Lesen und Begreifen

Rembrandts Prophetin Hanna

Andreas Mertin

Ein protestantischer Künstler

Rembrandt van Rijn gilt in der öffentlichen Wahrnehmung als der protestantische Barock-Maler schlechthin (nicht zuletzt im Gegenüber zum als dezidiert katholisch wahrgenommenen Konkurrenten Peter Paul Rubens). 1606 in Leiden geboren, 1669 in Amsterdam gestorben, fällt sein Schaffen in das Goldene Zeitalter der Niederlande, als Handel, Politik und Kultur blühten und die Kunst sich zum ersten Mal auch im Besitz der breiten Bevölkerung befand.[1] In Kindlers Malereilexikon wird seine Bedeutung so zusammengefasst:

„Rembrandt ist der größte Maler Hollands und einer der größten Europas. Als Darsteller der biblischen Geschichte ging er von der bürgerlichen Tafelmalerei und dem evangelischen Christentum der Holländer aus, erhob seine Kunst jedoch über alle zeitlichen, sozialen, nationalen und konfessionellen Grenzen zu allgemeiner Geltung. Sein Werk ist in etwa 600 Gemälden, über 300 Radierungen und mehr als 1500 Handzeichnungen erhalten.“[2]

Aber nicht alle Arbeiten sind eigenhändig ausgeführt, viele stammen ‚nur‘ aus seiner Werkstatt. Die so genannte Händescheidung ist immer noch eine Herausforderung – auch für die Museumsbesucher, die feststellen müssen, dass ein Werk, das lange Zeit als eigenes Werk von Rembrandt galt, nun plötzlich nur noch unter „Werkstatt“ läuft (oder gleich ins Depot verschoben wird).

Das Bild, das uns nun interessiert, stammt aber sicher aus Rembrandts Hand.

Im Jahr 1631, in dem Rembrandt van Rijn dieses Bild malt, wechselt er gerade dauerhaft von der Stadt Leiden nach Amsterdam.

Er hat bereits ein gewisses Renommee, ja sogar ein eigenes Atelier in Leiden und einige Schüler wie etwa Gerrit Dou, wird aber erst in Amsterdam zu der Berühmtheit, als die wir ihn heute kennen.

In dieser Zeit fertigt er viele Studien an, die dann zu Gemälden werden. Und er hat schon mit seiner Reihe von Selbstporträts[3] begonnen, die die Menschen bis heute zu Tausenden in die Museen der Welt führen. Rechts sehen wir ein Selbstporträt aus dem Jahr 1630, das heute im British Museum zu finden ist.

Zu diesen frühen Studien gehört auch das höchst interessante Bild von Rembrandts Mutter aus dem Jahr 1628. Das Rijksmuseum Amsterdam schreibt zu diesem Bild:

This old woman already featured in the first etchings Rembrandt made. She is virtually certainly his mother, Neeltgen Willemsdr van Zuytbroeck. In the two versions of 1628, she is 60 years old. They are accurate studies of her furrowed face, drawn in such detail that you can just imagine the young Rembrandt toiling away on his copperplate directly in front of her.

Man kann online in der Vergrößerung im Rijksstudio des Amsterdamer Museums sehr gut dieses Bemühen um den Realismus en Detail, Strich für Strich studieren.[4] Es ist wirklich beeindruckend.

Das Bild, das wir gleich betrachten, zeigt einerseits bereits Rembrandts sich entwickelnden eigenen Stil, zum anderen aber auch noch den Einfluss des Malers Pieter Lastman (1583-1633), bei dem Rembrandt 1624 sechs Monate in Amsterdam in die Lehre gegangen war und der ihm die Historienmalerei beigebracht hatte. Der Reflex der Historienmalerei im folgenden Werk liegt darin, dass Rembrandt die höchst intensive und subjektive Darstellung einer in der Bibel lesenden Frau mit einem konkreten biblischen Sujet verknüpft.

Das Gemälde hat die Maße 60x48 cm, ist also etwas größer als DIN A 2. Damit ist es gut zu studieren.


Das Bild: Eine in der Bibel lesende Frau (1631)


Rembrandt van Rijn, In der Bibel lesende Frau, 1631, Öl/Lwd, 60x48 cm, Rijksmuseum Amsterdam

Es ist in der digitalen Reproduktion wie auch im Print nicht möglich, dem Bild jenen Glanz und jene Leuchtkraft und jene unvergleichliche Aura zu geben, die es im Original hat. Es ist ein für die normale Rembrandt-Rezeption ungewohnter Glanz, der von diesem Gemälde ausgeht.[5]

Blick 1: Zunächst fällt die alles andere überschattende Dunkelheit des Bildes auf. Man hat das Gefühl, mehr als die Hälfte des Bildes sei in tiefes Dunkelbraun getaucht. Es ist eine unwirkliche Situation, bei der eine konkrete Verortung schwerfällt. Selbst in einem dunklen Zimmer würde das eine oder andere an der Wand doch wahrnehmbar sein. Hier geschieht das nicht, so dass die Abstraktheit der Umgebung selbst schon ein Ergebnis des in den Blick zu nehmenden Meditationsaktes ist. Das handelnde Subjekt hat alles um sich herum vergessen.

Blick 2: Aus der Dunkelheit, aber durchaus noch mit ihr verbunden, schält sich eine alte Frau in einem wallenden mit Pelz und Goldborten besetzen Gewand. Der Eindruck des Gewandes lässt es als überaus kostbar erscheinen. Kein normaler Bürger, keine Bürgerin könnte sich dieses Gewand leisten. Man fühlt sich etwas an Dürers kostbaren Pelzrock aus dem Selbstbildnis von 1500 erinnert. Wir haben hier keinen Orientalismus vor uns, sondern eine Inkulturation ins gehobene Bürgertum des frühen 17. Jahrhunderts.

Blick 3: Nun aber kommen wir zum Entscheidenden, dem Spiel mit dem Licht, das Rembrandt vornimmt. Denn erkennbar liegt das Gesicht der alten Frau ja nahezu im Dunkeln und auch ihre Kleidung löst sich kaum vom noch dunkleren Hintergrund. Rembrandt lässt das Licht links hinter der alten Frau entstehen, auf ihren Rücken scheinen und dann vor allem auf das große Buch vor ihr fallen und auf die faltige Hand, die in ihm blättert. Anders als bei Kunstwerken, die wir nachher noch betrachten werden, liegt hier der Fokus nicht auf dem Gesicht (und damit dem religiösen Eindruck) der Lesenden, sondern auf dem Buch in dem sie blättert. Das Buch, das so in den Blick gerät, ist eine Foliobibel. Bis Mitte des 17. Jahrhundert war eine derartige Foliobibel, wie sie hier dargestellt ist, für normale Menschen kaum erschwinglich (eine große Lutherbibel des 16. Jahrhunderts soll dem Wert von 5 Kälbern entsprochen haben). Zudem war die Alphabetisierung noch kaum vorangeschritten. Erst die Bibelgesellschaften ermöglichten dann am Ende des 17. Jahrhunderts eine verbreitete Lektüre der Bibel. Der in der Kleidung dargestellt Reichtum der Frau passt also zum Reichtum, der in der Bibel zum Ausdruck kommt.


Rembrandts Mutter?

Die bibellesende Frau auf dem Gemälde von 1631 wurde lange Zeit für Rembrandts Mutter, Neeltgen Willemsdochter van Zuytbrouck (1568-1640) gehalten, die er für die Darstellung des Gemäldes in ein kostbares Kostüm gesteckt hat, das aus dem Fundus seines Ateliers stammt. Dieser einem Theater ähnliche Fundus ist zumindest aus dem Amsterdamer Atelier von Rembrandt bekannt. Falls die Vermutung zutrifft, müsste er sie aber deutlich älter gezeichnet haben, als sie damals war. Die Frau sieht aus, als wäre sie um die achtzig (stimmt die noch zu erörternde Sujet-Zuschreibung, müsste die Frau genau 84 Jahre alt sein), während Rembrandts Mutter zu dieser Zeit erst zweiundsechzig Jahre, also 20 Jahre jünger war.[6] Für diese Vermutung spricht jedoch, dass die Frau, die Rembrandt als Modell verwendet, auf verschiedenen Bildern immer wieder auftaucht. Da aber Bilder in Rembrandts Zeiten nur selten direkt mit einem Titel versehen wurden, geschweige denn, dass bei biblischen Motiven das herangezogene Modell benannt wurde, ist man weiter auf Spekulationen angewiesen. Es spricht m.E. aber mehr für die Identifizierung der Frau mit Rembrandts Mutter als gegen diese Vermutung.

Auch Rembrandts Schüler Jan Georg van Vliet (1605-1668), der kurz nach der Entstehung des Gemäldes eine (seitenverkehrte) Radierung anfertigte, gibt keinen Bildtitel an.[7]

Er vermerkt auf dem Bild nur Rembrandt als Bildschöpfer (Inventor) und sich selbst als Radierer. Er gibt aber durch die andere Technik wertvolle Einsichten in die Komposition des Bildes, denn bei ihm erscheint der Hintergrund hell und der zentrale Inhalt wahrnehmbarer, aber natürlich auch weniger bedeutungsvoll bis ins leicht Karikaturenhafte.


Betende alte Frau (1628)

Ein anderes kleines Bild aus der Hand von Rembrandt erfordert noch kurz unsere Aufmerksamkeit. Das hochformatige Bild mit Maßen von nur 15,5 x 12 cm wurde in Öl auf Kupfer gemalt und lief längere Zeit auch unter dem Titel „Rembrandts Mutter“. Es ist von einem äußersten, geradezu schonungslosen Realismus. Die dargestellte Frau wird auf über 90 Jahre geschätzt. Da kein religiöses Sujet zuzuordnen ist, spricht einiges dagegen, dass Rembrandts Mutter hier in eine Rolle geschlüpft ist. Insofern wäre es von dem Bild mit der bibellesenden Frau abzugrenzen.

 


Die Prophetin Anna / Hanna

Zurück zu Rembrandts Bild von 1631. Dargestellt ist, davon gehen die meisten mit dem Bild befassten Kunsthistoriker aus, die 84jährige Prophetin Hanna bzw. Anna nach Lukas 2, 36-38:

Und es war eine Prophetin, Hanna, eine Tochter Phanuëls, aus dem Stamm Asser; die war hochbetagt. Sie hatte sieben Jahre mit ihrem Mann gelebt, nachdem sie geheiratet hatte, und war nun eine Witwe an die vierundachtzig Jahre; die wich nicht vom Tempel und diente Gott mit Fasten und Beten Tag und Nacht. Die trat auch hinzu zu derselben Stunde und pries Gott und redete von ihm zu allen, die auf die Erlösung Jerusalems warteten.

Diese Hanna ist insofern etwas Besonderes im Neuen Testament, als dass sie als einzige Frau als Prophetin bezeichnet wird, weshalb ihr auch in der feministischen Theologie eine besondere Rolle zugekommen ist.[8]

„Der Name Hanna, hebr. חַנָּה, (griech. ’Aννα) kann von der hebr. Wurzel חנן chnn ‚jemandem gnädig / zugeneigt sein, sich erbarmen‘ hergeleitet werden und bedeutet ‚er [gemeint ist Gott] hat sich erbarmt‘. Andere erklären die Bedeutung des Namens mit חֵן chen ‚Gunst / Anmut / Schönheit‘.“[9]

In der Bibel gibt es drei Hannas: Hanna, die Mutter Samuels (1 Sam 1 und 2); Hanna, die Ehefrau Tobits (Tob); Hanna, die Prophetin (Lk 2, 36-38). Interessanterweise sind alle drei Hannas von Rembrandt dargestellt worden: Einmal 1626 noch ganz im Stil von Lastman die biblische Historie von Tobit und seiner Frau, dann 1631 das von uns betrachtete Bild der im Neuen Testament erwähnten Hanna und schließlich 1650 die Darstellung von Hanna, der Mutter Samuels.

Interessant ist ja, dass wir im Rahmen der Weihnachtsgeschichte in der Kunst andauernd auch Hanna sehen, sie dabei aber gar nicht wahrnehmen, weil wir auf das zentrale Motiv der Darbringung im Tempel schauen. Wie fast immer ist es der Mann, hier Simeon, der im Vordergrund steht. Aber neben ihm steht mit wenigen Ausnahmen eine alte Frau mit einer Schriftrolle, also eine belesene Frau, die aus der Schrift den Messias bezeugt. Das ist die Prophetin Hanna, deren Bibellektüre Rembrandt ein eigenes Bild widmet.


Der Körper - Bibellektüre als Handarbeit I

Rembrandt ermöglicht einem dabei zunächst, einen (Rück-)Blick auf die Körperlichkeit des Lesens zu werfen. Wir brauchen unsere Hände, um lesen zu können. Natürlich gibt es heute Hörbücher und Ebook-Reader, natürlich bestand die frühneuzeitliche und neuzeitliche Wissens-Kultur auch aus dem Vorlesen von Büchern. Aber der eigentliche Akt besteht doch darin, ein Buch in die Hand zu nehmen und in ihm zu blättern, es näher oder weiter von den Augen entfernt zu halten, und mit dem Finger der Textlinie zu folgen. Lesen ist die reziproke Geste zum Schreiben. Vilém Flusser ist in seinem Buch „Gesten. Versuch einer Phänomenologie“ ganz verschiedenen Gesten nachgegangen, darunter auch der Geste des Schreibens.[10] Und er verweist auf die Komplexität und die Materialität, die dieser Geste zu Eigen ist. Ihrem Komplementär, ohne den sie nicht sinnvoll wäre, widmet er leider kein Kapitel. Aber so wie der Schreibende in sein Material etwas ein- und ausdrücken muss, so ahmt die lesende Geste diesen Ausdruck nach. Im Gestus des Lesens wird die Geste des Schreibens wieder lebendig und körperlich. Das ist vielleicht auch die Schwäche aller digitalen Versuche, den Schreib- und Lesevorgang zu simulieren. An die Stofflichkeit und Körperlichkeit ihrer Vorgänger kommen sie nicht heran.

Wer der ganzen Lust des Lesens und der Bücherkultur nachgegen will, sollte im nun schon ein Vierteljahrhundert alten „Bücherlesebuch. Vom Lesen, Leihen, Sammeln; von Büchern, die man schon hat, und solchen, die man endlich haben will“ nachlesen.[11] Freilich überwiegt auch hier der Fokus auf dem Inhalt der Bibliotheken und weniger auf dem besonderen Vergnügen, alte Texte zu lesen.[12]


Entziffern - Bibellektüre als Handarbeit II

Noch etwas Anderes gehört zur Körperlichkeit, bezeichnet aber mehr den physischen Akt des Entzifferns. Heutigen Menschen, die mit Büchern groß geworden sind, welche nicht mehr auf Pergamentpapier gedruckt sind, die nicht mehr mit Bleisatz hergestellt sind, bleibt dieser wirklich physische Akt verborgen. Es macht wenig Sinn mit den Fingern über das glatte Papier eines heutigen Buches zu fahren – da gibt es keinen Widerstand, da wellt sich kein Papier, da klopft nicht das Herz, wenn man vorsichtig umblättert, weil das fragile Papier knistert.

Ich habe 1985 einmal eine Buchreihe abonniert, nur weil sie mir versprach, noch im damals absolut rar gewordenen Bleisatz gedruckt zu werden. Das war (zumindest bis 1996) eine wirklich physisch erfahrbare Freude, über die Buchstabenseiten der Anderen Bibliothek von Hans Magnus Enzensberger zu fahren.

Aber in überhaupt keinem Vergleich dazu steht das Vergnügen, über die Seiten und Buchstaben von Büchern aus dem 17. oder 18. Jahrhundert zu fahren. Und genau davon kündet die Hand der Prophetin Hanna auf dem Gemälde von Rembrandt. Man sieht ihr an, wie sie – fast wie eine Blinde über einer Brailleschrift – die Buchstaben ertastet, als wenn sie es nicht glauben könnte, was sie da liest. Sie liest, das ist an einigen Buchstaben erkennbar, in einer Schrift des Alten Testaments, ohne dass man erkennen könnte, um welche es sich handelt. Man erkennt ein ה, aber mehr auch nicht. Die restlichen Textzeilen sind nur als Striche gezeichnet. Aber das Physische, das Stolpern über die einzelnen hebräischen Buchstaben, der Gestus des Entzifferns bleibt erhalten. Das ist es, was ich – neben der auratischen Farbigkeit der Bildgestaltung – von diesem Bild in Erinnerung behalte. Lesen geschieht mit der Hand.


Gerrit Dou

Es gibt nun ein ‚neutestamentliches‘ Pendant zu diesem Bild, das Rembrandts Schüler Gerrit Dou gemalt hat. Es zeigt dieselbe Person, aber in einer anderen Rolle. Auch hier sehen wir eine in der Bibel lesende Frau, aber diesmal ist sie eine fromme Frau des beginnenden 17. Jahrhunderts.


Gerrit Dou, Bibellesende Frau, 1631/32, Öl/Lwd., 71x55 cm, Rijksmuseum Amsterdam

Ganz anders in der Lichtführung und im Aufbau und doch nicht ohne Kenntnis des Gemäldes von Rembrandt ist das 1631/32 entstandene Werk von Gerrit Dou. Hatte Rembrandt auf seinem Werk das Licht ganz bewusst so inszeniert, dass aller Glanz auf der großen Foliobibel lag, während das Gesicht der alten Frau im Halbdunkel verblieb, so stellt Gerrit Dou die Leserin prominent ins Licht. Jeder Zug ihres Gesichts ist deutlich erkennbar.

Und Dou lässt uns auch nicht im Unklaren darüber, welche Geschichte die Frau gerade liest. Zwar sind auch bei ihm die einzelnen Textzeilen verwischt, aber die Überschriften lassen sich lesen und die Bibelillustration anhand der Kapitelüberschrift auch gut deuten.

Direkt über der Bibelillustration steht:
            Evangelium Luce xix Cap
Und damit sind wir bei der bekannten Geschichte des reichen Zolleintreibers Zachäus, der Jesus, als dieser Jericho besucht, unbedingt sehen will, aber aufgrund seiner kleinen Statur nicht sehen kann. Deshalb klettert er auf einen Maulbeerfeigenbaum. Und als Jesus an ihm vorbeikommt, spricht er ihn an. Exakt diesen Moment der Ansprache zeigt die Bibelillustration, die Dou in den Text eingefügt hat. Das ist ein beliebtes Motiv, das auch Matthäus Merian 1630 in seiner Bibel aufgegriffen hat. Brisant wird Dous Bild aber erst dadurch, dass die Geschichte von Zachäus in äußerstem Kontrast zur Kleidung der lesenden Bürgerin steht. Warum? Auf Jesu Zuwendung zu Zachäus reagiert dieser in einer spezifischen Umkehr:

Zachäus aber trat herzu und sprach zu dem Herrn: Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück. Jesus aber sprach zu ihm: Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist ein Sohn Abrahams.

Die teure Kleidung der alten Frau steht aber in klarem Kontrast zu dieser Botschaft: Sie ist immer noch an weltliche Besitztümer gebunden. Wenn Gerrit Dou dies als Botschaft intendiert hat, ist das interessant, denn es kollidiert damit, dass auch seine Werke nicht für jederman erschwinglich waren. Vermutlich ist für die reformiert geprägte reiche niederländische Gesellschaft der dargestellte Kontrast gar nicht als Kritik an Reichen, sondern als Aufruf zu Werken der Barmherzigkeit verstanden worden.[13] Ich vermute, so wird man das Bild eher deuten müssen.


Im Vergleich I

Beide Bilder berühren mich insofern auf einer emotionalen Ebene, weil ich meine Großmutter selbst noch in einer derart intensiven Bibellektüre gesehen/erlebt habe.[14] Aber dennoch zeigen die beiden Gemälde eine unterschiedliche Haltung zum Lesen und zur Inkorporierung biblischer Inhalte. Und diese unterschiedliche Haltung wird sehr gut durch die künstlerische Gestaltung und hier vor allem durch die unterschiedliche Lichtführung bei beiden Künstlern dokumentiert.

Bei Gerrit Dou bestimmt der illustrative Charakter im doppelten Sinn das Bild: die Leserin wird als Leserin des Textes gezeigt, als jemand, der ein wichtiges Buch studiert. Dieses Buch ist als bekanntes Buch, als Bibel bereits vorausgesetzt – im Voraus gesetzt – und nun eignet sie es sich lesend an. Man könnte der dargestellten Leserin sogar eine Art ästhetisches Verhältnis zu ihrem Leseobjekt unterstellen: sie schaut auf die Bibelillustration so, als ob sie deren sinnlich-reflexive Qualität überprüfen wolle.

Bei Rembrandt verschmilzt die Leserin dagegen geradezu mit ihrer Lektüre, sie dringt in den Text ein. Das Bild verkörpert quasi ein religiöses Geschehen, es lässt erfahren wie Hanna zu der wurde, als die wir sie kennen. Sie ist keine Person einer Eventgesellschaft, in der es wichtig wäre, sie zu kennen. Ihre Bedeutung ergibt sich aus der Sache heraus: und diese Sache ist das Studium der Schrift. Rembrandts Bild ist so viel geheimnisvoller, hat so viele Leerstellen, mit denen die die religiöse Imagination arbeiten kann. So wie Hanna aus dem Dunkel durch die Lektüre der Schrift ans Licht tritt, so wie sie begreift, was sie da (und etwas später: wen sie da) vor sich hat, so soll auch der Betrachter, die Betrachterin sich die Bibel in der Lektüre begreifend zu eigen machen.


Im Vergleich II

Wenn man nach Vorbildern für Rembrandts und Dous Arbeiten sucht, könnte man auf einen Kupferstich zurückgreifen, den Karel van Mallery (1571-1635) gestochen hat und der die Prophetin als alte Lesende in ein architektonisches Framing setzt. Das Bild hat laut Inschrift wiederum eine Vorlage in einem Bild des manieristischen Malers Maerten de Vos. Datiert wird das Bild auf das letzte Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts. Es stammt aus einem Buch mit einer Bildersammlung von berühmten Frauen des Alten und Neuen Testaments. Charakteristisch für die Stiche ist, dass sie immer die Protagonistin im Vordergrund zeigt und ein Detail aus ihrem Leben im Hintergrund (hier Simeon und Hanna in einem Gebäude im Stil des Tempietto di Bramante).

Das andere Bild ist das erste, dass aus der Hand einer Frau stammt. Denn das beginnende 17. Jahrhundert ist jenes, in dem zum ersten Mal Frauen in der Kunst als selbstständige Akteure auftreten und auch wahrgenommen werden. Am Bekanntesten ist heute vermutlich Artemisia Gentileschi (1593-1656), die zu den herausragenden Caravaggisten ihrer Zeit gehört. Dann wäre die hugenottische Malerin Louise Moillon (1610-1696) zu nennen, die zu den berühmtesten Stilleben-Malerinnen Frankreichs zählte. Und schließlich eben auch die mit einem Bild der Prophetin Hanna gezeigte Magdalena de Passe (* 1600 in Köln, † 1638 in Utrecht). Sie versetzt die alte Frau in einen Kontext, der vermutlich einer zeitgenössischen niederländischen Stadt entspricht. Rembrandt und Dou dagegen intimisieren die Szene, der Subjektivierung der Religion folgend.


Epilog: Bibellesende Frauen in der Kunst

Dass Rembrandt und Dou das Sujet der bibellesenden Frau gewählt haben, ist in der Kunst der Neuzeit nicht ungewöhnlich. Vertrauter ist freilich aus der Kunstgeschichte das Bild des bibellesenden Mannes, vorrangig etwa bei dem Bildtyp „Hieronymus im Gehäuse“.[15] Aber den religiösen Alltag der Menschen, bedingt durch die Folgen der Gutenberg-Revolution, die die Bibel allen Menschen zugänglich machte, fangen erst die Bilder des 17. und 18. Jahrhunderts ein. Die einschlägigen Bilder aus dem Rijksmuseum habe ich in einem Portfolio zusammengestellt.[16]

Ein schönes Beispiel für die Darstellung einer Alltagsszene ist ein Detail aus einem emblematischen Bild, das im Jahr 1687 von dem Künstler Jan Luyken im Buch „Voncken der liefde Jesu / Funken der Liebe Jesu“ publiziert wurde.[17] Das Buch eröffnet mit der Frage „Was ist das Leben?“ und arbeitet sich dann an diversen Fragestellungen ab. Im 19. Kapitel geht es anhand von 1. Kor. 15, 40 um die Körperlichkeit der Auferstehung. Werden wir mit unserem irdischen Körper auferstehen oder werden wir einen himmlischen Körper haben? (Auch gibt es Himmelskörper und irdische Körper. Die Schönheit der Himmelskörper ist anders als die der irdischen Körper).

Das versucht der Text recht anschaulich durch einen Verweis auf den Unterschied der optischen Wahrnehmung von Wein im Holzgefäß und im Kristallgefäß zu verdeutlichen.

Daneben platziert Jan Luyken aber nun die Genre-Szene einer alten, eifrig die Bibel studierenden Frau. Sie wirkt zunächst eigentümlich deplatziert (zumal der begleitende Text auf sie gar nicht eingeht). Aber auch hier geht es ganz konkret um die Körperlichkeit. Die schon gicht-geschwollenen Finger der alten Frau zeichnen mühsam den Bibeltext nach, während ein typisch nordeuropäisches Stövchen ihr die Füße und den Körper wärmt. Und auch das Lesen selbst fällt ihr nicht mehr leicht, weshalb sie eine Brille mit dicken Gläsern trägt. Ihr Körper ist gekrümmt, denn viel Studieren macht den Leib müde (Pred. 12,12). Aber sie konzentriert sich vollständig auf das Lesen in dem großen Folioband, in dem man sicher eine Bibel vermuten darf.

Eigentümlich verblasst und wesentlich ausdrucksschwächer sind die Arbeiten des 19. Jahrhunderts zum Thema. Es mag daran liegen, dass mit der Industrialisierung eine andere Lese-Kultur entsteht oder aber, dass die Künstler das Thema nun anders angehen. Denn auch bei van Gogh finden wir ja noch entsprechende Genreszenen und bei Cezanne entsprechende Bibeldarstellungen. Aber offenkundig hat sich im Wechsel zum 19. Jahrhunderts etwas verändert.

Wahrnehmbar ist das schon beim ersten der beiden oben abgebildeten Werke. Völlig vom Text der Bibel abgekehrt, ihn aber auch nicht wirklich meditierend, erscheint die Frau mit der Bibel bei George Gillis Haanen aus dem Jahr 1834. Man kann sich nicht einmal sicher sein, ob es sich überhaupt um eine Bibel handelt. Auch diese Frau ist nicht arm, wie der angedeutete Pelzbesatz ihres Überhangs und das Bild mit Vorhang zeigen. Aber die Frau scheint dann doch eher mit anderen Dingen beschäftigt, dem Tagesgeschäft und den Besorgungen.

Irgendwie ganz anders verarbeitet und vor allem ironisiert wird das Thema „Lesen und Begreifen“ auf dem letzten von mir ausgewählten Bild. Es stammt von Pieter Christoffel Wonder und ist nur 15x11 cm groß. Man könnte auch von der ersten satirischen Darstellung des Themas sprechen. „Seine Mutter in der Bibel lesend“ lautet der Bildtitel. Und all das, was man den Werken von Rembrandt van Rijn und Gerrit Dou noch hätte entnehmen können, ist hier auf eine Notiz aus vergangenen und vergehenden Zeiten reduziert. Die Kerze, die früher noch ein religiöses Vanitas-Symbol gewesen wäre, ist zum Aperçu am Rande verkommen. Ihr Licht spielt keine Rolle mehr, es ist verloschen und weicht der Aufklärung des Tages. Immerhin: Gelesen wird weiterhin.


Anmerkungen

[1]    Vgl. North, Michael (2001): Das Goldene Zeitalter. Kunst und Kommerz in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts. 2., erw. Aufl. Köln [u.a.]: Böhlau.

[2]    Art. Rembrandt, Kindlers Malereilexikon (2003). 3. Aufl. Berlin: Directmedia Publishing.

[3]    Vgl. Rembrandt; Manuth, Volker; Winkel, Marieke de (2019): Rembrandt. Die Selbstporträts.

[5]    Online ist das Bild im Rijksstudio gut zu betrachten und dort kann es auch hochauflösend heruntergeladen werden: https://www.rijksmuseum.nl/en/collection/SK-A-3066

[6]    Vgl. Kitson, Michael (1992): Rembrandt: Phaidon Press Ltd (Colour Library), S. 40f.

[8]    Vgl. Janssen, C. / Lamb, R., 1998, Das Evangelium nach Lukas. Die Erniedrigten werden erhöht, in: Schottroff, L. / Wacker, M.-T., Kompendium Feministische Bibelauslegung, Gütersloh, 513-526

[10]   Flusser, Vilém (1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie. 2. Aufl. Bensheim: Bollmann (Bollmann-Bibliothek, 5).

[11]   Günther, Horst (1994): Das Bücherlesebuch. Vom Lesen, Leihen, Sammeln; von Büchern, die man schon hat, und solchen, die man endlich haben will. Orig.-Ausg., 22. - 24. Tsd. Berlin: Wagenbach (Wagenbachs Taschenbuch, 200).

[12]   Mertin, Andreas (2019): Vom besonderen Vergnügen, alte Texte zu lesen. Oder: Was sind „Unerkannte Sünden“? In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 21, H. 119. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/119/am669.htm.

[13]   Mertin, Andreas (2016): Die sieben Werke der Barmherzigkeit. Ein Beispiel diakonischer Kunst - wiederbetrachtet. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 18, H. 102. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/102/am546.htm.

[14]   Mertin, Andreas (2008): Bibel lesen. Private Notizen. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 10, H. 51. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/51/am240.htm.

[15]   Vgl. Mertin, Andreas (2019): Lesendes Eingedenken, Notizen zum Hieronymus im Gehäuse. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 21, H. 119. Online verfügbar unter https://www.theomag.de/119/am667.htm.

[17]   Luyken, Jan (1687): Voncken Der Liefde Jesu, Van het Godtbegerende Zielenvier. Bloemitjes der Salige Hoope, tot verheugelykheid der Wandelaars, langs den Weg, na vreden Ryk ; Een behelfinge van vyftig Sinne-beelden, met hunne daar op spelende verssen, en heylige Spreuken. Amsterdam: Arentsz. [Funken der Liebe Jesu. Von dem gottesbegehrenden Seelenfeuer]

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/122/am683.htm
© Andreas Mertin, 2019