Ethik und Ästhetik |
Ästhetische Verführung zum Guten?Eine RezensionAndreas Mertin Klappentext: Verführung zum GutenDie Autorin des hier vorzustellenden Buches ist Dorothea Erbele-Küster. Sie lehrt Altes Testament an der Universität Mainz. Im Magazin für Theologie und Ästhetik hat sie in der Ausgabe 49 über Kunst auf der documenta XII geschrieben und in Ausgabe 63 über Kunst im Jewish Museum in New York.[1] Von ihr stammen zahlreiche Bücher, von denen wenigstens drei erwähnt werden sollen:
Das vorzustellende Buch teilt sich in vier Kapitel: Es beginnt mit grundlegenden „Erkundungen zwischen Ethik und Ästhetik“, um sich dann drei Einzelstudien biblischer Texte zu widmen: Genesis 3,6, Genesis 1 und Psalm 1. Nun könnte man sagen, gerade die Texte der Urgeschichte und auch der Psalmen seien nun bereits ausreichend erschlossen, aber der Blick auf die Erträge des Buches zeigt, dass dem nicht so ist. Dass es etwa möglich ist, mit Hilfe rezeptionsästhetischer Perspektiven neue Einsichten in alte Texte zu gewinnen, den Texten etwas zu entlocken, was bisher nicht als intentio operis[2] oder intentio auctoris[3] erkannt worden ist, nun aber in einem neuen Verstehensgang mit Hilfe der intentio lectoris[4] einsichtig wird. Die grundlegende These, dass sich in den bearbeiteten Bibelstellen etwas zum Verhältnis von Ethik und Ästhetik erschließen lässt, ja dass die ästhetische Wahrnehmung selbst zum Guten verführen will, hängt von sehr vielen Voraussetzungen ab, bei denen einen Konsens zu erzielen, schwierig sein dürfte. Man muss sich zunächst fragen: Welches Verständnis von Ästhetik wird zugrunde gelegt, welchen Begriff des Guten wird man den Autoren der Texte mit guten Gründen unterstellen können und wie lässt sich das in eine produktives und das heißt auch zeitgenössisch rezipierbares Verhältnis bringen? Ist es die sinnliche Wahrnehmung allein, die uns schon zum Guten verführt, oder ist es die zu sich selbst in ein Reflexionsverhältnis tretende sinnliche Wahrnehmung, die das leistet? Ist in der ästhetischen Erfahrung ein ethischer Glutkern enthalten oder kann dieser sich erst entfalten, wenn die ästhetische Erfahrung ethisch fruchtbar gemacht wird? Kann ästhetische Erfahrung ein Ferment ethischer Urteilsbildung sein, um eine Überlegung von Thomas Erne variiert aufzugreifen?[5] Was unterscheidet die für den ethischen Urteilsprozess notwendige sorgfältige Wahrnehmung von einer sorgfältigen sinnlichen Wahrnehmung? Oder beschreibt beides das Gleiche, weil wir Texte und Reden ja nur mit den Sinnen aufnehmen können? Aber reicht das schon, um von der Verführung zum Guten durch ästhetische Wahrnehmung zu sprechen? Wer mit diesen Fragen an das kleine, 110 Seiten umfassende Buch von Dorothea Erbele-Küster herangeht, wird reich belohnt. In Zeiten, in denen wir uns allzu sehr daran gewöhnt haben, sofort nach der Botschaft, sofort nach dem Inhalt, sofort nach dem Sinn von Texten und Reden zu fragen, ist es gut, diesen Automatismus aufzubrechen, um auch der Form, der ästhetischen Gestalt, der ästhetischen Erfahrung Raum zu geben. Das leistet dieses Buch. Im Folgenden stelle ich das Buch und einige seiner Schritte kurz vor, trage einige fragende Annotationen ein und bündele am Ende noch einmal ein paar Aspekte, bei denen man m.E. die Arbeit am Text und die Diskussion über das Prozedere noch fortsetzen könnte. ErkundungenDie Erkundungen im ersten Kapitel (9-37) stecken das Feld ab, in dem sich die anschließenden Textbegehungen[6] bewegen. Es basiert auf der These, „dass der Lust am Text ein ethisches Moment inhärent ist, insofern es die Lesenden durch die Lektüre herausfordert“ (12). Das wird deutlich „im Text, im Rezeptionsprozess und in der Konzeption von Ethik als Lebenskunst“ (12). Akzentuiert: „Es geht um die Wahrnehmung der Sprachform des biblischen Textes, d.h. die ästhetische Erfahrung des Textes im Rezeptionsvorgang, die ein ethisches Potential hat. Zugleich wird die ästhetische Wahrnehmung, wie sie die Texte selbst thematisieren, untersucht.“ (13)
Im nächsten Schritt geht die Autorin zunächst der Frage nach, inwiefern „mit Blick auf die alttestamentlichen Texte überhaupt von einer Ethik gesprochen werden kann“ (19). Dann greift sie das Schmidsche Konzept der „Lebenskunst“[9] auf, um die „ästhetische Dimension der Ethik“ (23) zu betonen.
Erbele-Küster will aber nicht, wie Wilhelm Schmid, die Ethik in der Ästhetik gründen, sondern geht von einem „dialektischen Wechselverhältnis zwischen beiden aus“ (24). Was Wechselverhältnis(!) heißt, muss nun genau bestimmt werden. Präzisierend schreibt sie: „Ethik und Ästhetik müssen jeweils autonom gedacht werden, um dann in einem zweiten Schritt aufeinander bezogen werden zu können.“ (24) Bedeutet das, dass auch die Ethik Folgen für die ästhetische Erfahrung hat? Und wie konkretisiert sich die Beziehung der Ästhetik auf die Ethik?
Erbele-Küster wendet sich nun der Frage zu, was wir unter „Ästhetik“ verstehen können (24f.). Auch hier wird deutlich, wie stark der weitere Fortgang von dem in Anschlag gebrachten Ästhetik-Verständnis abhängt. Die Autorin skizziert zwei moderne Hauptstränge, die sich mit Wolfgang Welsch einerseits und Martin Seel andererseits verbinden. Während Wolfgang Welsch Ästhetik eher im Rückgriff auf Baumgarten als Aisthetik fundiert wird, beharrt Seel im Rückgriff auf Kant auf der Selbstreferentialität der Ästhetik.
Das Kapitel abschließend summiert Erbele-Küster den Gang durch die Ästhetik im Blick auf die zu untersuchenden Texte so: „Drei Charakteristika seien bereits genannt, die in den folgenden Kapiteln anhand der Analyse von biblischen Texten herausgearbeitet werden:
Im nächsten Schritt untersucht Erbele-Küster das Verhältnis von Rezeptionsästhetik und Ethik biblischer Texte (29-34). Damit ist der Rahmen abgesteckt, anhand derer nun drei zentrale Texte untersucht werden. Ich bilde im Folgenden die ausgewählten Texte ab, um im Anschluss ihre Bedeutung nach Erbele-Küster zu skizzieren. Es soll den Leserinnen und Lesern selbst überlassen bleiben, in der Lektüre des Buches von Erbele-Küster der Detailargumentation zu folgen. Das UntersuchungsmaterialIch folge bei der Zusammenfassung der Bedeutung der drei Texte den Wegmarkierungen, die die Autorin im gleichnamigen Abschnitt setzt: Zentrale Erkenntnis des ersten Textes ist, dass „die Erkenntnis von Gut und Böse im Kontext einer Fülle von Sinneswahrnehmungen geschildert wird“ (34) Dem werde bisher zu wenig Beachtung geschenkt, weshalb die Bedeutung der Sinneswahrnehmung für menschliches Handeln und Entscheiden unzureichend gewürdigt wird. „Kanonisch gesehen wird in diesem Text zum ersten Mal anhand einer Ursprungsnarration die Lust und Last des menschlichen Reflektierens und Handelns entfaltet. Die Narrativität ist entsprechend konstitutiv für die Vermittlung der Anthropologie und Ethik.“(34) Der zweite Text Genesis 1 wird von der Frage nach der Kategorie des Guten dominiert: „Die Grundlage des menschlichen Handelns bildet … die Wahrnehmung der Welt durch Gott als perfekt und die Strukturierung der Zeit.“ (35) Der dritte Text Psalm 1 ist exemplarisches Beispiel dafür, was in biblischer Perspektive ein glücklicher und gelungener Lebensweg ist. „Psalm 1 steht exemplarisch für eine ethisch-ästhetische Lebenskunst. In der Reflexion auf das gute und glückliche Leben im Psalter wird deutlich, dass der Weg des guten Lebens eine ästhetische Dimension hat, die sich mit Begriffen wie Glück, Lebensfreude und Gottesjubel zum Ausdruck bringen lässt.“ (36) In der Summe schlussfolgert Erbele-Küster daraus, dass „die ästhetisch-literarische Form des Textes von Relevanz für die ethische Erfahrung ist“. Gezeigt werden könne gerade mit den drei untersuchten Texten, „wie die ästhetische Erfahrung zur Lebenskunst verführt“ (36f.). Kursorische Notizen für weiterführende DiskussionenEthik und Ästhetik „Ästhetische Wahrnehmung verführt zum Guten bzw. zur Erkenntnis des Guten“ Diese These, die das Buch eröffnet, beschäftigt die Kunstphilosophie, die Literaturwissenschaft und die Theologie seit Jahrzehnten (eigentlich seit Jahrhunderten). Sie war Gegenstand vieler Reflexionen der berühmten Arbeitsgruppe Poetik und Hermeneutik (insbes. im Band IX Text und Applikation)[16], aber auch des Arbeitskreises Theologie und Ästhetik.[17] Letztlich ist sie Grundlage aller Kunstphilosophien, die auf dem Fundament einer Metaphysik stehen.[18] Der Rezensent will an dieser Stelle nicht verschweigen, dass er dieser These nicht zu folgen vermag. Er bestreitet nicht, das Schönes zum Guten und Wahren führen kann, aber mit Theodor W. Adorno gesprochen:
Das heißt, gerade eine intendierte positive ethische Einordnung unterminiert das Wesentliche der ästhetischen Erfahrung. Das Verhältnis von Ethik und Ästhetik muss meines Erachtens weiterhin als kritisches erörtert werden.[20] Es mag eine mögliche Folge von ästhetischer Erfahrung sein, dass wir anschließend zu besseren Menschen werden. Wahrscheinlich ist das m.E. nicht. Denn das andere ist doch die Beobachtung, dass der Umgang mit dem Schönen die Menschen eben nicht zu besseren Menschen macht. Legendäres Beispiel ist der manieristische Bildhauer Benvenuto Cellini (1500-1571), Schöpfer des Perseus in Florenz, wahrhaft ein unübertroffener Meister des Schönen, der zugleich ein Schläger, Sexualstraftäter und dreifacher Mörder war.[21] Ein anderes Beispiel wäre vermutlich auch Caravaggio. Aber man könnte auch aus dem 20. Jahrhundert viele Beispiele nennen. Wenn die Wahrnehmung des Schönen seine Verehrer nicht daran hindert, in nationalistisches Pathos zu verfallen und Kriegsaufrufe zu unterschreiben (z.B. das Manifest der 93),[22] dann ist Kultur zu einer ethisch fragwürdigen Größe geworden. Kultur für sich ist noch kein positiver ethischer Wert, Kultur hindert an keiner Barbarei. Spätestens die erschreckende Erfahrung, dass Goethe- und Schillerverehrer auch Konzentrationslager bauen, beschädigt alle Modelle, die der ästhetischen Wahrnehmung Gutes zuschreiben.[23] Das wusste Karl Kraus schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts:
Dass sie nicht aus der Sache heraus zum Guten (ver-)führt, spricht aber nicht gegen die ästhetische Erfahrung und deren Reflexion in der philosophischen Ästhetik, es gibt eben nur keine funktionale Logik von der Ästhetik zur Ethik. Aisthetik und Ästhetik Produktiv finde ich die von Dorothea Erbele-Küster diskutierte Möglichkeit, genauer zwischen Aisthesis (als sinnlicher Wahrnehmungslehre) und Ästhetik (als sinnlich-reflexives Kunsturteil) zu unterscheiden, auch wenn sie sich im Folgenden eher der Lösung von Wolfgang Welsch im Sinne eines in Richtung Aisthesis erweiterten Ästhetik-Begriffs anschließt (S. 26). Leider hat sich die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeführte, überaus erhellende und produktive Differenzierung zwischen Aisthetik (sinnliche Wahrnehmung) und Ästhetik (sinnlich-reflexive Wahrnehmung) nicht durchgesetzt.[25] Sie wäre aber meines Erachtens gerade bei den von Erbele-Küster in den Blick genommenen biblischen Texten produktiv gewesen.
Ich kann nachvollziehen, warum in der Folge der Lebenskunst-Debatte die Orientierung an der Aisthetik plausibler und vor allem allgemeiner und alltagsweltlicher erscheint als an der eher als elitär erscheinenden Ästhetik, aber halte à la longue die philosophische Ästhetik für die grundlegendere und weiterführende Begrifflichkeit. Nebenbei bemerkt: Den hier gemeinten Sachverhalt finde ich, wie ich an anderer Stelle in diesem Magazin ausgeführt habe, nicht zuletzt kirchenpolitisch relevant, erlaubt er es doch, die aisthetische Kehre der evangelischen Kirche (im Sinne einer neuen Oberflächenstruktur und einer Fokussierung auf die Spiritualität) mehr oder weniger präzise von einer wirklichen ästhetischen Reform des Protestantismus (im Sinne einer sinnlich-reflexiven Durchdringung von Form und Inhalt) zu unterscheiden.[27] Intermezzo: Die verschiedenen Regime der Identifikation der KünsteIch möchte an dieser Stelle noch einmal an jene Differenzierungen erinnern, die der Philosoph Jacques Rancière im Blick auf verschiedene Regime der Künste vorgenommen hat. Ich wiederhole daher noch einmal einiges von dem, was ich bereits 2012 in Heft 75 ausführlicher beschrieben habe.[28] Innerhalb des historischen Rahmens, so sagt Rancière,
Dieses Regime hat noch nichts mit dem zu tun, was wir heute „Kunst“ nennen, aber er hat Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Denn sowohl das ethische Regime wie das „Regime der Repräsentation“ sehen viele Menschen als die entscheidenden Regime der Kunstqualifizierung an. Kunst ist das, was bestimmten Regeln folgt, was Sachverhalte abbildet usw. und dementsprechend nach dem korrekten Regelgebrauch bzw. dem angemessenen Abbildungsverhältnis (z.B. im Blick auf das Soziale) beurteilt werden kann. Aus diesem Grunde können Theologen schreiben, die Kunst der Predigt oder die Kunst des Gottesdienstes sei schlecht entwickelt. Das aber macht nur Sinn, wenn Kunst einem Regelset folgt (den man lernen und damit auch vermitteln kann) oder nach Kriterien der Repräsentation beurteilt werden kann (die dann kritisch zur Kunstbewertung herangezogen werden können). Das ist aber deutlich ein vormodernes, eher am Handwerk bzw. der technē orientiertes Verständnis von Kunst, das im kreativen Können das Ziel der Tätigkeit sieht. Mit dem sich in der Aufklärung und dann vor allem in der Moderne entwickelnden Verständnis von Kunst hat das aber wenig zu tun. Deshalb setzt Rancière vom ethischen bzw. poetischen Regime nun ab, was er das „ästhetische Regime“ nennt:
Die Vergleichgültigung der (religiösen) Kunstwerke im Museum, die bis in die Gegenwart so viele Betrachter (und nicht zuletzt viele Theologen) schmerzt, ist zugleich eines der wesentlichen und vor allem konstitutiven Elemente eines zeitgenössischen Verständnisses von Kunst als Gegenstand ästhetischer Erfahrung. Nicht das künstlerische Können im Sinne der Befolgung eines Regelsets, nicht die Bedeutung des Sujets generiert die Bedeutung des Werks und auch nicht die angemessene Repräsentation eines außerästhetischen Themas. Mit dem ästhetischen Regime verfügen wir über einen Terminus, der bezeichnet, wie wir heute Kunst als Kunst identifizieren. Erst unter diesem Aspekt nehmen wir das betrachtete Objekt als autonomen, für sich selbst stehenden ästhetischen Gegenstand wahr. Das ist die Schlussfolgerung aus den Ausführung Friedrich Schillers in den Briefen zur ästhetischen Erziehung, die er am Beispiel der Göttin Juno exemplifiziert.[31] Man kann diese Differenzierung durch Rancière nun heuristisch auf die Interpretation biblischer Texte anwenden und schauen, wie produktiv das ist. Was passiert, wenn wir biblische Texte mit ethischen Fragestellungen, mimetischen Fragestellungen oder ästhetischen Fragestellungen (Regimes) betrachten? Ein ethisches Regime biblischer Texte wird man dort erkennen können, wo diese vorrangig nicht als autonome literarische Texte bzw. Kunstwerke verstanden werden, sondern dazu dienen, bestimmte religiöse und/oder ethische Maximen in eine anspruchsvolle Gestalt und sei es die Lebenskunst - umzusetzen. Der biblische Begriff des Guten, grundsätzlich eher funktionalistisch angelegt, deutet in diese Richtung. Unter diesem Regime wird auch das Ästhetische der biblischen Texte als ethische Vorleistung interpretiert werden. Gegenüber dem Eigentlichen dem Guten bleibt das Ästhetische aber sekundär. Es ist ein Mittel zu diesem zu verführen. Ein poetisches Regime biblischer Texte wird man dort erkennen können, wo biblische Texte nach formalen Kriterien der Literaturwissenschaften klassifiziert werden, also ein Regelset zur Geltung kommt. Ein ästhetisches Regime biblischer Texte liegt da vor, wo das Ästhetische des untersuchten Textes selbst, sein Fürsichsein, im Zentrum steht. Genau darin kann man nun, wie Schelling, wie Schopenhauer, wie Adorno, wie Ranciere es getan haben, ein ethisches Moment entdecken. „Kunst offenbart uns die Welt nicht, wie sie ist - das wäre Aufgabe der Erkenntnis, und ebenso wenig, wie sie sein soll - das wäre praktische Verwirklichung des Intelligiblen. Kunst zeigt Welt, wie sie wäre, wenn sie in sich und d.h. ohne unser Zutun sinnvoll strukturiert wäre“.[32] Dies widerspricht aber der Formel des „Verführung zum Guten“. Untersuchungsebenen Herausfordernd wird das Arbeitsfeld meines Erachtens auch dadurch, weil das Ästhetische sich auf mindestens drei elementaren Ebenen ereignen kann: Denn zum einen kann ein biblischer Text von Ästhetischem (Kunst, Gestaltung, Schönem) handeln, ohne dabei sich selbst den Kriterien einer ästhetischen Gestaltung zu unterwerfen. Zum zweiten kann ein biblischer Text selbst literarisch ästhetisch aufgebaut sein, ohne dabei zwingend selbst Ästhetisches zum Gegenstand zu haben; auch die Kreuzigung könnte so ästhetisch dargestellt werden. Und drittens kann jener Text, in dem der biblische Text untersucht wird, selbst noch einmal ästhetisch gestaltet sein, ohne dass der untersuchte Text ästhetisch gestaltet sein oder Ästhetisches zum Inhalt haben muss. In diesem Sinne kann man etwa die textliche Gestaltung des Buches „Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals“ von Jürgen Ebach in der Form der ästhetischen Verknüpfung als Kon-Figuration als Beispiel nehmen.[33] Hier geht es auch um eine ästhetische Konstellation eines als ästhetisch aufgefassten Untersuchungsgegenstandes. Man könnte auch den Talmud als ein grundlegend ästhetisch angelegtes Textkonvolut bezeichnen. Die Wende vom Bleisatz-Buchdruck zum Computersatz, die eigentlich derartige Kon-Figurationen wieder ermöglicht hätte, hat von wenigen Ausnahmen abgesehen leider keine entsprechenden Ergebnisse gebracht. In diesem Sinne wäre also zu fragen, was uns nun „zum Guten verführt“? Ist es der Inhalt des Textes, der uns z.B. beschreibt, wie Eva aus als sinnlich-reflexiv zu beschreibenden Gründen zur Frucht greift?[34] Oder ist es die ästhetische Gestaltung des Bibeltextes der Genesis, der die Leserinnen und Leser einlädt, sich auf die Erzählung vom Garten Eden einzulassen und ihm so selbst eine ästhetische Erfahrung vermittelt? Oder ist es die spezifisch theo-ästhetische Konstellation, die die Theologin / Exegetin des 21. Jahrhunderts vornimmt, um den biblischen Text mit seiner Erzählung zu einer vielleicht durchaus neuartigen Erkenntnis zu bringen? Denn klar ist ja zumindest, dass die biblischen Erzähler mit den neuzeitlichen Ästhetik-Konzeptionen zumindest in der Tradition Kants (Zweckmäßigkeit ohne allen Zweck) nichts hätten anfangen können. Jedes Mal konfiguriert sich die unterstellte ästhetische Verführung zum Guten anders. Verführung zum Guten? Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet mag noch einmal dazu verhelfen, dem Problem etwas genauer auf die Spur zu kommen. Im Artikel „Gut / Gutes (AT)“ fasst Jörn Kiefer den allgemeinen Erkenntnisstand zunächst so zusammen:
Ich vermute, es ist von allen vier Punkten vor allem der dritte Punkt, der in einer gewissen Perspektive sich scheinbar zwanglos mit der ästhetischen Erfahrung verbinden lässt. Das Gute verführt. Darin besteht ein Konsens. Strittig ist, ob das Ästhetische dazu als Mittel gedacht werden kann. Denn die Anziehungskraft des Guten ist biblisch als eine durch und durch funktionale Anziehungskraft gedacht.
Und dort, wo in der Bibel das Schöne in den Blick kommt, ist es eben auch funktional gedacht: es ist kein freies Schönsein für sich in einem modernen Sinn, sondern „ein Schönsein für …“ (Claus Westermann). In diesem funktionalistischen Sinn kann daher das Gute und das Schöne biblisch (AT und NT) zusammengedacht werden. Das ist seit der Aufklärung, seit Kant und seinen Nachfolgern so nicht mehr denkbar. Sie entkoppeln radikal die ästhetische Erfahrung von der Funktionalität, das ästhetische Urteil vom ethischen Urteil, vom Erkenntnisurteil und auch vom Angenehmen. Ihre eigentliche Bedeutung, ihre Widerständigkeit bekommt sie in ihrer Funktionslosigkeit, die ihre Freiheit begründet.
Das ist der Kern der modernen Ästhetik nach Kant. Darin kann man nun, ohne es zu funktionalisieren, selbst ein ethisches Moment sehen. Aber das wäre eine Gratwanderung.
Gerade weil die Kunst, weil das ästhetische Objekt eben nicht zum Guten verführt, sondern frei für sich steht, könnte man in ihr ein ethisches Moment im Sinne einer Utopie sehen. Nur:
Anmerkungen[1] Erbele-Küster, Dorothea (2007): „Alle Menschen werden Schwestern“. Vom Umgang mit „männlichen Söhnen“. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 9, H. 49. www.theomag.de/49/dek1.htm. Erbele-Küster, Dorothea (2010): Reinventing Ritual. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 12, H. 63. www.theomag.de/63/dek2.htm. [5] Erne, Thomas (1998): Vom Fundament zum Ferment. Religiöse Erfahrung mit ästhetischer Erfahrung. In: Jörg Herrmann, Andreas Mertin und Eveline Valtink (Hg.): Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute. München: Fink, Wilhelm, S. 283295. Erne, Thomas (1994): Lebenskunst. Aneignung ästhetischer Erfahrung. Ein theologischer Beitrag zur Ästhetik im Anschluss an Kierkegaard. Kampen: Kok Pharos (Studies in philosophical theology, 11). [6] Gehring, Hans-Ulrich (1997): Textbegängnis als Kategorie biblischer Textrezeption. In: Barbara Heller (Hg.): Kulturtheologie heute? [Dokumentation einer Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft "Theologie und Ästhetik" 6. - 9. Juni 1996]. Hofgeismar: Evang. Akad (Hofgeismarer Protokolle, 311), S. 4953. [7] Wolfgang Harnisch, Die Gleichniserzählungen Jesu. Göttingen 1985, S. 12. [8] Erlemann, Kurt (2017): Fenster zum Himmel. Gleichnisse im Neuen Testament. 1. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. S. 13. [9] Schmid, Wilhelm (1999): Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. 5., korr. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1385). [10] So Luther, Henning (1999): Subjektwerdung zwischen Schwere und Leichtigkeit - (auch) eine ästhetische Aufgabe? In: Dietrich Neuhaus und Andreas Mertin (Hg.): Wie in einem Spiegel. Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik: Haag + Herchen GmbH, S. 3353. [11] Vgl. Verf. (1988): Der allgemeine und der besondere Ikonoklasmus. Bilderstreit als Paradigma christlicher Kunsterfahrung. In: Andreas Mertin und Horst Schwebel (Hg.): Kirche und moderne Kunst. Eine aktuelle Dokumentation. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag, S. 146168. Dort vor allem die Abschnitte „Ikonoklasmus ist jede Form der Auseinandersetzung mit moderner Kunst, die das freie Spiel der Sinnes- und Verstandeskräfte gegenüber dem ästhetischen Objekt zugunsten einer begrifflichen Fixierung vernachlässigt oder still stellt“ sowie „Als ‘legitimer’ Ikonoklasmus lässt sich das Spannungsverhältnis zwischen Theologie und Kunst bezeichnen, in dem die theologische Hermeneutik ästhetische Erfahrung momentan still stellt, um aus ihr Erkenntnisse für die Theologie zu gewinnen.“ [12] Menke, Christoph (1993): Umrisse einer Ästhetik der Negativität. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 951), S. 191216. [13] Menke, Christoph (1991): Die Souveränität der Kunst. Ästhetische Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt am Main: Suhrkamp. [14] Lehnerer, Thomas (1994): Methode der Kunst. Würzburg: Königshausen & Neumann. [15] Rancière, Jacques (2008): Das Unbehagen in der Ästhetik. Unter Mitarbeit von Peter Engelmann und Richard Steurer. 2., überarb. Wien: Passagen Verl (Passagen Forum). Rancière, Jacques (2008): Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve-Verl (Internationaler Merve-Diskurs, 310). [16] Vgl. Jauß, Hans Robert (1981): Die Mythe vom Sündenfall (Gen 3) - Interpretation im Lichte der literarischen Hermeneutik. In: Manfred Fuhrmann, Hans Robert Jauß und Wolfhart Pannenberg (Hg.): Text und Applikation. Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch: Fink, Wilhelm (Poetik und Hermeneutik, IX, 1978), S. 2535. [17] Dietrich Neuhaus und Andreas Mertin (Hg.): Wie in einem Spiegel. Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik: Haag + Herchen GmbH, S. 3353. [18] Scheer, Brigitte (1997): Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 72. [19] Adorno, Theodor W. (2004): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften in 20 Bänden, Bd. 4: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft). [20] Vgl., Verf. (1994): Die ästhetische Kritik der Ethik in Theodor W. Adornos "Minima Moralia". Marburg/Lahn. Online verfügbar unter http://www.amertin.de/aufsatz/1994/magister0.htm. [21] https://de.wikipedia.org/wiki/Benvenuto_Cellini. Vgl. Auch Cellini, Benvenuto; Laager, Jacques (2000): Mein Leben. Die Autobiographie eines Künstlers aus der Renaissance. Zürich: Manesse-Verl (Manesse-Bibliothek der Weltliteratur). [23] Die Idee einer konstitutiven Beziehung von Ästhetik und Ethik wäre am Phänomen der „Häftlingsorchester“ noch einmal genauer zu untersuchen. https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4ftlingsorchester [24] Kraus, Karl (1917): In eigener Regie, Fackel Nr. 472-473, S. 14 [25] Paetzold, Heinz (1999): Ästhetische Erfahrung als Einheit von Sinnlichkeit und Reflexion. In: Dietrich Neuhaus und Andreas Mertin (Hg.): Wie in einem Spiegel. Begegnungen von Kunst, Religion, Theologie und Ästhetik: Haag + Herchen GmbH, S. 87112. [26] Paetzold, Heinz (1990): Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptionellen Kunst der Gegenwart. Stuttgart: Steiner. S. 17. [27] Vgl. Verf. (2010): Ästhetischer müssten die Evangelischen sein! Notizen zur kulturellen Geisteslage des Protestantismus. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 12, H. 63. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/63/am300.htm. [28] Verf. (2012): Die Politik der Ästhetik. Ein Versuch, von Jacques Rancière zu lernen. In: tà katoptrizómena - Magazin für Kunst | Kultur | Theologie | Ästhetik, Jg. 14, H. 75. Online verfügbar unter http://www.theomag.de/75/am379.htm. [29] Rancière, Jacques (2008): Ist Kunst widerständig? Berlin: Merve-Verlag (Internationaler Merve-Diskurs, 310), S. 37-90, hier S. 39f. [30] Rancière, Jacques (2008): Ist Kunst widerständig?, a.a.O., S. 40f. [31] Schiller, Friedrich (1981): Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. [Nachdr.]. Stuttgart: Reclam. https://www.theomag.de/75/frs1.htm [32] Bubner, Rüdiger (1989): Mutmaßliche Umstellungen im Verhältnis von Kunst und Leben. In: Rüdiger Bubner: Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1564), S. 121142, hier S. 127. [33] Ebach, Jürgen (1987): Kassandra und Jona. Gegen die Macht des Schicksals. Frankfurt am Main: Athenäum Verlag. [34] Vgl. Verf. (1985): Asche im Herzen - feuchtes Gehirn? Eine kleine Apologie der biblischen Eva. In: Horst Schwebel (Hg.): Die andere Eva. Wandlungen eines biblischen Frauenbildes. Menden: Trapez-Verl. Online verfügbar unter http://www.amertin.de/aufsatz/1985/eva.htm. [36] Scheer, Brigitte (1997): Einführung in die philosophische Ästhetik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. [37] Adorno, Theodor W. (2014): Ästhetische Theorie. 5. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 1707). S. 337. [38] Ebd. 55.
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Artikelnachweis: https://www.theomag.de/123/am685.htm |