν καλὴν ἔχειν ἀπὸ τῶν ἔξωθεν, ἵνα μὴ εἰς ὀνειδισμὸν ἐμπέσῃ καὶ παγίδα τοῦ διαβόλου.

Und in meiner Bibel gibt es, um auch das festzuhalten, selbstverständlich auch Jüngerinnen (Salome), Prophetinnen (Hanna) und Apostelinnen (Junia) – und nicht nur Hausfrauen.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/122/am677.htm
© Andreas Mertin, 2019