Raum in der kleinsten Kapelle

Über den Maler Henri Matisse, seine ungläubige Theologie
und die Ästhetik der Vereinfachung

Wolfgang Vögele

1. Urlaubspläne

Der Anlass für diesen Essay ergab sich aus einer sommerlichen Urlaubsreise in den Süden. Wir bezogen im August ein Ferienhaus hoch über dem Var-Tal und nutzten die Gelegenheit zu einem Spaziergang durch die Altstadt von Nizza. Im Stadtteil Cimiez sahen wir das Hotel Régina, in dem der Maler Henri Matisse[1] nach dem Krieg bis zu seinem Tod wohnte, wir schlenderten durch den Park mit dem alten Olivenhain, in dem auch der Maler gerne spazieren ging, und wir besuchten die ockerfarbene Villa mit herrlichem Blick nach Süden, auf das Mittelmeer, das an der Côte d’Azur besonders blau sein soll. In der Villa ist heute das Musée Matisse untergebracht, aber der Maler hat darin nie gewohnt.

Ein zweiter Ausflug führte uns in das Städtchen Vence, dreißig Kilometer westlich von Nizza und viel kleiner als die Großstadt. Trotzdem mussten wir lange suchen, bevor wir in einem Wohngebiet an einer Ausfallstraße die berühmte Chapelle du Rosaire fanden, ein unauffälliges Gebäude oben an einem Hang, mit Blick auf die ummauerte Altstadt von Vence auf dem Hügel gegenüber. Auf die Gestaltung der Kapelle hat Matisse mehrere Jahre seines Künstlerlebens verwendet. Er sah in ihr sein Haupt- und Alterswerk. Die wenigen Kunstwerke der Kapelle brachten alle Besucher, uns eingeschlossen, zum Schweigen und Staunen. Es war faszinierend zu sehen, wie ein erklärter Atheist im kleinen Raum dieser Kapelle ein theologisch grundiertes ästhetisches Programm entwickelte. An der Kapelle wird wie im gesamten Alterswerk mit den berühmten und oft kritisierten paper cuts eine Tendenz zur Vereinfachung und Abstraktion sichtbar, die nicht nur biographische Gründe besitzt. Eine kurze Recherche über das Smartphone ergab, daß in der Mannheimer Kunsthalle gleich nach unserer Rückkehr aus dem Urlaub eine große Matisse-Ausstellung eröffnet werden sollte.

Und damit war die Idee zu diesem Essay geboren. Die Kapelle in Vence, das Museum in Nizza und die Ausstellung in Mannheim sollen die Grundlage für die Beantwortung von zwei Fragenkomplexen bilden.

  • Wie kommt ein Maler und erklärter Atheist dazu, ausgerechnet eine Kapelle künstlerisch zu gestalten und dabei ein eigenes, profiliertes theologisches Programm umzusetzen? Taugt dieses theologische Programm, das Matisse als Maler der klassischen Moderne entwickelte, noch in der Gegenwart?
  • In dieser Kapelle, aber auch in weiteren Alterswerken wandte Matisse eine Methode der Ver­einfachung und Abstraktion an, die eng mit dem theologischen Programm verflochten ist. Abgesehen davon, dass Abstraktion und Vereinfachung vermutlich voneinander zu un­ter­schei­den sind, was ist der ästhetische Sinn dieser Methode der Vereinfachung? Und auch für diese Me­thode soll gefragt werden: Taugt sie noch siebzig Jahre später in einer aktuellen Kunst­kul­tur, die durch Serialität, Komplexität, die Wechselwirkung von Systemen und Funk­tionen, durch Überwältigung und aleatorische Fülle, durch Kontingenz und Unübersicht­lich­keit, durch das chaotische Nebeneinander ganz unterschiedlicher Stile charakterisiert werden kann?

2. Vence, Nizza, Mannheim


Myrabella / Wikimedia Commons, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=22454621

Vence und Nizza sind wichtige Orte, die in die Biographie von Matisse gehören. In Vence lebte Matisse während des Zweiten Weltkrieges und in der ersten Zeit danach (1943-1948), in Nizza verbrachte er Jahrzehnte seines Lebens, stets fasziniert vom besonderen Licht der Strand- und Meerlandschaft der Côte d’Azur sowie der Gebirgslandschaft der Seealpen. Vence war zu Matisses Lebzeiten ein kleines Dorf, und es gehörte schon damals nicht zum von Touristen übervölkerten Küstenstreifen zwischen Marseille und Menton, den Erika und Klaus Mann in den dreißiger Jahren in ihrem berühmten Reiseführer[2] beschrieben hatten. Vence lag abseits.

Vence lag abseits, und gerade deswegen richteten sich während und nach dem Krieg Maler wie Marc Chagall und eben Matisse dort Ateliers und Wohnungen ein. Im Übrigen liegt die in den frühen Sechzigern errichtete Fondation Maeght[3] nicht weit entfernt. In diesem Museum, das selbst architektonisch gestaltete Kunst ist, stellte das bekannte Galeristenehepaar die gesammelten Werke von Künstlern wie Miró, Giacometti, Chagall, Braque und anderen aus. Die Fondation Maeght lag wenige Kilometer südlich im Nebenort Saint-Paul-de-Vence. Und sie sollte auch eine von Künstlern gestaltete Kapelle erhalten, die dem heiligen Bernard gewidmet war. Pablo Picasso, mit dem Matisse sowohl Freundschaft als auch Rivalität verband, malte in den Jahren nach dem Krieg in einem Schloss[4] in Antibes, direkt an der Küste, jeweils nicht mehr als zwanzig Kilometer von Vence und Nizza entfernt.

Der Journalist Rudolf Italiaander schrieb im Jahr 1950 in einem wunderbar altmodischen Stück Feuilleton[5] von einem Besuch in Vence. Italiaander wollte eigentlich Marc Chagall in seinem Atelier besuchen, traf den Maler aber nicht an und besichtigte dann stattdessen die sog. „Eglise Matisse“, der er aber keine große Bedeutung beimessen konnte. Der aus Hamburg angereiste Journalist blieb skeptisch und ein wenig spöttisch: „Welche Wirkung die Kirche auf den Gläubigen ausüben wird, lässt sich heute schwerlich voraussagen.“ Das hielt Italiaander aber nicht davon ab, in Abänderung seines journalistischen Auftrags nach Nizza zu fahren und dort den greisen Henri Matisse in seinem Atelier zu besuchen. Auch davon war der Journalist nicht sonderlich angetan, er spricht von seinem Gegenüber als einem „selbstherrlichen Genie bis in die letzten Tage“. Dennoch lässt er ihn ausführlich zu Wort kommen und gibt ihm Gelegenheit, sich über diese Kapelle zu äußern: „Er gab zu, dass er ein großes Wagnis eingegangen sei; aber er hoffe trotzdem, dass etwas Bleibendes entstehen werde. (…) Man könne nicht wissen, was Europa noch bevorstehe. Mit der Kirche jedoch hoffe er, sich ein steinernes Denkmal zu errichten: ‚Wenn ich jünger wäre, würde ich vielleicht noch viel mehr bauen, bildhauern und auch Keramiken machen. Auch mich drängt es zu anderen Materialien. Ich habe es immer wiederholt: Künstler ist jemand, der imstande ist, seine Empfindungen methodisch zu ordnen. Was ich an meinem Lebensabend empfinde, kann ich in dieser kleinen Kirche manifestieren!‘“

Zum beschaulichen Vence bildet die Großstadt Nizza den denkbar größten Kontrast: die Strandpromenade, der Boulevard des Anglais mit den großen Hotels aus der Zeit der Jahrhundertwende, die kiesigen schmalen Strände, die engen Gässchen der Altstadt mit dem kleinen Hafen, der Blumenmarkt, die Place Garibaldi, die Cafés, Brasserien und Restaurants, in denen man Austern und Doraden essen kann, die französische Grenzstadt mit der italienischen Vorgeschichte, der westliche Ausgangspunkt der berühmten Corniches, der kurvigen und steilen Küstenstraßen, die über Monaco hinaus bis Menton führen. Mir fehlt der Vergleich zwischen dem von Touristen bevölkerten Nizza, das ich im Jahr 2019 erlebte, und dem Nizza in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem Matisse spazieren ging, zeichnete und mit den Inhabern der Brasserien und Boutiquen plauderte. Matisse wohnte zuletzt im Hotel Régina, hoch über der Innenstadt im Stadtteil Cimiez. Das Régina war ein altes Hotel, das man wegen ausbleibender wohlhabender Touristen in ein Apartmentgebäude umgewandelt hatte. Dort bezog der Maler 1938 sein Quartier. Er wohnte dort mit der erwähnten Unterbrechung in Vence bis zu seinem Tod im November 1954.


Von Ronald Buck - Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=82587632

In Mannheim, dessen Kunsthalle dem Maler gegenwärtig eine große Retrospektive widmet, ist Matisse nie gewesen. Dennoch verdient der Ort der Ausstellung seine Erwähnung, denn die Mannheimer Kunsthalle besitzt seit ihrer Gründung um die Jahrhundertwende einen Ruf als ein Hort der (später klassischen) Moderne, die während des Nationalsozialismus Bilder jüdischer Stifter und moderner Künstler durch Beschlagnahme und Zerstörung verlor. 2018 wurde nach langen Jahren der Planung ein Erweiterungsbau (Hector-Bau) eröffnet, der Platz schafft für Wechselausstellungen und digitale Projekte. Die Großstadt Mannheim hält – innerhalb wie außerhalb der Kunsthalle – ein kälteres, nördlicheres Licht bereit als das mediterrane Nizza. Die Industriestadt mit den Quadraten im Zentrum bringt auf andere Gedanken als die vormals mondäne Küstenmetropole. Matisse selbst stammt aus dem Norden Frankreichs; in seinem Geburtsort Le Cateau-Cambrésis ist das neben Nizza zweite Musée Matisse[6] eingerichtet worden. Mannheim vermittelt also zwischen nördlicher Herkunft und südlichem Wohnort.


3. Chapelle du Rosaire: Theologie und Licht

Das Gebäude, das Matisse als das Hauptwerk seiner Altersperiode bezeichnen sollte, liegt unscheinbar in einem bürgerlichen Wohngebiet von Vence an einer Ausfallstraße. Matisse hat vier seiner letzten Lebensjahre dieser Kapelle[7] gewidmet. Architektur, Glasfenster, Bilder, Altar, Paramente, vasa sacra, liturgische Gewänder – alles sollte zusammenpassen, und für alles schuf er eigene Entwürfe.

In der Kapelle darf bis heute nicht fotografiert werden. Deswegen ist es nicht möglich, in diesem Essay Bilder vom Innenraum einzufügen. Hier findet man jedoch eine Reihe von Fotos:
http://chapellematisse.com/FR/evenements/dossierPresse.pdf
http://www.savoirs-alpesmaritimes.fr/content/view/pdf/2055.
Auf Youtube gibt es ein informatives Video: https://www.youtube.com/watch?v=iPFSe8kkr9A

Nach einer schweren Krebsoperation im Jahr 1940 in Lyon engagierte Matisse für seine Rekonvaleszenz eine Pflegerin, die Krankenschwesternschülerin Monique Bourgeois. Sie beeindruckte Matisse dadurch, dass sie seine Werke direkt und ungeschönt kommentierte. Sie saß ihm Porträt, und zwischen beiden entwickelte sich so etwas wie eine Freundschaft. Matisse war fassungslos, als die Krankenschwester, zu der er nach dem Ende der Rehabilitation Kontakt hielt, als Novizin in den Dominikanerorden eintrat. Aber er war ihr für die Pflege nach der Operation sehr dankbar. Schwester Jacques-Marie, wie sie nach ihrem Eintritt in das Kloster hieß, vermittelte dann den Auftrag, bei der Errichtung einer Kapelle für einen Konvent der Dominikanerinnen in Vence beratend tätig zu werden. Aus diesem Auftrag entstand Matisses Entschluss, mit der Kapelle ein Gesamtkunstwerk zu schaffen, bei dem er bei der Architektur beriet und sämtliche Kunstwerke in und an der Kapelle selbst gestaltete. Das reichte bis zu den liturgischen Gewändern.

Welche Bedeutung Matisse dieser Kapelle in seinem Werk zumaß, zeigt sich an den Worten, die bei der Einweihung der Kapelle, an der der Künstler wegen Krankheit nicht teilnehmen konnte, im Jahr 1951 verlesen wurden: Cette œuvre m’a demandé quatre ans d’un travail exclusif et assidu, et elle est le résultat de toute ma vie active. Je la considère malgré toutes ses imperfections comme mon chef d’œuvre.[8] 

Wenn man die Kapelle durch eine schmale Tür betritt, sieht man zuerst die Reihen der Bänke für die Gottesdienstbesucher. Der schlichte weiße Raum überzeugt durch Licht und Farben, durch die von Matisse geschaffenen Kunstwerke. Die Dominikaner-Schwestern haben ihren Platz in einer Ausbuchtung auf der Südseite. Der Altar ist schräg zur Hauptrichtung gestellt, damit der Zelebrant sowohl zu den Schwestern als auch zu den anderen Gottesdienstbesuchern blicken kann. Die langgestreckten, schmalen Fenster an der Südseite sind in Gelb, Grün und Blau gehalten, in abstrakten Formen, die sehr, sehr harmonisch wirken und an Blätter erinnern. Auf der weißen Wand der Nordseite ist mit groben schwarzen Strichen die Madonna mit dem Jesuskind dargestellt, umgeben von einem Meer dekorativer Blüten. Beiden, Madonna wie Jesuskind fehlt das Gesicht. Trotzdem erkennt jeder Besucher sofort, wer gemeint ist. An der Westseite, hinter dem Altar, ist ein weiteres Glasfenster eingelassen. Es zeigt einen Lebensbaum, den Baum der Auferstehung. An der Ostseite, durch die die Besucher, die Kapelle betreten, hat Matisse einen Kreuzweg dargestellt, die einzelnen Szenen nummeriert, die Kreuzigung selbst in der oberen Mitte. Diese schwarz-weiße Zeichnung kann auf den ersten Blick wie ein Comic wirken, und die Besucher nehmen sie beim ersten Betreten der Kapelle gar nicht wahr. Dafür müssen sie sich erst umdrehen, dahin zurückwenden, wo sie herkommen. Es soll der Eindruck entstehen, dass die Besucher die Kapelle durch die grausame Welt der Kreuzigung betreten und sie im heiligen Raum der Kapelle hinter sich lassen, weil sich auf dem Altar und in den Fenstern, im ganzen Raum der Kapelle mit dieser Gesamtkonzeption aus Licht und Farben die mystische Gegenwart Gottes spiegelt.

Eine Treppe höher im später eingerichteten Museumsteil sind die liturgischen Gewänder ausgestellt, die Matisse eigens für die Zelebranten in der Kapelle schuf. Sie nehmen alle das Motiv des Lebensbaumes aus dem Glasfenster hinter dem Altar auf, dessen Blätter und Blüten das Wachsen des Reiches Gottes signalisieren.

Ich fand bei meinem Besuch in der Kapelle, bevor ich mich in die Biographie Matisses eingelesen hatte, einen kindlichen, reinen Katholizismus, der die Moderne nicht ablehnt, sie vielmehr aufgesogen hat, aber eben noch mehr Jahrzehnt vor dem Zweiten Vatikanum. Ich fand einen Katholizismus ohne Verzierungen und Ornamente, eine katholische Kunst ohne Barock und Gegenreformation, ohne verwirrende Überfülle von Heiligen, Putten, Madonnen. Dieser Eindruck allerdings entspricht nicht den Intentionen des Atheisten Matisse.

Trotz seines Agnostizismus aber hat der Maler mit der Kapelle einen Raum geschaffen, der aus einer schlichten österlichen Freude über die Auferstehung lebt. In Vence profiliert sich ein Glaube, der sich nicht im Ertragen des Leidens und der Buße erschöpft, wie ein verbiesterter Protestantismus es gelegentlich propagiert hat[9]. Es profiliert sich ein Glaube, der aufgeht in Freude, Naivität (im besten Sinne des Wortes), Farbe, Licht und Seligkeit und der sich auch die eigenen nagenden Zweifel eingesteht. Die Botschaft des ersten Eindrucks lautet, wenn man das so metaphorisch ausdrücken darf: Wer glaubt, der schwebt im farbigen Sonnenlicht der Auferstehung. Das aber ist nicht „Wahrheit“, sondern Symbol einer Wahrheit und Produkt einer Inszenierung, dessen sich der Maler sehr wohl bewusst war. Das ist die mediterrane und darum naheliegende Einsicht des kränkelnden Malers Matisse, die er in seiner Gestaltung dieser Kapelle auf den Weg brachte. Und dieses Bild von Gott als Licht erinnert nicht nur an gotische Kathedralen, sondern auch an Dantes Göttliche Komödie[10], in deren dritten Teil, dem Paradiso, Dante Gott schon im 14. Jahrhundert keineswegs naiv als alten Mann mit Rauschebart darstellte, sondern als unnahbare Lichtquelle, die niemand unmittelbar anblicken darf.

In den Nachkriegsjahren musste Matisse dieses Projekt der Kapelle gegen mancherlei Widerstände durchsetzen. Es opponierten die Vertreter eines vorkonziliaren Katholizismus, darunter einige der Dominikanerinnen aus dem Konvent, zu dem die Kapelle gehören sollten. Bei ihnen war Matisse als Aktmaler verschrien, er gehörte gerade nicht zu den Vertretern etablierter katholischer Kirchenkunst. Es opponierten aber auch Linke und Kommunisten, die sich darüber mokierten, dass der Atheist Matisse nun ausgerechnet für die katholische Kirche arbeiten sollte.[11] Bei einem Kunstwerk wie der Chapelle du Rosaire waren allerdings nicht die Vorgaben eines vorkonziliaren Katholizismus bestimmend, der noch von der Arroganz des Antimodernisteneides zehrte. Offensichtlich entwickelt der Künstler eigene theologische Vorstellungen. Klar ist, wie viel Bedeutung er gerade diesem Werk zumaß. Das zeigt sich schon daran, wieviel Arbeitszeit und finanzielle Mittel er in dieses Werk investierte. Viel wichtiger als der Künstlerglaube erscheint die Frage, wie dieses theologisch-ästhetische Konzept beschrieben werden kann, das Matisse in den Kunstwerken der Kapelle ästhetisch umsetzte.

Matisse selbst hat sich mehrfach zu seinen Absichten mit der Kapelle geäußert, und zwar sowohl in theologischer wie ästhetischer Perspektive. Er konnte aus gesundheitlichen Gründen nicht an der Einweihung der Kapelle teilnehmen, aber er schrieb darüber in einem Brief, der im Gottesdienst verlesen wurde: „Je n'ai pas cherché la beauté, j'ai cherché la vérité.“[12] Das hört sich zwar nach billigem Grußwortpathos an, sollte aber insofern ernstgenommen werden, als sämtliche Dokumente hergeben, dass sich Matisse intensiv mit Kreuzigung und Auferstehung, mit der Geschichte Jesu von Nazareth, mit Theologie und kirchlicher Architektur auseinandergesetzt hat. Und es ist daraus zu folgern, dass die Farben, Zeichnungen, die Skulpturen, Glasfenster und liturgischen Gewänder keinesfalls rein dekorativen Charakter hatten, sondern dass sich hinter den von Matisse gewählten einfachen Darstellungsmitteln bewusste theologische und ästhetische Entscheidungen verbargen.

Das macht auch eine Äußerung des Malers aus einem Brief an die Oberin der Dominikanerinnen deutlich, in welcher er die Passionsgeschichte gerade nicht auf ihre ästhetische Qualität, sondern auf ihre Wahrheit befragt: „Le Chemin de croix, c’est le drame le plus profond de l’humanité. Devant ce drame, l’artiste ne peut rester spectateur. Il faut qu’il s’engage. Ces dessins [...] il faut qu’ils vous sortent du cœur. Tant que je ne suis pas entré dans les scènes de ce drame violent, je n’y ai rien compris. Ce n’est pas de la beauté qu’il me faut faire, mais de la vérité.“[13] Erneut begegnet die Gegenüberstellung von Wahrheit und Schönheit – und noch mehr: die Präferenz für die Wahrheit. Die ästhetischen Entscheidungen fallen nicht um ihrer selbst willen, sondern ihnen geht in diesem Fall eine inhaltliche Auseinandersetzung mit der Passionsgeschichte voraus. Und dieses Argument wendet Matisse dann sozusagen existentialistisch. Denn die inhaltliche Auseinandersetzung bleibt nicht neutral oder distanziert, sondern erfordert vom Künstler eine tiefere Haltung als die des neutralen Beobachters oder Zuschauers. Und das hätte Rudolf Bultmann so nicht schöner formulieren können, auch wenn sich Bultmann mehr für die Theologie der Evangelien und der Paulusbriefe als für moderne Kunstwerke interessierte.

In der Kapelle hat Matisse einen Ort geschaffen, an dem Menschen über sich selbst und ihren Alltag hinauskommen. Er schreibt an Bruder Louis Bertrand Rayssiguier, seinen Verbindungsmann zu den Dominikanern: „Ich mache das nicht, um eine Kirche zu bauen, ich mache es wie eine Theaterdekoration. […] Man muss an diesem Ort einen besonderen Geist schaffen: die Menschen über das Gewöhnliche, Alltägliche erheben, sie emporsteigen lassen.“[14] Die Kapelle wird für Matisse nicht zum Tempel, zum heiligen Ort, sondern die Malerei wird zum Vehikel, um dem Heiligen eine symbolische Präsenz zu verleihen. Und erst diese führt den Glaubenden über seinen Alltag hinaus. Beide Aspekte sind für die Theologie der Kapelle von entscheidender Bedeutung. Matisse hat seinem dominikanischen Kontaktmann auch geschrieben: „Wir werden eine Kapelle haben, wo jedermann hoffen darf, seine Bürde an Verfehlungen, wie groß sie auch sein mag, an der Tür zurückzulassen wie die Mohammedaner den an den Sohlen ihrer Sandalen haftenden Straßenstaub an der Tür ihrer Moscheen zurücklassen.“[15] Der Übergang von Alltag zu Gottesdienst scheint für Matisse ganz entscheidend, und der Besucher kann das auf frappierende Weise erfahren. Darauf komme ich sofort zurück.

Neben diesen ‚theologischen‘ Äußerungen hat sich Matisse auch mit der Ästhetik seines Werks beschäftigt. Er setzt sich zunächst ab von einer reinen Ästhetik der Abbildung: „Die Meister der schönen Künste forderten ihre Schüler dazu auf ‚kopiert ganz einfach die Natur‘. Während meiner ganzen Karriere habe ich mich gegen diese Meinung gewehrt, da ich sie nicht akzeptieren konnte.“[16] Kunst geht nicht in der Abbildung erfahrbarer Wirklichkeit auf, sie bedient sich auch anderer Mittel, um die vom Maler so sehr betonten Wahrheiten symbolisch und dekorativ zum Ausdruck zu bringen. Der Künstler befreit sich aus seiner Gefangenschaft in der Wirklichkeit und nutzt seine Freiheit, um Wahrheiten, die über die Wirklichkeiten hinausgehen, zum Ausdruck zu bringen.

In der Kapelle von Vence verfolgt Matisse mit guten theologischen Gründen folgendes ästhetische Programm: „In der Kapelle war es mein Hauptziel gewesen, eine Licht- und Farbenfläche mit einer Zeichnung auf Schwarz und Weiß in Einklang zu bringen.“[17] Genau dieses kann der Besucher beim ersten Betreten der Kapelle erfahren. Zunächst nimmt er das südliche Glasfenster und das Glasfenster hinter dem Altar mit dem Lebensbaum wahr. Dann wirft er vielleicht einen Blick auf die Maria mit dem Jesuskind und auf den heiligen Dominikus an der Wand zur Straßenseite. Erst wenn er sich umdreht, sieht er die großformatige Zeichnung des Kreuzweges mit seinen verschiedenen Stationen. Und das scheint mir eine der beiden bestimmenden Bewegungen der theologischen und ästhetischen Überlegungen Matisses zu sein: vom Schwarzweiß des Kreuzweges zu Licht und Farben der Auferstehung. Die zweite Bewegung besteht daran anschließend in der ästhetischen Vereinfachung von Personen und Gegenständen. Diese zweite Bewegung ist noch darauf zu befragen, welchen theologischen Sinn sie macht.[18]

Dieses Konzept der Vereinfachung lässt sich an einer Reihe von Elementen der Kapelle ablesen: an den nicht gegenständlich gehaltenen Fenstern der Südseite, am Lebensbaum des Altarfensters, an der groben Schwarz-Weiß-Zeichnung der Passionsgeschichte. Zusätzlich werden Maria, das Jesuskind und der heilige Dominikus ohne Gesicht präsentiert. Das gilt auch für die Figuren des Kreuzweges, mit der signifikanten Ausnahme des Schweißtuches der Veronika, bei dem Augen, Nase und Mund Christi angedeutet sind. Über das Fehlen der Gesichter schrieb Matisse: „Il suffit d’un signe pour évoquer un visage, il n’est nul besoin d’imposer aux gens des yeux, une bouche. Il faut laisser le champ libre à la rêverie du spectateur.“[19] Schon das Oval des schwarzen Strichs reicht aus, damit der Betrachter diese reduzierte Form als Gesicht erkennt. Vereinfachung als malerisches, gestaltendes Prinzip überlässt Einzelheiten dem (glaubenden) Betrachter. Der Maler und Gestalter gibt nur so viel vor, dass die dargestellten Formen erkennbar sind.

Alle diese Elemente der Vereinfachung (Farbe, Licht, Strich, fehlende Details) sind bei Matisse eingebunden in ein theologisch-ästhetisches Gesamtkonzept, das den Gottesdienstraum der Kapelle als (menschliche) Inszenierung des Reiches Gottes begreift. Mit dem Betreten der Kapelle fangen die Besucher an, sich damit für Dauer eines Gottesdienstes oder einer Messe auseinanderzusetzen. Der Gottesdienstbesucher kommt aus dem Raum des Leidens, dargestellt in der Nummernfolge des Kreuzweges, hinein in den lichtdurchfluteten Raum Gottes. Während der Messe bleibt er sitzen, er singt und betet, er steht auf, empfängt das Abendmahl, und danach kehrt er in diese, die vorletzte Welt des Leidens und des Schmerzes zurück.


4. Nizza: Museum, Park, Hotel, Friedhof

Die Kapelle von Vence steht im Werk von Matisse einzigartig da. In Nizza, dreißig Kilometer südöstlich von Vence gelegen, kann man weniger die Werke als die Biographie von Matisse kennenlernen. Fährt man vom Boulevard des Anglais in nördlicher Richtung den Hügel hinauf in Richtung des Vorortes Cimiez, so sieht man schon von weitem das Hotel Régina, das für die Besuch der Queen Victoria an der Côte d’Azur gebaut wurde.

Eines dieser Apartments bewohnte Henri Matisse nach dem Krieg. Heutzutage kann es nicht besichtigt werden, weil es noch immer als Apartmentgebäude dient.

Ganz in der Nähe davon, in einem Park mit einem schattigen Olivenhain steht die ein wenig verlotterte, in dunklem Ocker gestrichene Villa, in der das Musée Matisse[20] untergebracht ist. Um den Olivenhain des Parks herum gruppieren sich Boulefelder, ein Spielplatz, eine Imbissbude und ein altes, umzäuntes Kinderkarussell. Die ursprüngliche Villa ist mit einem modernistischen Anbau versehen, der Kasse, Foyer und Kunstshop des Museums beherbergt. Matisse hat in dieser Villa nie gelebt.

Er lernte Nizza erst spät in seinem Leben kennen, ihm gefiel das Licht und er fand dort eine neue Heimat.

Im ersten Stock der Villa hängen sehr frühe Bilder aus Matisses Akademiezeit, als er noch impressionistisch malte.

In einem eigenen Raum hängen auch die Entwürfe für die Kapelle in Vence.

Auf dem Friedhof direkt neben Park und Museum liegt Matisse begraben.


5. Matisse als „Inspiration“?

Wechselt man vom Museum in Nizza, in dem der Maler als biographische Figur präsent ist, zu der Matisse-Ausstellung[21] in der Mannheimer Kunsthalle, deren Erweiterungsbau erst vor kurzem eröffnet wurde, so findet man sich in einem riesigen Foyer wieder, dessen Dimensionen eher für die riesigen Tafeln Anselm Kiefers als für die Bilder Matisses geeignet sind. Dessen Ausstellung ist denn auch in einer Art Pavillon im Erdgeschoß untergebracht, der nicht die monumentalen Dimensionen des Foyers atmet.

„Inspiration Matisse“: Der Titel der Ausstellung wirkt bieder und kunstbeflissen, ein wenig besserwisserisch, so als ob man sich bei der Vorbereitung auf die Popularität des Malers verließ und sich ansonsten keine große Mühe gab. Die Ausstellung war an dem Tag, an dem ich sie besuchte, gut frequentiert, aber nicht überfüllt. Sie ist nicht zu groß dimensioniert. Die Enttäuschung besteht darin, dass die „Inspiration Matisse“ in den dreißiger Jahren endet. Die Kapelle in Vence, die Krebserkrankung, die Arbeiten mit Schere und Papier finden in Mannheim keinen Raum mehr. Das Spätwerk des Malers bleibt aus Gründen, die nicht erklärt werden, leider ausgeblendet.

In den ersten Räumen hängen Bilder aus Matisses Lehrjahren, als er in den Louvre ging und dort alte Meister kopierte und Impressionisten imitierte. Auf eine Wand ist ein Zitat von Matisse gedruckt, in dem er sagt, er habe sich als Künstler nie gescheut, von anderen zu lernen und Überzeugendes von ihnen zu übernehmen. Die frühen, eigenen Bilder stammen aus Orten entlang der französischen Mittelmeerküste, von Nizza bis Perpignan: St. Tropez, die Calanques, Coilloure, Bilder von Häfen und Stränden, dazu Frauenporträts, Akte, lesende Frauen, nachdenkende Frauen, Frauen im Gespräch. Daneben finden sich Stillleben, Ateliers, Landschaften, dazu eine Reihe kleinerer und größerer Plastiken. Am Ende der Ausstellung sieht man die vier flachen Wandreliefs „Nu à dos“, sämtlich Rückenansichten einer nackten Frau mit zum Zopf geflochtenen langen Haaren. Die erste Plastik ist ganz realistisch gehalten, die Konturen der Muskeln unter der Haut sind präzise ausgearbeitet. Bei den restlichen Varianten hat Matisse den Grad der Abstraktion jeweils verstärkt, bis zur letzten Version, an der man nur noch den stilisierten Kopf, Rücken, Schultern und den langen Zopf erkennt. Das ist ein Thema der Ausstellung: Matisse wendet sich nach realistisch-impressionistischen Anfängen immer stärker der Abstraktion zu, aber nicht bis zum allerletzten Schritt, dass er ganz abstrakt malen würde. Es geht nicht nur um Flächen, Formen, Farben, vielmehr sind Gegenstände stets zu erkennen: Menschen bleiben Menschen. Blätter bleiben Blätter. Blüten bleiben Blüten.

In einem kleinen Raum abseits der eigentlichen Ausstellung ist ein zwanzigminütiger Schwarzweißfilm[22] über den Maler zu sehen. Er wurde Ende der vierziger Jahre gedreht. Der Sprecher im Off präsentiert es als große Sensation, dass es gelang, den Maler bei der Arbeit in Zeitlupe zu filmen. Zunächst wird gezeigt, wie Matisse seinen Enkel porträtiert. Die Kamera läuft in normaler Geschwindigkeit. Man hat den Eindruck, er wüsste genau, was er tut, und er würde den Pinsel stetig, schnell und ohne Absetzen führen. In der Zeitlupe sieht der erstaunte Zuschauer, dass das gar nicht der Fall ist. Es erstaunt, wie zögerlich Matisse mit dem Pinsel umgeht. Immer wieder setzt er ab, er scheint kurz nachzudenken, im Geiste eine Linie zu suchen, zu finden und erst danach den Pinsel auf die Leinwand zu setzen.

Matisse erscheint, gerade am Beispiel der vier Rückenplastiken der „Nu à dos“ als ein Künstler, der seine Bilder auf das Wesentliche konzentriert. Nebenbei bemerkt: Gerade diesem Stichwort der Konzentration würden sich auch die beschriebene Kapelle und die späten paper cuts einfügen. Die vier Rückenplastiken wurden übrigens zu Lebzeiten Matisses nie gegossen. Das geschah erst lange nach seinem Tod.

Die Mannheimer Ausstellung besitzt ihre Stärke darin, dass sie den Künstler als Ideengeber für eine Reihe von Schülern zeigt, zu denen auch deutsche Maler gehörten, die nach Paris gekommen waren, um sich in Matisses Privatakademie ausbilden zu lassen. Wobei Matisse gar nicht so glücklich darüber war, wenn seine Schüler ihn beharrlich imitierten.


6. Vereinfachung als ästhetisches Prinzip

In seiner letzten Arbeitsphase nach dem Weltkrieg und seiner schweren Operation in Lyon hat Matisse seine schon vorhandene Tendenz zur Vereinfachung noch einmal radikalisiert, indem er, auch aus gesundheitlichen Gründen, vom Pinsel zur Schere wechselte. Jetzt erst wird die Ambivalenz der Vereinfachung sichtbar, denn sie kann zum einen als ein Moment der Konzentration, der Verdichtung, des Weglassens alles Unübersichtlichen betrachtet werden. Auf der anderen Seite scheint die vereinfachte Malerei zum Ausdruck des bloß Dekorativen mutiert. So sind die ausgeschnittenen, stilisierten Blätter des Lebensbaumes in der Kapelle von Vence oder die aus wenigen Elementen zusammengesetzte blaue nackte Frau zu Postermotiven degeneriert, die in Wohn- und Arbeitszimmern hängen, deren Bewohnern nichts Besseres einfällt. Weniges aber kann Matisse ferner gelegen haben als nur zu dekorieren. Sein jüngerer Zeitgenosse Miró begab sich in die Traumwelten des eigenen Unterbewussten, während Matisse trotz radikaler Vereinfachung an dieser „Wirklichkeit“ festhielt. Betrachter erkennen Blätter, Lichtstrahlen, Frauen, in der Kapelle den gefolterten, verurteilten, leidenden Jesus, Maria, Jesus als Kind und den heiligen Dominikus. Aber alle genannten Personen zeichnen sich, mindestens in der Kapelle, dadurch aus, daß sie auf das Wesentliche konzentriert sind. Nur die Konturen sind zu sehen, und trotzdem erkennt jeder Kapellenbesucher sofort, wer gemeint ist.

Der Kapellenraum in Vence – so meine These – braucht das Uneindeutige des Vereinfachten, weil Gott selbst – siehe Bilderverbot – oder der Himmel, in dem er ‚wohnt‘, sich gar nicht darstellen lassen. Nur Licht und Farbe lässt Matisse als Metapher für den himmlischen Raum gelten.

Nochmals die Frage: Was bedeutet Vereinfachung für Matisses Malerei? Wer vereinfacht, lässt Details beiseite und konzentriert sich auf das Wesentliche, unbedingt Nötige. Die wenigen Einzelheiten in einem unbekannten Raum nimmt der Betrachter wahr, und er erkennt sie sofort wieder oder er ergänzt sie zu einem Bild, dass ihm bereits im Bewusstsein vor Augen steht. Matisse zeichnet mit wenigen Strichen eine Blüte, aber die Details der Blüte fügt der Betrachter hinzu, sofern er das will. Ähnliches gilt für die Kreuzigung: Der Besucher, der die Kapelle betritt, hat, selbst wenn er kein Christ ist, vermutlich schon eine ganze Reihe von Kreuzigungen gesehen. Insofern genügen für Matisse zwei Striche und die Andeutung einer Person, um beim Betrachter die Assoziation Kreuzigung zu evozieren.

Die zweite – die theologische Funktion der Vereinfachung – zeigt sich an der Kapelle, weil bestimmte Überzeugungen des christlichen Glaubens – Gott, der Himmel, der auferstandene Christus – gar nicht als manifeste Wirklichkeit dargestellt werden können. Blätter, Farben, gesichtslose Menschen wie Jesus und Maria halten also den Platz frei für etwas sehr viel Wunderbareres und Großartigeres, das Matisse zwar ahnte und darstellte, dem er als erklärter Agnostiker aber keinen Glauben schenkte. Man kann das Vereinfachte als das Dekorative missdeuten, und in dieser Verbindung wurden zum Beispiel seine paper cuts populär, aber das erscheint bei diesem Maler als ein Missverständnis. Matisse begriff sich weder als Fotograf und präziser Abbilder der Wirklichkeit noch als abstrakter Symbolist. Er hielt Beobachtung und Malerei zusammen und spielte mit deren Verhältnis. Kunst und Wirklichkeit amalgamierten sich für ihn, und dem Betrachter bleibt die Freiheit, seine eigenen Bruchstücke von Wirklichkeit in die Bilder einzutragen.

Es lohnt sich, vor den Details der Kapelle auf die wenigen Aussagen einzugehen, die Matisse über die Gesamtkonzeption der Kapelle in Interviews und kurzen Essays tätigte: „Auf einem sehr beschränkten Raum (…), wollte ich einen geistigen Raum ausdrücken, (…), das heißt einen Raum, den selbst die Existenz der dargestellten Dinge nicht begrenzt. Man soll mir nicht sagen, ich hätte den Raum vom Gegenstand her neu geschaffen, als ich letzteren ‚entdeckte‘: ich bin nie vom Gegenstand abgewichen. Der Gegenstand an sich ist nicht so interessant. Die Umgebung macht den Gegenstand. So habe ich mein Leben lang vor denselben Dingen gearbeitet, die mich mit der Kraft ihrer Realität erfüllten, indem sie meinen Geist zu allem in Beziehung setzten, was diese Dinge für mich und mit mir selbst erlebt hatten.“[23] Daraus sind zwei Dimensionen der Kapelle abzuleiten, eine räumliche, die zusätzlich einen symbolischen Gehalt trägt, und eine kontextuelle: Die unterschiedlichen, einfachen Kunstwerke der Kapelle schaffen Beziehungen. Das Glasfenster ist nicht nur Glasfenster, sondern es steht in Beziehung zu den Keramik-Kacheln, zum Altar und zu der Kreuzweg-Zeichnung. Alle ästhetischen Elemente der Kapelle spielen zusammen und ergeben eine kohärente, sinnvolle Einheit.[24]

Eines der Grundelemente dieser Beziehungsdimension ist die Farbe, der Gegensatz zwischen Farbigkeit (z.B. in den Fenstern) und Schwarzweiß (z.B. in den Keramikzeichnungen). Dieser farbliche Gegensatz besitzt eine theologische, genauer: eine christologische Qualität, nämlich die von Kreuz und Auferstehung. Die stacheligen Blätter des Lebensbaums im Westfenster erinnern an die Auferstehung, das Paradies (Gen 2,9), aber eben auch an Kakteen, der Blätter Matisse in Vence und Nizza gezeichnet hatte.[25] Die Farbe dominiert über das Schwarzweiße. Und auch diese Dominanz der Farbe hat ihren theologischen Sinn: „Die Elemente (des Altars der Kapelle wv) sind also von einer Leichtigkeit, die diesem Bedürfnis entgegenkommt. Die Leichtigkeit vermittelt ein Gefühl der Erlösung, der Befreiung, so sehr, dass es in meiner Kapelle nicht heißt: ‚Brüder, wir müssen sterben!‘ Im Gegenteil! ‚Brüder, wir müssen leben!‘“[26]

Matisse hat sich in der Kapelle bei den Farben bewusst beschränkt. Rot kommt nicht vor. Die Fenster sind in Grün, Gelb und Rot gehalten. Die Farbe bezieht durch ihre Beschränkung auf die Glasfenster die Umgebung der Kapelle, den Ort Vence, die Landschaft, den Sonnenschein mit in die Kapelle ein, ohne dass sie direkt sichtbar würden. Dem steht das Schwarzweiß der Zeichnungen gegenüber. Es scheint als sehr interessant, dass Matisse bei seinem Konzept nicht nur die Herstellung der Kunstwerke sorgfältig bedachte, sondern auch ihre Nutzung. Insofern betonte er, dass bei seinen Überlegungen der schwarz-weiße Habit der Dominikaner-Schwestern eine Rolle gespielt habe. Ebenso habe er ganz bewusst keine Orgel in die Kapelle einbauen lassen. Für Matisse galt: Das Schwarz-Weiß des Schwestern-Habits korrespondierte mit dem Schwarz-Weiß der Keramiken. Der gregorianische Gesang der Schwestern korrespondierte mit den Glasfenstern.[27]

Weitere Elemente der Vereinfachung sind die Nummerierung der Stationen im Kreuzweg und vor allem die fehlenden Gesichter. Die einzige Ausnahme bildet das Schweißtuch der Veronika, die so genannte vera icon[28], in der Kreuzwegdarstellung. Matisse meinte, wie oben ausgeführt, es genüge die Andeutung des Gesichtsovals. Damit vollzieht er eine Gegenbewegung zur modernen Tendenz, das Gesicht immer stärker zu individualisieren, so dass der Mensch nicht mehr als Gattungswesen, sondern als konkretes Individuum erkannt werden kann.[29] Matisse verwies auf die Phantasie der betrachtenden Besucher. Ihm ging es offensichtlich nicht um die Individualität von Jesus, Maria und Dominikus, sondern um ihre Rolle als Heilsmittler (christologisch) und als Hinweisende auf Jesus Christus (im Fall von Maria und Dominikus), um es ohne Rekurs auf eine katholische Heiligen- und Marien-Theologie auszudrücken. Matisse sagte von Gegenständen, dass man sie nicht unbedingt vollständig und in ihrem Kontext darstellen müsse, sondern dass es genüge, ein „Zeichen“ zu behalten[30], welches ausreiche, damit der Betrachter auf den richtigen Weg der Deutung komme. In der Kapelle kommt Matisse also als Ergebnis eines Prozesses der Vereinfachung mit einer reduzierten Zahl von Elementen aus.

Dieses theologisch-ästhetische Konzept der Vereinfachung besitzt einen ‚Selbststand‘. Und demgegenüber tritt die damals zeitgenössische Frage von Freunden und Gegnern zurück, ob man in Matisse nach der Vollendung der Kapelle nun einen katholischen Künstler sehen müsse. Pater Couturier berichtet zwar, dass Matisse während seiner Asthmaanfälle das Vaterunser und das Gegrüßet seist du, Maria gebetet habe[31]. Aber Matisse pflegte auch die Frage nach seiner Katholizität sehr unwirsch abzuweisen: „Es ist viel gesagt und geschrieben worden. Man hat eine Menge Geschichten in Umlauf gesetzt in Europa und in Amerika. Das Kunstwerk dient nur noch als Vorwand für Geschwätz.“[32] Und er konnte sich deshalb durchaus vorstellen, dass auch nicht-religiöse oder nicht-katholische Besucher der Kapelle einen spirituellen Sinn abgewinnen konnten: „Ich möchte, dass die Besucher der Kapelle eine geistige Erleichterung empfinden. Sie sollen, auch wenn sie nicht gläubig sind, sich in einem Milieu befinden, in dem der Geist sich erhebt, der Gedanke sie erhellt und selbst das Gefühl leichter wird. Die Wohltat des Besuchs wird sich leicht einstellen, ohne dass es nötig wäre, mit dem Kopf auf den Boden zu schlagen.“[33] Auch deswegen registriert es Matisse mit Genugtuung, dass eine Besucherin der Kapelle aus Indochina sich an die Atmosphäre von Pagoden erinnert fühlt.[34] Sicherlich ist es richtig, die Kapelle aufgrund ihrer Zuordnung zu einem Konvent der Dominikanerinnen in einen katholischen Kontext einzuordnen, aber Matisses Ästhetik geht eben nicht in einer positionellen oder gar konventionellen katholischen Theologie auf.

Sein ästhetisches Konzept der Vereinfachung ist weder mit Verharmlosung, Banalisierung oder Bagatellisierung zu verwechseln. Am ehesten ist es als ein Konzept der Konzentration zu verstehen. In der Kapelle eignet dieser Konzentration ein Moment der Inszenierung. Der neu geschaffene spirituelle Raum ist nicht das Reich Gottes selbst, er symbolisiert es nur. Und diese Welt des Vorletzten wird nicht ausgeschlossen, sondern in ausgewählten Elementen, Blätter, Glas, Licht, Menschen aufgenommen und in einen neuen, theologischen Kontext gestellt. Der Kunstkritiker Simon Schama sprach von Matisses Bildern als einer „suspension of time“[35], aber das ist vermutlich zu griechisch-idealistisch gedacht. Nimmt man die Kapelle in den Blick, so muss man eher als von einer Aufhebung von einer Eschatologisierung der Zeit sprechen: Die alltägliche Gegenwart wird einer kommenden Zukunft zugeordnet. Die Zeit ist nicht aufgehoben, sondern sie wird qualifiziert.

Lange nach Matisse ist diese ästhetische Strategie der Vereinfachung als ein wirkungsvolles Heilmittel gegen alle Konzepte der Unübersichtlichkeit, der Überforderung und Überlastung des Wahrnehmungsapparates verstanden werden. Diese ästhetische Strategie kann nur aufgehen, wenn sie nicht in die Banalität der politischen und kulturellen Marktschreier oder in die Fundamentalismen eines neuen Schwarz-Weiß-Denkens abgleitet. Außerdem muss man sich bewusst halten, dass parallel zu Matisses Ästhetik der Einfachheit auch andere Raumkonzepte ko-existieren. Andreas Mertin sprach im Anschluss an reformierte Theologie von der Konzeption des White Cube, des leeren weißen Raums. Auch in der Kirche als White Cube wird Religion gestaltet, wenn auch reflektiert religionskritisch. Mertin schreibt: „Der reformierte Raum als Geste ist, wie wir gesehen haben, weniger Askese oder Verzicht auf Gestaltung, sondern Gestaltung zur Wahrnehmungsintensivierung. Diese Geste soll dem Hören auf das Wort zu Gute kommen. Es geht mit anderen Worten um eine Szenografie reformierten Glaubens. Szenografie kann als ‚die Lehre bzw. Kunst der Inszenierung im Raum‘ bzw. des Raums verstanden werden.“[36] Der White Cube beugt sich um des Hörens willen dem Bilderverbot, welches Matisse auf eine reflektierte Weise – man erinnere sich ein letztes Mal an die leeren Gesichter – missachtet. Und man hüte sich vor konfessionellen Zuschreibungen. In Matisses Chapelle du Rosaire wird eine Geste (Vilém Flusser) nicht des katholischen, sondern eines modernen, zweifelnden Glaubens aufgeführt. Beide – der reformierte White Cube und Matisses zwischen Zweifel und Gewissheit schwankende kleine Kapelle – sind das Gegenteil der aufblasbaren Kirche[37], die sich mit den Methoden von Marketing und Bürokratie in den Vordergrund von Öffentlichkeit und Unterhaltung spielen möchte.


7. Versteckt

Wer aus Deutschland nach Frankreich blickt, der sieht zuerst die Metropole, dann die Provinzen.[38] Wer in die Provence fährt, der sieht zuerst Nizza, Marseille, Arles und Avignon, aber nicht die kleinen Dörfer und die Einsamkeit. Wer die trubelige Côte d’Azur besucht, der sieht zuerst die Küste, St. Tropez, Antibes, Cannes, Cap Ferrat, Monaco und nicht das Hinterland mit Ramatuelle, Grasse und Vence. Und selbst wer nach Vence fährt, der muss nach der Chapelle du Rosaire länger suchen, bevor er sie an einer Ausfallstraße entdeckt, ohne dass sie zwischen anderen Wohnhäusern groß auffiele. Auch das gehört zur Theologie und Ästhetik der Einfachheit. Es ist nicht selbstverständlich, dass jeder sie entdeckt und sieht. Die Kapelle braucht nicht den neutralen Besucher, sondern den Sucher, der Fragen des Lebens stellt. Gut, dass beides in dieser unübersichtlichen Welt noch seinen Ort hat. Für Glaube und Zweifel bleibt Raum in der kleinsten Kapelle.

Anmerkungen

[1]    Informativ zu Matisse an der Côte d’Azur: http://www.amb-cotedazur.com/matisse/. Vgl. zum Thema Malerei an der Côte d’Azur: Christian Loubet, Vence/Nice (1950-1966): Les sanctuaires d’un art moderne, Cahiers de la Méditerranée 62, 2001, 267-277, http://journals.openedition.org/cdlm/59.

[2]    Klaus und Erika Mann, Das Buch von der Riviera, München 2019 (1931).

[3]    Fondation Maeght, https://www.fondation-maeght.com/.

[5]    Rudolf Italiaander, Henri Matisse baut eine Kirche, Die Zeit 1.6.1950, https://www.zeit.de/1950/22/henri-matisse-baut-eine-kirche/komplettansicht.

[6]    Https://museematisse.fr/ sowie N.N., Art. Musée Matisse du Cateau-Cambrésis, o.O. o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Mus%C3%A9e_Matisse_du_Cateau-Cambr%C3%A9sis.

[7]    Http://www.chapellematisse.com. In der Kapelle darf bis heute nicht fotografiert werden. Deswegen ist es nicht möglich, in diesem Essay Fotos vom Innenraum einzufügen. In dieser Broschüren findet man jedoch eine Reihe von Fotos: http://chapellematisse.com/FR/evenements/dossierPresse.pdf sowie http://www.savoirs-alpesmaritimes.fr/content/view/pdf/2055. Vgl. auch N.N., Art. Chapelle du Rosaire de Vence, o.O. o.J., https://fr.wikipedia.org/wiki/Chapelle_du_Rosaire_de_Vence.

[9]    Das hat im Übrigen schon Wolfhart Pannenberg beklagt. Vgl. Wolfhart Pannenberg, Christliche Spiritualität, Göttingen 1986, 24: „Wenn es einer neuen Manifestation jenes Geistes der Befreiung und der Freude der Erlösung von einer entfremdeten Lebensweise bedarf – Züge, die Nietzsche so sarkastisch in den ihm begegnenden christlichen Haltungen vermisste, - dann ist ein Bruch mit der traditionellen Bußfrömmigkeit ebenso unvermeidlich wie die Suche nach neuen Formen christlicher Frömmigkeit und Lebensführung.“

[10]   Zu Dante Alighieri Wolfgang Vögele, Die Welt aus dem Jenseits betrachtet. Einige Bemerkungen über Dantes Commedia, Theologie und Kunst, tà katoptrizómena, H.95, 2015, http://www.theomag.de/95/wv18.htm.

[11]   Zur Einordnung des Kapellenprojekts in die Biographie Matisses vgl. Hilary Spurling, Matisse – Der Meister. Eine Biographie. Band 2 : 1909-1954, Köln 2007 (engl. 2005), 468-481. Vgl. besonders 475: „Die konservative Mehrheit der Katholiken hielt seine (Matisses wv) Ideen für monströs und blasphemisch.“ Zur Kapelle hat sich Matisse auch selbst geäußert: Henri Matisse, Chapelle du Rosaire der Dominikanerinnen von Vence, Vence 1996, ohne Paginierung. Zur unüberschaubaren Sekundärliteratur über Matisse vgl. die kommentierte Bibliographie Catherine C. Bock-Weiss, Henri Matisse. A Guide to Research, New York London 1996.

[14]   Henri Matisse, Brief an Br. Rayssiguier 24.10.1948, zit. n. Spurling, a.a.O., Anm. 11, 472.

[15]   Ebd. Neben Louis Bertrand Rayssiguier war ein zweiter dominikanischer Theologe an der Entstehung der Kapelle von Vence beteiligt: Marie-Alain Couturier. Dieser arbeitete selbst als Künstler und setzte sich in den fünfziger Jahren für eine Erneuerung des Verhältnisses von Kunst und katholischer Kirche ein. Vgl. dazu Francois Caussé, Art. Marie-Alain Couturier, Dictionnaire biographique des frères prêcheurs. Dominicains des provinces françaises, 15.9.2015, http://journals.openedition.org/dominicains/1867. Couturiers Tagebücher zeigen die intensive Auseinandersetzung des dominikanischen Theologen mit der Kunst von Matisse und anderen zeitgenössischen Malern (s.u. Anm. 23).

[16]   Matisse, a.a.O., Anm.11, ohne Paginierung.

[17]   Ebd.

[18]   S.u. Abschnitt 6.

[19]   Henri Matisse, zit.n. N.N., Espace muséal, a.a.O., Anm. 13, 6.

[21]   Die Website der Mannheimer Ausstellung findet sich unter https://www.kuma.art/de/inspiration-matisse; Katalog: Peter Kropmans, Ulrike Lorenz (Hg.), Inspiration Matisse, München u.a. 2019. Eine Ausstellungsrezension findet sich bei Stefan Trinks, Frauen, Muster, Pflanzen, FAZ 9.10.2019, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/frauen-muster-pflanzen-matisse-ausstellung-in-mannheim-16421548.html.

[22]   Auf Youtube ist ein Ausschnitt dieses Films unter https://www.youtube.com/watch?v=MiEIeitUNFs zu sehen.

[23]   Henri Matisse, Über Kunst, hg. von Jack D. Flam, Zürich 1982 (amerikan. 1973), 240. Vgl. zur Raumdeutung Matisses auch Marie-Alain Couturier, Das Religiöse und die Moderne Kunst. Gespräche eines Mönchs mit Braque, Matisse, Picasso u.a., Zürich 1981, 126: „Matisse, 8.September. – ‚Ich wollte auf begrenztem Raum einen geistigen Raum schaffen.‘ Sein Gedanke ist: ‚Einen unbegrenzten Raum.‘“

[24]   Matisse, a.a.O., 246 (Hervorhebung wv): „Das ist es, was ich in der Kapelle von Vence gemacht habe. Es ist eine Klosterkapelle, und doch habe ich, glaube ich, in ihr die Idee der Unendlichkeit verwirklicht, welche die Seele rührt und sogar die Sinne. Die Rolle der Malerei, glaube ich, die Rolle aller dekorativen Malerei ist es, die Oberflächen zu vergrößeren, so zu bearbeiten, daß man die Dimensionen der Mauer nicht mehr fühlt. (…) Ich konnte gleichzeitig Architektur, Buntglasfenster, große Mauerbilder in Keramik machen und diese Elemente vereinen, sie zu einer vollkommenen Einheit verschmelzen.“

[25]   Vgl. dazu Matisse, a.a.O., 227f.: „Diese keramischen Wandbilder bestehen aus großen, weiß emaillierten Rechtecken aus Terracotta und tragen mit dünnen schwarzen Strichen gemachte Zeichnungen, welche die Keramikfliesen dekorieren und trotzdem die Helligkeit nicht beeinträchtigen. Daraus entsteht ein in / Schwarzweiß gehaltenes Ganzes, in dem Weiß dominiert, und zwar in einer Dichte, die ein Gleichgewicht hergibt zur Oberfläche der gegenüberliegenden Mauer; diese ihrerseits besteht aus vom Boden bis zur Decke reichenden Buntglasfenstern, die durch benachbarte Formen die Vorstellung eines Blätterwerks immer gleichen Ursprungs erwecken, nämlich eines in der Gegend heimischen Baums: eines Kaktus mit stachelbewehrten Blättern, der gelb und rot blüht.“

[26]   A.a.O., 246f. Spurling, a.a.O., Anm. 11, 471, berichtet in ihrer Biographie, dass sich Picasso über die neu entdeckte Theologie bei Matisse lustig machte: „Picasso kam vorbei, um sich das Modell der Kapelle anzusehen, und fragte ihn, warum er nicht lieber eine Markthalle mache, da könne er Früchte und Gemüse malen. Matisse erzählte später mit Genuss von der Szene, die Picasso ihm gemacht habe, und war stolz darauf, gleich die passende Antwort gegeben zu haben: ‚Ich habe Grün, die grüner sind als Birnen, und Orange, die orangener sind als Kürbisse.‘ Die Familienlegende kolportiert eine weit deftigere Version dieses berühmten Wortwechsels: ‚Warum kein Bordell, Matisse?‘ ‚Weil mich niemand darum gebeten hat.‘“

[27]   Matisse, a.a.O., Anm. 23, 229: „Ich möchte diesem Text noch beifügen, daß ich das Schwarzweiß der Schwesterntrachten als ein Kompositionselement der Kapelle begriffen habe und daß ich für die Musik den rauschenden, zwar köstlichen, aber allzu lautstarken Tönen der Orgel die Süße der Frauenstimmen vorgezogen habe, die in gregorianischen Gesängen mit dem schillernden und farbigen Licht der Glasfenster verschmelzen können.“

[28]   Vgl. dazu Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor der Kunst, München 1990.

[29]   Vgl. dazu ders., Faces. Eine Geschichte des Gesichts, München 2013 und Wolfgang Vögele, Im Angesicht, tà katoptrizómena, H.100, 2016, http://theomag.de/100/wv24.htm.

[30]   Matisse, a.a.O., Anm. 23, 241: „Es besteht keine Kluft zwischen meinen früheren Bildern und meinen Schnittarbeiten. Ich habe lediglich durch größere Absolutheit und durch größere Abstraktion eine auf das Wesentliche reduzierte Form erreicht, und ich habe vom Gegenstand, den ich früher in der ganzen Komplexität seiner Umgebung darstellte, nur das Zeichen übrigbehalten, das genügt und das notwendig ist, um es in der ihm eigenen Form und für das Ganze, wofür ich es entworfen habe, existieren zu machen.“ Vgl. dazu auch Couturier, a.a.O., Anm. 22, 97, der eine Verbindung zur Sakramententheologie herstellt: „Bei Matisse strebt die Zeichnung sehr schnell zum reinen und einfachen Zeichen. Ähnlichkeit mit den Sakramenten. Die Stärke der Zeichnung, der Linie, wird zum Zeichen der Stärke des inneren Empfindens und bringt die Stärke desselben Empfindens beim Beschauer hervor. Aber nicht notwendig durch ‚Ähnlichkeit‘ mit einer äußeren Wirklichkeit.“

[31]   Couturier, a.a.O., Anm. 23, 197.

[32]   Matisse, a.a.O., Anm. 23, 254.

[33]   A.a.O., 247.

[34]   Couturier, a.a.O., Anm. 23, 178.

[35]   Simon Schama, How Matisse and Picasso turned old age into art, Financial Times 4.4.2014, https://www.ft.com/content/59192b0c-b994-11e3-b74f-00144feabdc0#slide0.

[36]   Andreas Mertin, Die Geste des weißen Raumes. White Cube – oder: Gibt es eine Szenografie des refomierten Glaubens?, tà katoptrizómena, H.83, 2013, https://www.theomag.de/83/am439.htm. Vgl. dazu das Themenheft „Religiöse Räume“, tà katoptrizómena, H.54, https://www.theomag.de/54/index.htm.

[37]   Vgl. dazu Wolfgang Vögele, Kritik der aufblasbaren Kirche. Über Klerikalismus, Banalität und Gleichheit, tà katoptrizómena, Heft 115, Oktober 2018, https://www.theomag.de/115/wv046.htm.

[38]   In Frankreich zeigt sich das bekanntlich am Zentralismus, der alles nach Paris beordert. Zu Paris vgl. die beiden Themenhefte der Zeitschrift tà katoptrizómena, Nr. 120 und 121, https://theomag.de/120/index.htm und https://theomag.de/121/index.htm.

Artikelnachweis: https://www.theomag.de/122/wv056.htm
© Wolfgang Vögele, 2019