ZeitenWende 1400

Eine Ausstellungs-Katalog-Lektüre

Andreas Mertin

Höhl, Claudia; Lutz, Gerhard; Prinz, Felix (2019): Zeitenwende 1400. Hildesheim als europäische Metropole um 1400.

Wie ‚liest‘ man ein Zeitalter? Wann kann man sagen, hier und zwar genau hier, habe sich die Zeit gewendet? Und für wen muss das Gültigkeit haben: für einen Menschen, eine Gruppe von Menschen, eine Stadt, eine Region, ein Land, ein Reich, die Welt? Das waren die Fragen, die ich mir stellte, als ich von der Ausstellung ZeitenWende 1400 im Hildesheimer Dommuseum erfuhr und dann mit einem Kollegen besuchte. Bisher hatte ich nämlich ein anderes Datum für eine Hildesheimer Zeitenwende im Kopf, eine geradezu physikalisch-erfahrbare Wende, die Folgen bis in die Gegenwart zeitigt. Die Idee, mit der Bernwardstür aus dem Jahr 1015 nicht einfach nur Heilsgeschichte zu erzählen, sondern sich explizit an die Gläubigen zu wenden, ihnen die Geschichte von Sündenfall und Erlösung im Bild zu erzählen, diese Idee veränderte die visuelle Kultur der Menschheit. Es ging nicht mehr um die Kultur der Ostentation, die Bonifatius im Gegenüber zu den irischen Mönchen in Fulda gepflegt hatte, sondern um eine Kultur der Darstellung und Erläuterung. „Der Guss der beiden bronzenen Türflügel für den Hildesheimer Dom bedeutete einen Meilenstein in der mittelalterlichen Kunstgeschichte“ schreibt Heinrich Klotz in seiner Geschichte der deutschen Kunst.[1] Und interessanterweise kommt Hildesheim danach in keinem der drei Bände über Deutsche Kunst mehr vor.

Was, so muss man sich fragen, spricht dann dafür, eine große Ausstellung über eine mit der Stadt Hildesheim verbundene ZeitenWende 1400 zu veranstalten? Der Blick auf die Einwohnerentwicklung von Hildesheim zeigt jedenfalls keine besonderen Auffälligkeiten. 1270 hatte Hildesheim nur 5.000 Einwohner, im Jahr 1400 6.000 Einwohner, 50 Jahre später 8.000 Einwohner. Wenn Hildesheim also eine „europäische Metropole“ ist, wie sieht es dann im Vergleich mit anderen Metropolen dieser Zeit aus? Im Katalog der Ausstellung wird behauptet, dass Hildesheim 1400 zu den fünfzehn größten Städten Deutschlands gehörte (S. 193). Das halte ich für wenig wahrscheinlich, es sei denn man legt die Karte des heutigen Deutschlands zugrunde. Das müsste aber benannt werden, sonst wäre es unseriös bzw. ahistorisch. Für den Beginn der Neuzeit nennen die Quellen Köln und Prag mit etwa 40.000 Einwohnern, Augsburg, Lübeck, Magdeburg und Nürnberg mit etwa 20.000 bis 30.000 Einwohnern, Aachen, Basel, Braunschweig, Bremen, Breslau, Erfurt, Genf, Hamburg, Lüneburg, Metz, Mühlhausen, München, Münster, Regensburg, Rostock, Schwaz, Soest, Stralsund, Straßburg, Trier, Ulm und Wien mit etwa 10.000–20.000 Einwohnern. Das sind Größenordnungen, auf die Hildesheim erst am Ende des 18. Jahrhunderts kommt.[2]

Was also begründet das Selbstbewusstsein der Hildesheimer? Man geht nicht fehl in der Annahme, dass der Bezugspunkt die Schlacht bei Dinklar 1367 zwischen der Welfenallianz und dem Hochstift Hildesheim ist. Und da es den Hochstift wohl auch nicht mehr gäbe, wenn man diese Schlacht nicht siegreich abgeschlossen hätte, hat man natürlich einen Grund, stolz zu sein. So wie man es auf der nebenstehenden Postkarte aus der Zeit um 1900 sieht.

Also lassen wir uns ein auf einen Wendepunkt der norddeutschen Geschichte, der auf die Zeit zwischen 1342 und 1457 datiert wird. Die Ausstellung bietet dazu einen – intensiv mediendidaktisch aufbereiteten – Rundweg an, der mit dem Stadtplan von Hildesheim beginnt und dem Retabel aus der Trinitatiskapelle in Hildesheim endet. Der mediendidaktische Impuls ist allgegenwärtig und geht mit dem Begleitprogramm über die reine Ausstellung hinaus. Ich bin mir nicht ganz sicher, was ich medienpädagogisch davon halten soll. Die App zur Ausstellung, so habe ich das Gefühl, möchte Geschichte für die Jugendlichen allzu sehr vertraut machen. Ob Liebe, Krieg, Wurzeln, Welt, Körper, Macht, Frau, Ferne und Kampf wirklich die auch heute bedeutsamen Themen des Lebens sind, wenn man mit ‚Liebe‘ bzw. ‚Frau‘ die biblische Madonna versteht, unter ‚Krieg‘ den Goldkelch des Bischofs und unter ‚Kampf‘ den Hl. Georg? Ich glaube das weniger. Das scheint mir doch strukturell etwas willkürlich zu sein. Es mag im Sinn der Ausstellung interessant sein, heutige gängige Begriffe mit Objekten der Ausstellung zu assoziieren, ob das wirklich zielführend ist oder nicht doch anbiedernd wirkt, sei dahingestellt. Ich glaube, Jugendliche würden sich auch unmittelbar mit den ausgestellten Objekten auseinandersetzen und würde dabei – sofern so etwas bezahlbar ist – mit Replikaten arbeiten. Aber Museumspädagogik ist zugegebenermaßen ein schwieriges Geschäft.


Der Katalog

Zur Ausstellung vom 1.10.2019 bis zum 02.02.2020 im Dommuseum Hildesheim ist im Verlag Schnell & Steiner ein reich bebilderter und mit 432 Seiten auch umfangreicher Katalog erschienen. Der Katalog ist zur Anschaffung empfehlenswert.

Inhaltsübersicht

  • Hildesheim um 1400
  • Die Schlacht bei Dinklar 1367
  • Die Verehrung der heiligen Bischöfe Bernward und Godehard von Hildesheim um 1400
  • Karl der Große als ‚heiliger‘ Gründer und Helfer
  • Bischöfliche Schätze – jenseits der Kirchen
  • Lippold von Steinberg, Pilger und Pilgerwesen im Dom
  • Bildwerke des gekreuzigten Christus zwischen 1350 und 1450 – Versuch einer Neubewertung
  • Kleider für die Heiligen
  • Klöster – Stifte – Konvente
  • Gerhard von Schalksberg, Bischof von Hildesheim 1365-1398
  • Zwischen Kloster und Stadt: Das Semireligiosentum im spätmittelalterlichen Hildesheim
  • Eucharistische Frömmigkeit
  • Geistliche Frauengemeinschalten in Hildesheim
  • Die Orte der Bücher im Kloster: Ein Rundgang
  • Sakralarchitektur der Gotik in Hildesheim
  • Das Magdalenenretabel aus dem Hildesheimer Reuerinnenkloster
  • Cusanus in Hildesheim. ‚Vom Sehen Gottes‘ Oder: Wie erkennen wir uns selbst?
  • Kirche als öffentlicher Ort
  • Stadtgesellschaft Hildesheims um 1400
  • Soziale Einrichtungen
  • Das Retabel aus dem Trinitatis-Hospital in Hildesheim Ein Bildobjekt zur Bewältigung von Krankheit und Gebrechen

Der Katalog ist auch jenseits des Ausstellungsbesuchs sehr lesenswert, er erörtert einige kunsthistorische und theologiegeschichtliche Fragen (z.B. über die Bildwerke des gekreuzigten Christus), die auch grundsätzlich von Belang sind. Es zeigt, dass es tatsächlich einen theo-ästhetischen Diskurs etwa über die Gestaltung von Kruzifixen gibt, der ganz Europa umspannt und neben Italien und Flamen eben auch die anderen Regionen im Heiligen Römischen Reich umfasst. (Hier hätte man noch die Konkurrenz von Cimabue und Giotto mit ihren Kruzifixen in Santa Croce und Santa Maria Novella und das Kruzifix von Michelangelo in Santo Spirito mit einbeziehen können. Aber das ist ein Einwand, der sich aus meinen eigenen Interessen ergibt.)

Auch der Artikel über die „Kirche als öffentlicher Ort“ ist sehr interessant für heutige Kirchenbesucher, zeigt er doch sehr eindrücklich auf, welche Differenz zwischen Kirchenräumen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit und der heutigen Wahrnehmung und Gestaltung von Kirchenräumen besteht.

Der eigentliche Katalog (S. 230-412) stellt dann jedes der 90 ausgestellten Objekte vor. Einige sind Highlights wie die beiden Gründungsreliquiare (Original des 9. Jh. und Kopie des 14. Jh.), die die Frage aufkommen lassen, was den während der Ausstellungszeit im Dom steht. Und schon sind wir bei einer spannenden Debatte über Original, Kopie und Fälschung die von Umberto Eco stammen könnte.[3]

Also, besorgen Sie sich den Katalog, stöbern Sie, fahren Sie nach Hildesheim ins Dommuseum und begeben Sie sich auf die Spurensuche. Sie haben noch bis zum 02.02.2020 Zeit.

Anmerkungen

[1]    Klotz, Heinrich; Warnke, Martin (1998): Geschichte der deutschen Kunst, 3 Bde. Mittelalter 600-1400; Spätmittelalter und Frühe Neuzeit 1400-1750; Aufklärung und Moderne 1750-2000: C.H. Beck.

[3]    Eco, Umberto (1988): Del falso e dell'autentico. In: Paolo Piazzesi (Hg.): Museo dei musei. Ausstellungskatalog Palazzo Strozzi. Firenze: Condirène, S. 13–16. Eco, Umberto; Memmert, Günter (1995): Die Grenzen der Interpretation. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag. Kapitel 3,4: Nachahmungen und Fälschungen, S. 217-255.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/122/am682.htm
© Andreas Mertin,2019